Der einzige Industriestaat
Gqom konnte vermutlich nur hier entstehen, in Südafrika, dem einzigen zumindest teilweise industrialisierten Staat Afrikas. Das Land ist so urbanisiert und auch so europäisiert wie kein anderes südlich der Sahara. Vielleicht auch deshalb verträgt sich Clubmusik von hier oft besser mit dem Geschmack in Europa und den USA als die Produktionen aus anderen Ländern. So ist Nigeria, das mit Südafrika um den Titel des afrikanischen Popmusik-Champions konkurriert, auf dem Kontinent sehr viel erfolgreicher. Aus Südafrika kommt dagegen auch Musik, die für europäische Ohren avantgardistisch klingt, etwa von Leuten wie Die Antwoord, Felix Laband, Culoe de Song, Spoek Mathambo oder Okmalumkoolkat mit seinen Hyperdub-Releases.
Ebenfalls im globalen Norden gefeiert wurde lange der südafrikanische House-HipHop-Hybrid Kwaito, bei dem Rapper Reime in lokalen Sprachen über synkopierte Beats legen. Die Musik galt als Soundtrack zum Zusammenbruch des rassistischen Apartheidregimes Mitte der Neunziger. Doch der gut gelaunte Kwaito und seine (US-inspirierten) Träume von sozialem Aufstieg, dicken Autos und Champagner wirken im heutigen Südafrika mit seinen Dauerkrisen immer weniger zeitgemäß. So ist denn diese Musik inzwischen vor allem etwas für Ältere, was bei der sehr jungen Landesbevölkerung heißt: Ü-30. „Und bei Kwaito hat immer noch jemand gesungen oder gerappt“, sagt Andile-T von den Rudeboyz. „Aber irgendwann konzentrierten sich die Produzenten mehr auf die Beats. Sie wollten es weiter runterstrippen.“ Die immer instrumentaleren Clubmusiken, die vor vielleicht acht, zehn Jahren an verschiedenen Orten des Landes entstanden, waren revolutionär für Afrika, wo vorher selbst jedes Housestück mindestens ein menschliches Element enthalten musste. Techno gab es schon gar nicht. Aber beispielsweise in der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria programmierten Produzenten wie DJ Spoko, Aero Manyelo oder DJ Mujava damals einen immer spärlicher besungenen Housestil, der den absurden Namen „Bacardi House“ verliehen bekam, weil die örtlichen Kleingangster dieses Getränk und diese Musik so gern kombinierten. Die Stücke, allen voran Mujavas 2008 auch bei Warp erschienener Hit „Township Funk“, hatten oft schon den stehenden String-Ton, der heute Gqom prägt.
Den Ball nahmen Durbaner Produzenten wie DJ Lag, DJ Lusiman oder Sbucardo da DJ, die heute als Gründerväter von Gqom gehandelt werden, wieder auf. Die genaue Genese des Genres ist umwölkt von Mythen und Gerüchten und damit unklar. Manche sagen, Gqom sei entstanden aus einem ähnlichen Genre mit dem noch schöneren Zulu-Namen „Sgxumseni“, wobei das „x“ für einen anderen Klicklaut steht als das „q“ bei Gqom. Das Wort ist für Europäer vollkommen unaussprechlich. Erste Vorläufer gibt es jedenfalls seit Längerem. Mit seiner freien Beatprogrammierung und seiner Lossagung von Kwaitosund anderen Musiken des Landes stellt Gqom einen radikalen Bruch mit den Vorvätern dar. Es ist reine, idiosynkratische Beatwissenschaft, wenn auch durchaus ähnlich gebremst im Tempo und typisch schunkelig wie traditionelle Zulu-Popmusik-Genres, etwa Mbaqanga oder Kwela. Diesen alten Krams finden die meist jungen und fast ausschließlich männlichen Gqom-Produzenten aber eher langweilig, oder sie kennen ihn erst gar nicht. Im Gegenzug halten ihre Eltern dafür die Musik der Jungs für reinen Krach. Alles perfekt also für eine weitere Soundrevolution. Es ist „Musik für Zulus im Digitalzeitalter“, wie es der Urvater DJ Lag mal genannt hat. Aber diese Musik greift inzwischen auch auf andere der zahlreichen Volksgruppen des Landes über, etwa Xhosas oder weiße Südafrikaner.
So neu wie damals Jungle
Und nicht nur das. Rund drei, vier Jahre nach seinen Anfängen an der Südspitze des afrikanischen Kontinents ist Gqom jetzt auch in Europa angekommen. Vor allem in Großbritannien schlägt der Sound ein. Kein Wunder, schließlich kann man ihn durchaus als so aufregend und neu empfinden wie zu ihren Zeiten Jungle und zehn Jahre später Dubstep. Kode9 und andere Vorreiter bauen Gqom-Tracks schon seit einer Weile in ihre Sets ein. Anlass für die aktuelle Aufregung ist jedoch vor allem die erste auf physischem Tonträger erhältliche Gqom-Compilation, die Doppel-LP Gqom Oh! The Sound Of Durban mit unter anderem den schon erwähnten Citizen Boy und Julz Da Deejay sowie mit Gruppen wie TLC Fam oder den Formation Boyz. Zusammengestellt hat sie der in London lebende Italiener Francesco Cucchi. Der drahtige Sportswear-Träger sammelt schon lange Jahre Musiken aus afrikanischen Ländern und hat bislang mit seinem Digitallabel Soupu Musik aus Westafrika veröffentlicht. Er war mal mit einer Frau verheiratet, die aus dem westafrikanischen Liberia stammt. Bei einem Besuch bei ihrer Familie dort haben sie ihm in der lokalen Sprache Kpelle den Namen gegeben, den er heute als DJ-Namen nutzt: Nan Kolè, was „weiser Mann“ bedeutet.
„Dieser Sound war überhaupt nie dafür gedacht, Durban zu verlassen.“ – Andile-T (Rudeboyz)
Eines Nachts Anfang 2015 wurde Cucchi von einem Freund mit einem Facebook-Post in ein Alice-im-Wunderland-Loch gelockt. Als die Nacht vorbei war, hatte er mehrere Hundert Gqom-Tracks aus dem Netz gezogen. „Etwas ist zu mir gekommen“, erinnert er sich. „Ich war ziemlich aufgeregt, weil ich etwas gefunden hatte, was ich so noch nie gehört hatte.“ Cucchi kontaktierte seine Lieblingskünstler in Südafrika, doch die waren erst mal skeptisch, was denn der komische Weiße da von ihnen wolle. Erst über eine südafrikanische Freundin, die wie die Durbaner Zulu spricht, lief der Kontakt an. Aber damit waren die Schwierigkeiten nicht gelöst. So erwies es sich als problematisch, über das langsame Durbaner Internet hochauflösende Sounddateien für die Mastertapes in den Norden zu schaffen. Zudem haben die Fruity-Loops-User aus den südafrikanischen Schlafzimmern keine Ahnung von Soundstandards. Es war darum ein Horror, die Stücke klanglich fit für Vinyl zu machen, erzählt Cucchi. Ihm aber egal, er will diese Musik weltweit bekannt machen, als Fan. Aus Gesprächen hört man heraus, dass ihm die Produzenten dankbar dafür sind. Sie nennen ihn „Malumz“, was auf Zulu „Onkel“ bedeutet – für einen „Bruder“ empfinden sie den 36-Jährigen als zu alt. Er nennt sie im Gegenzug „Mshana“, Neffe.
Cucchi war noch nie in Durban, er hat aber seine erste Reise gebucht. Jetzt schon vor Ort ist der weltoffene und stets um originelle Ansätze bemühte Cómeme-Labelmitbetreiber Matias Aguayo. Er hat dort mit den Rudeboyz kollaboriert, die Ergebnisse gibt es demnächst zu hören. Von den Rudeboyz ist bereits 2015 eine gleichnamige EP bei dem Londoner Label Goon Club Allstars erschienen. Vor Ort in Durban ist Gqom schon dabei, sich etwas zu begradigen und zu kommerzialisieren, diese Art von Entwicklung geht halt schnell heute. Noch aber sind die Südafrikaner vollkommen überrascht von der Resonanz auf ihre Musik im globalen Norden. „Dieser Sound“, sagt Andile-T von den Rudeboyz, „war überhaupt nie dafür gedacht, Durban zu verlassen.“