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BASSMUSIK IM WANDEL

Grime wird zur Avantgarde

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Illustration: Super Quiet
Erstmals erschienen in Groove 158 (Januar/Februar 2016)

Eine der interessantesten Tendenzen des vergangenen Jahres war ohne Zweifel das neu gewachsene Ansehen von Grime. Die bodenständigste Straßenmusik, die jemals aus der britischen Rave-Szene hervorging, ist spätestens seit 2015 die neue Avantgarde der elektronischen Musik. Das klingt paradox. Doch dass einige der wichtigsten Alben des Stils innerhalb der vergangenen zwölf Monate bei experimentellen Label-Bollwerken wie PAN, Planet Mu und Tri Angle erschienen, dürfte als Beweis für diese These genügen. Wie konnte es dazu kommen?

Grime wird gemeinhin als MC-Musik wahrgenommen. Als urbritische Variante von Rap, die vor knapp 15 Jahren aus der Konkursmasse von UK Garage entstand und durch Battle-Reime geprägt ist. Der einzige internationale Star, den der Stil bis 2015 hervorbrachte, war mit Dizzee Rascal deshalb wenig überraschend auch ein MC. In diesem Jahr gesellte sich zu ihm noch Skepta, der in den USA Erfolge feiert und inzwischen mit Pharrell Williams produziert. Doch diese Sichtweise verzerrt die Realität: Grime definierte sich nie ausschließlich durch seine MCs. Mindestens genauso prägend waren die Beats, die das Tempo von UK Garage und 2Step aufgriffen, aber eine brachial reduzierte DIY-Ästhetik besaßen. DJs und Produzenten spielten im Hintergrund stets eine wichtige Rolle, ihre Wahrnehmbarkeit nahm im Windschatten der MCs aber ab.

Dies brachte vor einigen Jahren eine Gegenbewegung ins Rollen: Produzenten bringen zunehmend instrumentale Stücke heraus, die nicht als Backingtracks für Raps gedacht sind; Partys werden ohne MCs veranstaltet. Als Zentrum der Bewegung kristallisierte sich die 2013 gegründete Londoner Partyreihe Boxed heraus, die von einem DJ-Kollektiv um Slackk, Mr. Mitch und Logos betrieben wird. Bald hatte die Strömung auch einen Namen: Instrumental Grime.

Doch was ist daran avantgardistisch? Auch hier lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Als 2003 Dizzee Rascals Album Boy In Da Corner erschien, schrieb der Guardian-Kritiker Alexis Petridis über dessen Produktionsstil: „Zerlegte elektronische Impulse gehen als Rhythmen durch. Darüber torkeln wogende Bassfrequenzen, verstörende Refrains murmelnder Stimmen [und] ratternde Synthesizer, die an Polizeisirenen und Konsolenspiele erinnern.“ Das Klangbild von Grime (wörtlich übersetzt: „Schmutz“) war also von Anfang an radikal, neu und in gewissem Sinn Avantgarde.

Viele der neuen Grime-Produzenten (allen voran Slackk) nennen ausdrücklich Dizzees Mentor Wiley als Vorbild, der vor zehn Jahren eine extrem minimalistische Klangästhetik prägte und von manchen seiner Tracks sogar Ambient-Versionen, sogenannte Devil Mixes, anfertigte. Auch deshalb spielt Ambient heute bei Instrumental Grime eine Rolle. Ohne MCs gewinnen bei vielen Produzenten die Stimmungen und das Klangdesign ihrer Stücke an Bedeutung. Das Duo Mumdance & Logos hat für die Schnittmenge zwischen Grime und Ambient einen eigenen Genrenamen gefunden: „Weightless“ (dt.= schwerelos) nennen sie die Stücke, die ohne oder mit ganz wenigen Beats auskommen. Manch einer stellt das expressive Gestalten von Klanglandschaften mit Grime-Stilmitteln (Handclaps, Sirenen oder splitterndes Glas etwa) ganz in den Mittelpunkt seiner Musik. Das bei Tri Angle erschienene Debüt Communion des US-Amerikaners Rabit etwa, eines der herausragenden Alben des Jahres, gleicht einem in Dolby Surround produzierten Horrorfilm-Soundtrack.

Doch instrumentaler Grime muss nicht zwangsläufig düster sein. Das großartige Album Parallel Memories des Londoners Mr. Mitch (Planet Mu) steckt voller warm blubbernder psychedelischer Tracks mit Cyber-R’n’B-Anleihen. Visionist wiederum verwendet auf Safe (PAN) hauptsächlich mutierte Gesangssamples als Tonmaterial. Weitere spannende Albumentwürfe stammten 2015 von Murlo (Odyssey auf Mixpak), Acre (Better Strangers, Tectonic) und JT The Goon (Triton, Oil Gang)

Auch wenn Kritiker wie Simon Reynolds bemängeln, dass Grime ohne MCs die „soziale Energie“ verloren gehe, zeigt die Kreativität der Instrumental-Grime-Produzenten Wirkung. Die Szene ist längst weltweit verbreitet und beeinflusst auch Musiker, die aus anderen Zusammenhängen kommen. Das in Berlin ansässige Janus-Kollektiv um Lotic und M.E.S.H. etwa (siehe Sonja Matuszczyks großes Feature in unserer aktuellen Ausgabe). Solange die Bewegung noch solch eine Strahlkraft besitzt, muss einem von einer möglichen „IDM-Ifizierung“, wie sie Reynolds befürchtet, jedenfalls nicht bange sein.

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