burger
burger
burger

DISCLOSURE „Jeder liebt Garage“

- Advertisement -
- Advertisement -

Text: Florian Obkircher
Erstmals erschienen in Groove 142 (Mai/Juni 2013)

Zwei verbrüderte Landeier mischen die britischen Charts auf. Sie spielen ausverkaufte Konzerte, auf denen sie eigentlich noch gar nicht sein dürften. Mit einem Sound, den sie selbst nur aus Club-Erzählungen kennen. Disclosure und der neue Garage-Hype. Ein Treffen mit Howard und Guy Lawrence vor ihrem Auftritt im Londoner Club Heaven.

„Waaahnsinn!“ sagt Howard Lawrence mit großen, kindlichen Augen. Aufgeregt beobachtet er die zahlreichen um ihn herumschwirrenden Bühnenarbeiter. Wie sie auf Gerüste steigen und die Scheinwerfer montieren, wie sie Boxen schleppen und Mikrofone einstellen. Alles für ihn. Alles für den großen Auftritt. In wenigen Stunden werden Howard und sein Bruder Guy hier im Londoner Club Heaven auf der Bühne stehen. Es ist das erste große Heimspiel des Duos Disclosure – und die Zeichen stehen gut: Der Laden ist mit fast 2.000 Besuchern ausverkauft. „Wenn ich daran denke, dass ich vor einem Jahr noch die Schulbank gedrückt habe, dann ist das hier schon ziemlich krass“, sagt er sichtlich zufrieden.

„Krass“ beschreibt ganz gut, was Disclosure gerade widerfährt. Ende 2010 erschien die Debüt-EP des Brüderpaars, weniger als drei Jahre später parken sie nun ihre Single „White Noise“ auf Platz zwei der britischen Charts. Die erste US-Tour, von der die beiden gerade zurück sind, war ausverkauft. Der Witz dabei: In den Vereinigten Staaten dürfte Howard seine eigenen Konzerte eigentlich noch gar nicht besuchen. Er ist 18, sein Bruder gerade einmal drei Jahre älter. „Das war zum Teil schon komisch“, sagt Howard. „Ein Veranstalter meinte, ich dürfe die Garderobe bis zum Konzert nicht verlassen. Und danach musste ich von der Bühne direkt zurück ins Hotel. Ich verstehe das mit den Gesetzen natürlich, aber es nervt ziemlich. Ich mache schließlich nur meinen Job.“

Burial als gemeinsamer Nenner

Rückblick: Die Lawrence-Brüder wuchsen Anfang der neunziger Jahre in Reigate auf, einer Kleinstadt im Süden Englands. Auch wenn der Ort nur eine halbe Zugstunde von London entfernt liegt, ist das Provinzielle in jeder Pore spürbar, sagen sie. Windmühlen, Kornfelder, Burgruinen. Der einzige Link zur Clubkultur: Norman Cook alias Fatboy Slim. „Er wuchs in Reigate auf und besuchte die gleiche Schule wie wir“, sagt Guy. „Trotzdem ist die Stadt kulturelles Brachland. Als Teenager können die Wochenenden dort echt frustrierend sein.“ Musik brachten die Eltern ins Leben der Brüder. Die Mutter ist Sängerin und Pianistin, spielte früher in Coverbands und nahm für die lokale Radiostation Jingles auf. Durch ihren Einfluss lernte Guy schon als Dreijähriger Schlagzeugspielen und gab als Jugendlicher selbst Unterricht. Howard dagegen übte Bass und Klavier.

Disclosure | Foto: Aljoscha Redenius

Die Idee, gemeinsam Musik zu machen, war trotzdem nicht die offensichtlichste. Wer will als Teenager schon mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder abhängen, geschweige denn eine Band gründen? Außerdem waren die Geschmäcker der beiden damals ziemlich konträr, sagen sie. Während Howard noch auf Singer-Songwriter-Sachen stand, fuhr Guy als 18-Jähriger am Wochenende gelegentlich mit Freunden nach Brighton, um dort Clubluft zu schnuppern, um Skream und Benga, Joy Orbison und Floating Points hinter den Plattenspielern zu erleben. Damals allerdings noch ohne große Ambitionen, selbst einmal da oben zu stehen.

Das änderte sich erst, als Howard und Guy in Burial einen geschmacklich gemeinsamen Nenner fanden – und begeistert von dessen Musik anfingen, am Computer zu experimentieren. Ihren ersten Track namens „Offline Dexterity“ stellten sie auf Myspace, so wie man das 2010 eben machte, und staunten nicht schlecht, als nach nur einer Woche gleich drei Labels Interesse bekundeten. Den Zuschlag bekam damals Moshi Moshi, eine Londoner Plattenschmiede, die Künstler wie Hercules & Love Affair und Mirrors in ihrem Stall hat. „Es war komisch, weil sich nur Indie-Labels meldeten. Damals hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht als ein Angebot von Hotflush oder Hessle Audio. Ich dachte, genau zu denen würde unsere Musik passen“, erinnert sich Guy. „Wenn ich mir unsere alten Sachen heute anhöre, dann verstehe ich, warum die sich nicht gemeldet haben. Wir kopierten einfach deren Künstler.“

Nach einer sehr wohlwollenden Rezension auf Pitchfork ging dann alles sehr schnell: Konzertanfragen, Management-Angebote, weitere Labels klopften an. Howard und Guy hatten zu diesem Zeitpunkt gerade erst zwei Tracks produziert – die beiden der EP nämlich – und keinen Schimmer davon, wie man auflegt, beziehungsweise in welche Richtung es musikalisch weitergehen sollte. „Dieser Hype hat uns anfangs etwas überfordert. Wir überlegten uns, nach London zu ziehen und in die dortige Szene einzutauchen“, sagt Guy, „aber wir entschieden uns dann doch dazu, die Sache langsam anzugehen und unser eigenes Tempo zu definieren.“

Mutter als Garage-Expertin

Anstatt ihr Glück in der großen Stadt zu suchen, verlegten die beiden ihr Studio erst einmal vom Kinderzimmer in den Dachboden über dem Auktionshaus ihres Vaters. Ihr Setup war damals so bescheiden wie heute: Computer mit Logic 9, Monitorboxen und ein Roland Juno 106 – auch nur deshalb, weil der amerikanische Garage-Meister Todd Edwards einmal gesagt hat, dieser Synthesizer sei der einzige, den er verwende. Die Arbeitsteilung ist klar geregelt: Guy kümmert sich ums Mixing und die Produktion, Howard schreibt die Songs und Texte. Als Brüder an Tracks zu feilen, sehen die beiden als Vorteil. Weil falsche Höflichkeit fehl am Platz ist. Howard meint: „Wenn Guy einen Beat produziert, der scheiße klingt, dann sag ich ihm das. Wir sind da nicht allzu zimperlich miteinander.“

 

„Wenn mein Bruder einen Beat produziert, der scheiße klingt, dann sag ich ihm das auch. Wir sind da nicht gerade zimperlich.“ Howard Lawrence

 

Bei den Eltern wohnen sie bis heute. Aus Bequemlichkeit. Weil Reigate nicht weit vom Flughafen in Gatwick entfernt liegt. Außerdem sind die beiden ohnehin kaum zu Hause. Die Eltern jedenfalls drängen die beiden nicht zum Auszug. „Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Musik ganz ihr Ding ist. Unser Vater steht eher auf Led Zeppelin und The Who“, sagt Howard. „Unsere Mutter dagegen ist scheinbar zur Expertin avanciert. Beim letzten Track, den ich ihr vorspielte, meinte sie, sie finde den Off-Beat der Hi-Hat noch nicht ganz so prickelnd. Ich dachte, ich spinne.“

Disclosure | Foto: Aljoscha Redenius

Waren die Eltern denn auch okay mit Howards Entscheidung, die Schule für Disclosure zu schmeißen? „Ganz so war’s ja nicht. Ich bin von der Schule geflogen“, sagt Howard mit schelmischem Grinsen. „Vor einem Jahr wurde das mit der Musik zu viel. Ich tauchte oft fünf Stunden zu spät auf, weil wir in der Vornacht ein DJ-Set in Hamburg oder sonst wo hatten. Das fanden die Lehrer nicht so lustig.“

Ein Jahr später scheint klar: Die Entscheidung für die Musik war die richtige. Mit jeder ihrer sechs EPs verdoppelten sich die Fans auf Facebook, mit jeder ihrer Veröffentlichungen festigte das Duo seinen Stil. Und der ist mittlerweile recht weit entfernt vom verspielten Post-Dubstep der frühen Tage. „Das hat mit unseren Hörgewohnheiten zu tun. Als wir Stücke wie ‚Carnival‘ machten, hörten wir James Blake und Mount Kimbie und versuchten – teilweise fast schon verkrampft – Tracks in deren Stil zu produzieren.“ Sein Bruder ergänzt: „Anfangs ging alles so schnell. Die meisten Produzenten können ihren Stil in Ruhe entwickeln, bei uns war es genau umgekehrt. Ich mag unsere frühen Songs noch, obwohl ich heute vieles schon anders machen würde. Sie klingen so kompliziert, so verspielt. Heute bin ich der Meinung: Weniger ist mehr.“

Diese Unbeschwertheit, die jeden mit zieht

Dieses neue Credo ist auf dem selbstbetitelten Debütalbum nicht zu überhören. Statt verspielter Glöckchen- Sounds und verstolperter Beats regiert die pochende Bassdrum. Statt tiefergelegter Gesangsschnipsel im Post-Dubstep-Stil holen Disclosure Vokalisten ins Studio und erarbeiten mit ihnen Songs – mit Strophen und Refrains. Besonders stark kommt dieser Paradigmenwechsel in Tracks wie „Latch“ durch, mit dem das Duo im vergangenen Oktober erstmals die britischen Top 20 knackte. „Der Track war am Anfang ein Instrumental, auf das wir Vocalsamples einer alten Zed Bias-Nummer klatschten. Aber irgendwie klang das nicht rund genug. Deshalb holten wir Sam Smith ins Studio, der die Samples dann noch einmal richtig einsang. Nur das Sample ganz am Anfang ist noch vom Original.“

 


Video: DisclosureLatch (feat. Sam Smith)

 

Trotz einiger ruhiger Nummern dominiert ein Stil das Debüt von Disclosure deutlich: Garage. Der Sound, der das London der späten Neunziger prägte. Eine Zeit, als die Lawrence-Brüder noch Kleinkinder waren. Gestoßen sind sie auf die britische Housevariante über Google. Auf der Suche nach den Inspirationsquellen ihrer Inspirationsquellen, Burial und Joy Orbison. Als die Sprache auf Garage kommt, geraten die beiden ins Schwärmen und plappern begeistert durcheinander. Wie zwei Kinder, gefragt nach ihrer Lieblingseiscreme.

Guy: „Als ich Garage entdeckte, war ich erst einmal baff. Natürlich hatte ich von dem Genre gehört, aber diese Musik schien so angestaubt, so weit weg. Aber je tiefer ich eintauchte, desto größer wurde meine Begeisterung.“

Howard: „Garage brachte Musikalität in die Tanzmusik. Es gibt Songstrukturen mit Strophen und Refrains. Gut, gelegentlich ist Garage etwas ‚over the top‘ aber trotzdem in jedem Takt stilvoller als jeder Track von David Guetta und Tiësto.“

Guy: „Verstehe mich nicht falsch, ich liebe Techno – zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber Garage hat diese Unbeschwertheit, die jeden mitzieht.“

Howard: „Frauen lieben Garage. Jeder liebt Garage. Und ich glaube, dass unsere Musik genau deshalb so gut ankommt. Die Älteren werden bei unseren Tracks nostalgisch, Leute in unserem Alter entdecken Garage durch Tracks wie ‚White Noise‘.“

Der Zeitpunkt ist perfekt: Wo die Piano-Akkorde – ein anderes Relikt der Neunziger – schon seit Jahren eine große Renaissance am Dancefloor erleben, war es nur eine Frage der Zeit, bis Garage revitalisiert wird. Angebahnt hat sich der Trend im Londoner Untergrund schon länger – doch den Lawrence-Brüdern gelang es, den Stil mit simplen wie euphorischen Melodien aufzuladen und einem breiten Publikum schmackhaft zu machen.

Am Reißbrett ist der Disclosure-Sound allerdings nicht entstanden. Das zeigt schon die Tatsache, dass das Album – es hätte ursprünglich Anfang April erscheinen sollen – zum Zeitpunkt des Interviews Anfang März noch immer nicht fertig ist. Das hat mit dem großen Erfolg der angesprochenen Single zu tun: „White Noise“, bei der Aluna Francis vom anderen britischen Durchstarter-Duo der Stunde – AlunaGeorge – den Gesang beisteuert, landete auf Platz 2 in den UK-Charts. Seit dem klingelt sein Telefon ununterbrochen, sagt Guy. Stress pur: Die Liveshow musste innerhalb kürzester Zeit fertig werden, das Album ebenso, daneben gab’s etliche Interview- und Live-Anfragen.

 


Video: DisclosureWhite Noise (feat. AlunaGeorge)

 

Wie ein Déjà-vu fühle sich die aktuelle Situation an, sagen die beiden in Anspielung auf den unerwarteten Erfolg ihrer ersten EP vor zwei Jahren – nur sei der Wahnsinn derzeit noch zehnmal ärger. „Wir wollten aber in puncto Album nichts überstürzen“, sagt Guy. „Niemand braucht eine Sammlung von Garage-Tracks. Das Album soll für den Kopfhörer und die Tanzfläche funktionieren.“

Zwei Digital Natives, Jungs, die mit MP3-Kultur aufgewachsen sind: Woher kommt da überhaupt das Bestreben, ein Album klassischen Formats zu machen? „Wir haben eine Digital-EP veröffentlicht, die man sich gratis runterladen konnte, wenn man unser Fan auf Facebook wurde. Dadurch haben wir 15.000 ‚Likes‘ generiert“, sagt Howard. „Wir sind uns also bewusst, dass das Musikgeschäft heute anders funktioniert als früher. Trotzdem war uns das Album eine Herzensangelegenheit. Obwohl unser amerikanischer Booker letztens meinte, wir bräuchten eigentlich gar keins. Weil wir dort schon jetzt Clubs ausverkaufen.“ Sein Bruder Guy relativiert: „Wir sind in den USA nicht groß, die stecken dort noch mitten in ihrer Dubstep-Phase. Wenn wir in London klassischen House auflegen, dann geht’s voll ab, während das Publikum in den Staaten noch immer auf den ‚Drop‘ wartet. Ich sehe die derzeitige Situation dort als große Chance für uns. Es kann sich nur um Monate handeln, bis die Staaten nachziehen und die Szene dort voll auf House einsteigt. Und wäre es nicht toll, wenn sie dabei zu unseren Tracks abgehen würden?“

Heute Nacht steht aber erst einmal ein Heimspiel auf dem Plan. Nicht dass ihnen ein triumphales Konzert nicht sicher wäre: Draußen stehen schon jetzt die ersten Fans Schlange, obwohl der Einlass erst in einer Stunde losgeht. Zu überzeugen gilt es heute aber die Eltern, sagen Disclosure. „Es ist unser erstes Konzert, bei dem unsere Eltern dabei sein werden“, sagt Guy, „und ich hoffe schwer, dass unsere Mutter heute mit dem Hi-Hat-Sound zufrieden sein wird.“

Das Album Settle von Disclosure ist bei PMR / Universal erschienen.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND2024]: So feiert die Post-Corona-Generation

Die Jungen feiern anders, sagen die Alten – aber stimmt das wirklich? Wir haben uns dort umgehört, wo man es lebt: in der Post-Corona-Generation.

[REWIND2024]: Ist das Ritual der Clubnacht noch zeitgemäß?

Hohe Preise, leere Taschen, mediokre Musik, politische Zerwürfnisse – wo steht die Clubkultur am Ende eines ernüchternden Jahres? Die GROOVE-Redaktion lässt das Jahr 2024 Revue passieren.

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.