Im jüngst erschienenen E-Book The Big Book Of Woe versammelt der britische Blogger Woebot alias Matthew Ingram auf fast 900 Seiten seine gesammelten Blogeinträge. Entstanden ist ein höchst interessantes Archiv aus einer Ära, in der kritische Popmusikdiskurse unterhalb des Hype-Radars längst im Internet stattfanden. Ingram, der seine Blogtätigkeit vor drei Jahren einstellte, um sich ganz seiner konzeptuellen Samplemusik zu widmen, war Anfang der Nullerjahre zusammen mit Mark Fisher und Simon Reynolds, der das Vorwort des Buchs lieferte, einer der einflussreichsten Protokollanten der britischen Blogger-Community. Von einer enormen diskursiven Energie angetrieben, bestand Woes Arbeitsmodus stets darin, in Musik immer etwas zu suchen, was sich nicht beim ersten Hören erschließt. So ist das „Buch“ durchzogen von assoziationsreichen Textschneisen, die sich ihren Weg durch das Dickicht des Musik-Dschungels zwischen Progrock, Reggae und Detroit Techno schlagen. Dass freigeistiges Schreiben über Musik in Großbritannien immer schon interessanter war als hierzulande, liegt auch daran, dass es stets genauso mit intellektuellem Wissen wie mit street knowledge angereichert ist und in Ton und Setting gekonnt hin und her zappt. So berichtet Woe an einer Stelle von einem Besuch beim damals noch illegalen Sender Rinse.fm, bei dem er mit Grime-Guru Wiley im verrauchten Kellerstudio herumhing und knüpft an anderen Stellen unerwartete Verbindungen zwischen kulturell unverwandten Künstlern, indem er etwa den idiosynkratischen Dubstep-Zögling Zomby als modernen Bob Dylan bezeichnet, da sie beide einen völlig neuen Sound erfunden hätten.
Ingrams Talent besteht darin, der ersten Realität von Musikstilen immer auch eine zweite oder dritte Wirklichkeitsschicht zu entlocken. Er war nicht nur Wegbereiter des viel zitierten Hauntology-Konzepts, sondern auch Chronist des Hardcore Continuums und schrieb sowohl über Garage als auch über Dubstep, den er in seiner Frühphase pointiert als „Ravemusik ohne das Dionysische“ beschreibt. Auch wenn der Autor skeptisch ist, dass sich unentdeckte Musik in Zeiten der globalen Facebook-Hegemonie jemals wieder nur über die internen Dynamiken und entkoppelt vom Markt durchsetzen kann, so glaubt er weiter fest an das Ekstatische, das etwa in Clubmusik jenseits gesellschaftlicher Konventionen ein besseres Verständnis über das eigene Menschsein ermöglicht. Insofern erzählt das Buch auch von einem Aspekt, der heute trotz oder gerade wegen seiner Offensichtlichkeit kaum mehr eine Rolle spielt: dass Musik mehr ist als nur Musik.