Fotos: Kristoffer Cornils (Vorschaubild: Goldie)
„Habt ihr gehört, wer der geheime Headliner ist? Sister Sledge!“ sagt die Italienerin zu der Gruppe junger Männer aus aller Welt, die sich aus Stockholm kennen. Kurzes Schweigen. „Wer?“ schallt es ihr entgegen. „Ja, eben – sagt mir überhaupt nichts.“ Okay, zugegeben: Das Secret Solstice in Reykjavik ist nicht nur selbst ein verhältnismäßig junges Festival, es zieht auch ein ebenso junges Publikum an. Wissenslücken sind da wohl vorprogrammiert – und werden spätestens ein paar Stunden später bei den ersten Akkorden von “Lost In Music” aufgefüllt. Den zumindest kennen hier alle oder zumindest lassen sich alle davon begeistern: Hier in Reykjavik wird nicht nur ein abwechslungsreiches Programm geboten, es wird auch umso dankbarer angenommen. Dort springen die Flatbush Zombies über die Main Stage, hier wird um 19 Uhr in Kleinstgruppen zu Tech-House losgeravet.
Genießen ließ sich das wie noch einige kommende Festivals – Melt! Festival, Sonus, DGTL Barcelona, Outlook, Dimensions, Welcome to the Future zum Beispiel – dank Rundumprogramm von Festlane, dem etwas anderen Reisebüro: Das niederländische Unternehmen schneidert seinen KundInnen Reisen zurecht, die über die Dauer des eigentlichen Festivals hinausgehen. Wo sonst sollte sich ein ans Musikerlebnis angeschlossener Urlaub schon mehr anbieten? Nur einen sprichwörtlichen Steinwurf vom Festivalgelände entfernt zeigte sich die isländische Küste im schönsten schmutzigen Blau, das Gras leuchtete saftig grün und die Langsamkeit des hiesigen Alltagslebens fuhr wie automatisch den Cholesterinspiegel herunter. Warum dann nicht abseits vom Rahmenprogramm noch gleich Wale gucken, Vulkane abhüpfen oder das kulturelle Angebot der Stadt wahrnehmen?
Einer der Schwerpunkte des Secret Solstice lag folgerichtig auf isländischer Musik. So viel zumindest wussten die Mitreisenden im Bus fachkundig zu berichten: In Island gibt es keinen Underground, weil es keinen Mainstream gibt. Wie reichhaltig das ist, was sich dazwischen abspielt, zeigte sich bei einem Besuch in Plattenläden wie Lucky Music, 12 Tonar oder Smekkleysa. Neben der omnipräsenten Björk ließen sich dort in den prall gefüllten Crates auch Platten von Jóhann Jóhannsson, Samaris oder Dub Techno auf Labels wie Thule ausmachen. Das Live-Programm allerdings wurde von Rap in allen Farben dominiert. Boom-Bap meets Trap meets energetische Full-Band-Grooves meets an EDM und Trance geschärften Energy-Drink-Sound. Alles dabei, alles frenetisch gefeiert.
Die 16-köpfige Crew Reykjavíkurdætur etwa stellte auf der Main Stage ihren ersten englischsprachigen Song vor. Titel: “Feminism”, Hookline: “P-U-S-S-Y / Lick it ’til I die!” Hier wurde dazu nicht die Augenbrauen gerunzelt, sondern in die Hände geklatscht. Doch auch an den kleinere Nebenschauplätzen tat sich einiges, so etwa hob der von Achtziger-Referenzen dominierte Cloud Rap der, ähem, Vagina Boys im Ragnarök-Zelt die Temperatur. Denn obwohl das Wetter dieses Wochenendes zwischen praller Sonne und windigem Dauerregen changierte, ließ sich davon niemand den Spaß verderben – über die Generationen hinweg.
Nicht nur die regionalen Stars lieferten tolle Sets ab, auch die internationalen Acts nutzten ihren Auftritt. Am Freitagabend betrat Kelela die Bühne und zog in kürzester Zeit ein recht großes Publikum der Main Stage, die am isländischen Nationalfeiertag tagsüber recht leer blieb. Die von Warp gesignete Sängerin ließ sich davon aber keineswegs stören und brachte statt eines dichtbepackten Clubs mal ein Fußballfeld mit ihren von energetischen Beats getragenen Schmachtballaden zum Schmelzen. Wenn jemand in Aaliyahs übergroße Fußstapfen treten kann, dann Kelela- Auch außerhalb der Musik war die US-Amerikanerin mit Dankesworten für rührende Momente. „Das ist schon mein zweites Mal hier – als ich zuletzt hier war, war es die ganze Zeit über dunkel!“
Tatsächlich ging dieser Tage kurz vor der titelgebenden Sommersonnenwende in Island die Sonne nicht unter, der Himmel färbt sich nur verschieden grau. Gut, dass für Radioheads Headliner-Gig am Freitag eine Halle bereitgestellt wird, denn deren Pathosfeuerwerk zündete natürlich am besten im Dunkeln. Das feuerten sie auch mit gewohnter Souveränität ab. Wenn diese Band “Creep” spielt, ist ja bei den Fans eh schon alles gewonnen.
Radioheads Auftritt allerdings sorgte im Vornherein für eine gewaltige Schlange auf einem Festival, das gewaltigen Schlangen sonst mit absoluter Souveränität begegnete. Nachdem sich nur wenige Stunden zuvor die Anstellerei vor dem Gelände trotz einer Länge von gut 800 Metern auf nur 20 Minuten beschränkte, zog sich die Warterei vor dem Hauptact umso mehr in die Länge: Im auf Clubmusik ausgerichteten Askur-Zelt etwa bespielte ein bedröppelter DJ eine schier endlose Reihe von Menschen, die eigentlich nicht seinetwegen gekommen waren.
Aber wie es auf dem Secret Solstice üblich war, nutzte die Bevölkerung auch das zum Feiern: Warten und tanzen schließen einander schließlich nicht aus, das Bier – mit rund 8€ bepreist, was manchen der ausländischen Gästen mehr auf den Magen schlug als jedes traditionell isländische Frühstücksbuffet – schmeckte umso besser mit den zahlreichen Bekannten, die sich hier laufend freudig begrüßten und sowieso: Was hier in Reykjavik an Begeisterung an den nicht endenden Tag gebracht wurde, davon könnte sich ganz Kontinentaleuropa eine dicke Scheibe abschneiden.
Auch Goldie bespielte halb seine eigenen Fans, halb die der britischen Prog-Popper, sondern gab mit schmutzigen Jungle-Vibes und aufgekratzten Hypemen gehörig Gas. Goldie war nur einer der wenigen ausgesuchten von der alten Garde, die vom Secret Solstice zielsicher gebucht wurden: Robert Owens, Stacey Pullen, Kerri Chandler und Lil Louis waren ebenso dabei. Vor allem aber war es neben der einladenden Atmosphäre auch die besondere stilistische Mischung, die das Festival auszeichnete.
Dass einige Knalleffekte nicht fehlten, das garantierten in Geheimniskrämerei getauchte Auftritte in einer der Lagunen der Insel sowie in einem Gletscher, wo am Deftones-Sänger Chino Moreno vor nur hundert Gästen eine akustische Nachlese des Gigs am Vortag präsentierte. Ein im wahrsten Sinne einzigartiges Erlebnis, welches das verregnete Set der Alternative Metal-Band zumindest in einigen Punkten in den Schatten gestellt haben dürfte. Auch wenn es wie so oft an diesem Wochenende dann doch nicht minder schön war, zwischen die halbe isländische Bevölkerung einquetscht im Schauerregen ein bisschen zu feiern. Am Ende des lebhaften Festivals stand zwar immer noch keine Antwort auf die Klischeefrage fest, warum eigentlich so viel gute Musik aus Island käme, dafür aber ist eines sicher: Der Musik wegen dorthin zu reisen, ist es definitiv wert.