Die Einschläge kommen näher. Und das Sensorium für die politischen, ökonomischen und kulturellen Verunsicherungen, Ängste und Hoffnungen unserer Zeit ist in kaum einer Musik so offen und verständlich wie in den vermeintlich abstrakten und stummen Klangwelten von Ambient. Obwohl es eine direkte Entsprechung von Form und Inhalt grundsätzlich nicht geben kann und von den Musikern vielleicht gar nicht intendiert ist, die Welthaltigkeit von einem Album wie De Aeris In Sublunaria Influxu (Essence) ist evident. Die verrauschten Soundscapes von Troum & raison d’être transportieren ihre Botschaft unterschwellig, als zerkratzt körniger Noise mit einem zarten humanistischen Kern. Ein wesentlicher Teil der herben Schönheit dieser Klänge liegt darin, dass sie die Umstände ihrer Entstehung weder explizit offenlegen noch ernsthaft verleugnen.
Stream: Troum & raison d’être – De Aeris In Sublunaria Influxu
Dies schließt Bezüge auf Genreklassiker wie Vangelis Blade Runner Soundtrack nicht aus. Zahlreiche Referenzen auf diesen kraftvollen Assoziationsträger durchziehen auch die gerade auf Vinyl wiederveröffentlichten Arbeiten von Imre Kiss, die es bislang nur stark limitiert gab. Sein Albumdebüt Midnight Wave (Lobster Theremin) ist ein frühvollendetes wie variantenreiches Ambientalbum im althergebrachten Sinn.
Video: Imre Kiss – Stolen Moment
Die Split-EP A-Sites (Exitab/Proto Sites) mit dem Slowenen Casi Cada Minuto verschiebt die dystopisch-futuristische Blade Runner Klangwelt in etwas handfesteren Lo-Fi House.
Video: Imre Kiss – Urizen (feat. S Olbricht)
Video: Casi Cada Minuto – Intonarumori
Schon etwas älter, aber in seiner kongenialen Brillanz unerreicht ist das Quasi-Remake des Soundtracks von Samuel Andres Madsen alias S.A.M. auf der EP Delaphine003 (Delaphine) vom vergangenen Jahr.
Video: S.A.M. – A (Delaphine003)
Unter seinem bürgerlichen Namen Anthony Child produziert Surgeon avancierte Zuhörmusik jenseits von Techno. Die rhythmisierten Synthesizerdrones der Electronic Recordings from Maui Jungle (Editions Mego) sind sich von Naturgeräuschen inspiriert und doch hochartifiziell. Ein Regenwald aus purer Elektrostatik.
Stream: Anthony Child – Electronic Recordings from Maui Jungle
Die Idee dass Sound ein Ökosystem sein kann, in dem natürliche Quellen, elektrisch verstärkte Instrumente und digitale Oberflächenbearbeitung immer voneinander abhängen und doch ihre jeweilige Nische besetzen, verfolgt Simon Scott seit längerem. Die mächtigen Soundscapes seines vierten Album Insomni (Ash International) zeigen sich so gleichermaßen inspiriert vom ausschweifenden Shoegaze-Gitarrenfeedback seiner Band Slowdive, wie von den nächtlich brummenden Microsounds seines häuslichen Umfelds.
Stream: Simon Scott – Insonmi
Neoklassik-Star Max Richter setzt sich für eine neue Einfachheit ein. Sein achtstündiges Wiegenlied Sleep (Deutsche Grammophon) ist ein starkes Statement. Die simplen minimal variierten Melodiemuster des Mammutwerks formen eine Art Loop-Ambient mit aufwendigen orchestralen Mitteln. Eine politische Art der Verschwendung. Schwärmerische Schönheit ist ihr stärkstes Argument.
Trailer: Max Richter – Sleep
Die Nähe zum Körper, zur unmittelbaren Affekt ist nicht auf laute und überwältigende Musik beschränkt. Selbst in der ins Abstrakte feinpolierten Electronica von Denzel + Huhn ruht Körperlichkeit. Brom (Oktaf), ihr zweites Album nach sieben Jahren Pause findet wie selbstverständlich die Balance zwischen tiefenverfeinerter Frickel-Artikulation und unverkrampftem Spiel.
Stream: Denzel + Huhn – Brom
Einen ähnlichen hohen Grad an digital-mechanischer Raffinesse kultiviert die Dänin Band Ane. Der Sanftmut und die Nähe der verfeinerten Knusperelectronica ihres Anish Music Caravan (Clang) fordert und belohnt noch die kleinste Aufmerksamkeit mit ihrer tiefenwirksamen herbfrischen Süße. Ein „High Tea“ der IDM. Nach einem kleinen digitalen und „Dänemark-Only“ Release im vergagenen Jahr nun auch weltweit auf Vinyl.
Stream: Band Ane – Owl Farm (Anish Music Caravan)
Teelichter, bunte Blätter und Strickschals: herbstlich häusliche Assoziationen sind bei Ms. John Soda schwer vermeidbar. Dennoch lässt sich Stefanie Böhms und Micha Achers neues Album Loom (Morr) nicht auf privatistische Innenschau in Form melancholischer Indietronic reduzieren. Der Wahnsinn der Welt da draußen ist das Hintergrundrauschen gegen das sie schwermütig aber nie mutlos anspielen.
Stream: Ms. John Soda – Hero Whales
Fee Kürten alias Tellavision begehrt noch etwas beherzter gegen die Umstände auf. Ihre unformatierte Lo-Fi Electronica The Third Eye (Karlrecords) kennt von Dissonanz und Krach zu elegischen Soundliebe alle Seinszustände zwischen Straße und Kunsthochschule und bringt sie auf einzigartige Weise zusammen – eine zeitgemäße Art von (nicht nur) klanglichem Feminismus eingeschlossen.
Video: Tellavision – Unimperative
Auf diesen könnte sie sich vermutlich mit dem französischen Duo Erotic Market einigen. Deren Debüt Blahblahrians (Jarring Effects) springt locker zwischen Neo-R&B, ambientem Sounddesign und punkigem Electropop, behält dabei aber jederzeit die Übersicht, beweist Haltung auch in unübersichtlichen Lebenslagen. Gegen Schönheitsterror und Beziehungsoptimierung, für Ausschweifung, Chaos und Liebe.
Video: Erotic Market – Retro Retardo