Willkommen in der flüchtig digitalen Reinkarnation des Motherboard. Wo der Mainstream der Zukunft die Experimente der Vergangenheit metabolisiert. Wo sich „weder noch“ und „sowohl als auch“ gute Nacht sagen. Wo Ziel- und Zwanglosigkeit eine Tugend sind, aber auch nicht übermäßig forciert oder radikalisiert werden müssen um auf organische Weise jede Absicht zu umgehen und doch zu nachdrücklich wirken. Die verschiedenen Spielarten von Electronica, die fast schon sprichwörtlich belanglose Nettigkeit des Genres profitiert ungemein von Zwanglosigkeit und macht gerade durch das Paradox weniger spezifisch, eindeutig und zielgerichtet zu sein die Klänge weniger belanglos, weniger egal.

Die Aufhebung der Konsequenzen von nicht-mehr-Song-sein, aber noch-nicht-funktionaler-Track-werden-wollen durchwirkt ist eine der charakteristischen Qualitäten der Stücke des gegen alle widrigen Umstände unermüdlich um die Welt reisenden und produzierenden japanischen Ehepaars Tenniscoats. Die Disc 2 von Saya und Ueno Takashis endlich auch transnational veröffentlichten, noch unabgeschlossenen Großwerks Music Exists (Afterhours/Alien Transistor) kultiviert ein zutiefst behagliches psychedelisches Perlen, das ihren halbelektrischen Lo-Fi Folkpop so wunderbar flüchtig macht, immun gegen den klebrigen Gedächtnisterror merkbarer Melodik. So schreiben sie ganz einfach, ganz leicht, die zartschönsten, anmutigsten gerade-noch Songs der Welt. In Japan erschien vor kurzem die mit den Improv-Cracks vom Fire! Orchestra in Schweden aufgenommene, nicht weniger grandiose Disc 3 (Majikick) der Reihe. Bei ihrem Deutschlandaufenthalt im Dezember 2016 haben sie zusammen mit The Notwist noch schnell den vierten Teil der Reihe aufgenommen. Motherboard wird berichten.


Video: Tenniscoatsゆきゆ (Yukiyu)

Freies wie skizzenhaft angedeutetes Songwriting, das mehr Freude an Löchern, losen Enden und beinahe zufällig scheinenden Überraschungsmomenten hat als an Strukturen oder Melodien die auffallend häufig bei japanischen Musikerinnen und Musikern anzutreffen ist, etwa bei den Hauskünstlern des Schole Labels (Akira Kosemura, Haruka Nakamura, Paniyolo), von Someone Good (Lullatone, FilFla, Ytamo, Midori Hirano), Happy (Piana, Gutevolk), oder den losen Musikerkollektiven Maher Shalal Hash Baz, Puka Puka Brians, Urichipangoon und ihren zahllosen Nebenprojekten – und eben besonders prominent bei den oben erwähnten Tenniscoats. Was natürlich nicht heißt, dass es diesen Hang zum hinter-dem-plingplong-verschwinden nicht auch in allen anderen Ecken der Welt gäbe. Beim Londoner Instrumentalduo Jam Money etwa. Matthew Fowler, der zu den ersten und einzigen beiden Tenniscoats-Konzerten in Deutschland ätherisch gestrichene Gitarrensounds beisteuerte, und Kevin Cormack, der ansonsten bei den minimalistischen Indie-Folkrockern Half Cousin sämtliche unrockig konnotierten Instrumente, von der Klarinette über Posaune bis zum Modularsynthesizer bedient, schaffen es auf dem knapp dreißigminütigem Album A Gathering Kind (Alien Transistor) achtzehn Stücke unterzubringen, die jeweils einen ganzen Zoo von akustischen und elektronischen Instrumenten versammeln. Ein Füllhorn an freundlichen Klangfarben, die jeweils nur kurz aufscheinen um einen pastellig bunten Eindruck zu hinterlassen, um dann aber ebenso schnell wieder der nächsten Impression zu weichen. Flüchtiger und verspielter geht es kaum.


Stream: Jam MoneyA Gathering Kind

Die Klangwelt der in Berlin lebenden Melanie Velarde ist ebenfalls pastellig bunt allerdings auf ausgewaschene, sonnenverblasste Weise. Velarde veröffentlich schon seit einigen Jahren als T E M P O R A R Y A R C H I V E S limitierte Tapes die fast ausschließlich auf Field Recordings aufbauen (sie nennt das selber „Field Pop“) und eine starke Faszination für offene, leere und wilde Landschaften, Wüsten, Klippen und Strände widerspiegelt. Parcel (Commend/RVNG Intl), ihr Debüt unter dem eigenen Namen, liebt das Licht und die Zwischenräume nicht weniger, findet musikalisch aber andere Wege. Weniger Feldaufnahmen als perlende Modularsynthesizersounds und rhythmisierte Loops mit einem gewissen Easy Listening-Aroma. Damit schafft sie den erstaunlichen Stunt einerseits tief psychedelisch und weltabgewandt, gleichzeitig aber auch ziemlich poppig zu klingen, irgendwo zwischen klassischer Electronica und balearischem Downbeat/Headz-Stoff.


Video: Melanie VelardeParcel

Die fünfköpfige isländische Band Amiina hat sich in den zwölf Jahren ihres Bestehens mehrmals personell erneuert und musikalisch transformiert, vom rein weiblich besetzten neoklassischen Streichquartett über eine von Glockenspiel und Xylophon befeuerte Klöppelphase in eine instrumentale Rockband mit Schlagzeuger und Synthesizer. Eine Konstante in ihren Arbeiten ist allerdings die konsequente Vermeidung jeder Eindeutigkeiten ob ihre Stücke nun rhythmisierte Tracks, folkige Songs, neoklassische Etüden, oder verspielte Soundexperimente sind. Ihr erst drittes Album Fantômas (Mengi) sagt: ja, all das und mehr. Der Soundtrack zum gleichnamigen Stummfilm von 1913 ist elektronisch erweiterter Post-Rock im besten Sinne. Trotz des düsteren Themas – es geht um die Figur des sinistren Serienkillers Fantômas, der in Frankreich schon so einige frühmoderne Künstler, von Expressionisten bis zu Surrealisten inspiriert hat – ist Amiinas Begleitung eher melancholisch und pastoral als dunkel und gewalttätig.


Stream: AmiinaTelegram

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