Besser spät als nie. Die Entdeckung der „Zivilisation der Liebe“ im vergangenen Jahr war der kanadische Pianist Lubomyr Melnyk. Seine Continuous Music aus irrwitzig schnell wiederholten Klavierornamenten euphorisierte das Publikum des Kölner Ambientfestivals wie kein Musiker zuvor. Auch die ebenfalls auf dem Festival auftretenden Peter Broderick und Nils Frahm waren begeistert und haben Melnyk zu der Generationen und E/U-Grenzen übergreifenden Zusammenarbeit Corollaries (Erased Tapes) angeregt. Ein glückliches Treffen von Erfahrung und Inspiration. Auch wenn er schon ein Lebenswerk hinter sich hat, der 65-jährige Melnyk besitzt das Handwerkszeug und den Esprit, das an Schwung verlierende Genre „Neoklassik“ neu aufzurollen.
Sind in der Solokarriere alle Claims abgesteckt, ist das eigene Idiom zur Kenntlichkeit verfeinert, wird es Zeit für Kollaboration, gerne in Form einer „Supergroup“ aus ähnlich gestimmten Musikern derselben Generation. Für Jan Jelinek, Hanno Leichtmann und Andrew Pekler ist Groupshow so ein Weg aus der Studioeinsamkeit. Ihr zweites Album Live At Skymall (Staubgold) insistiert auf der Simplizität von Dub und Krautrock. Hypnotisch-sumpfige Klänge mutieren, schweifen aus und bleiben doch im Rahmen klarer, rhythmisierter Wiederholungen. Eine faszinierende und ziemlich deutsche Spacemusic. Düsterer und karger geht es bei Denseland (Leichtmann mit David Moss und Hannes Strobl) zu. Like Likes Like (M=Minimal) grummelt enigmatische Botschaften über extrem ausgehungerte Dub-Landschaften. Der Schlagzeuger von Kreidler, Thomas Klein, beherrscht diese Variante des Minimalismus als Sølyst ganz allein. Lead (Bureau B) benötigt nicht mehr als ein federndes Schlagzeug und ein paar digitale Dub-Effekte, um monochrome aber umso tiefenschärfere Trackwelten entstehen zu lassen. Auch nach fünf EPs und einer CD hat Mark Fells Projekt Sensate Focus nichts von seiner Strahlkraft verloren. „2“ (Sensate Focus) kehrt zu den Anfängen im Deep House zurück – mit dem gemeinen Kniff, die Beats so zu schieben, dass sie gleichzeitig zu schnell und zu langsam wirken, immer etwas neben der Spur bleiben.
Stream: Denseland – Like Likes Like (Snippets)
Der Tokioter Serph treibt auf seinem vierten Album El Esperanka (Noble) die pupillenerweitende Hyperaktivität der samplevernarrten japanischen Nerdkultur über die Klippe. Sein Glitches aus Space-Jazz, J-Pop, Game-Soundtracks und sentimentalen Filmscores sind derart sonnig und verspielt, dass sich ein „Superflat“-Effekt einstellt, der nahelegt, dass sich unter der extra niedlichen Oberfläche etwas ganz anderes verbirgt. Das Duo Mycroft schöpft aus ähnlichen Quellen, kultiviert aber eine Aura von Dunkelheit und Geheimnis. Kein Wunder, beschäftigt sich Quincunx (Nonine) doch mit düsteren Verbrechensvisionen Arthur Conan Doyles. Ein stimmungsvoller Noir-Soundtrack mit elektroakustischen Einsprengseln. Auch Ritornell nutzen auf ihrem zweiten Album Aquarium Eyes (Karaoke Kalk) die Gegensätze von Blue-Note-Melancholie und elektronischer Verfremdung. Mit der Stimme der Sängerin Mimu haben Ritornell ihren sowieso schon variationsreichen musikalischen Ausdruck um einen weiteren, unerwartet poppigen Aspekt bereichert.
Stream: Serph – Twiste
Stille Einkehr, sublimiertes Glück. Wer wäre besser geeignet, Gustave Flauberts subtile Gefühlsuniversen zu vertonen, als der diskreteste aller Sound-Art-Produzenten, Stephan Mathieu. Un Cœur Simple (Baskaru) übersetzt Flauberts Novelle in fragiles Ambientkristall. Innerliches Aufbegehren, unterdrückte Gefühlseruptionen werden leises Zittern in einem ruhigen Fluß. Eine nette Geste zum Schluss: Markus Popp wurde vom Goethe-Institut in die Metropolen Lateinamerikas entsendet und hat ein Oval-Album mit hiesigen Vokalisten mitgebracht. Calidostópia! (freier Download auf markuspopp.me) feiert die unmöglich scheinende Verbindung von Cumbia- und Bossa-Nova-Lyrik mit den arhythmischen Klangabstraktionen Popps ganz selbstverständlich.
Video: Stephan Mathieu – Félicité