burger
burger
burger

BROOKLYN HOUSE

- Advertisement -
- Advertisement -

Text: Heiko Hoffmann, Foto: Anna Rose
Erstmals erschienen in Groove 137 (Juli/August 2012)

Die House-Szene New Yorks steckt voller Widersprüche. Einerseits erscheinen hier gerade im Wochentakt so viele gute Platten wie seit Jahren nicht mehr, und selbst das Massenpublikum hat mittlerweile Dance für sich entdeckt. Andererseits füllen die lokalen DJs nur selten die Clubs und nach wie vor hat die Stadt kein Nachtleben, für das sich die lange Reise lohnen würde. Wir verbrachten ein Frühsommer-Wochenende in Brooklyn, um das Geschehen vor Ort zu erkunden.

Auf der anderen Uferseite glitzert verschwommen im Sonnenlicht die Skyline von Manhattan. Doch wer die Protagonisten der aktuellen House-Szene New Yorks treffen will, braucht das Zentrum der Stadt gar nicht zu betreten. Alle wichtigen DJs und Produzenten, Labels und Partys finden sich in Brooklyn. So auch die Brooklyn Flea Record Fair. Zweimal im Jahr versammelt sich unter freiem Himmel hier die Szene, nur eine Subway-Station von Manhattan und einen Steinwurf von der Williamsburg Bridge entfernt. Das Besondere daran: hier werden keine gebrauchten Schallplatten verkauft, sondern neue Vinyl-Veröffentlichungen. Die Elektronik-Archäologen von Minimal Wave bieten ihre Releases ebenso an wie die Labels Temporary Residence, Rvng Intl. oder lokale Plattenläden. Auch DFA sind mit einem Stand vertreten, jene Firma also, die vor zehn Jahren mit ihren ersten 12-Inches – LCD Soundsystems „Losing My Edge“ und The Raptures „House Of Jealous Lovers“ inklusive Morgan Geist-Remix – New Yorks Indie-Rock- und House-Kosmen miteinander verbanden. Und auch den Nukleus für zahlreiche aktuelle Musiker von Brooklyns House-Szene darstellen.

„Der Plattenmarkt ist für uns Label-Betreiber eine gute Sache. Zum einen verkauft man ziemlich viele Schallplatten. Man lernt aber auch mal die Leute kennen, die dein Label schätzen“, so James Friedman. Der 34-Jährige, der seit seinem 16. Lebensjahr auf Techno-Partys geht und gerne mal für Jesse Rose gehalten wird, wenn er im Berliner Berghain tanzt, betreibt gleich zwei Labels, die zu den aktuell besten New Yorker House-Plattformen gehören: Throne Of Blood (benannt sowohl nach einem Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa als auch einem Prince Yammy-Stück) gemeinsam mit dem DFA-Act The Rapture und Let’s Play House mit Jacques Renault und Nik Mercer. Im Gegensatz zu vielen Vinyl-Labels sind sie mehr als nur Liebhaberei. Friedman, der seit zehn Jahren in Brooklyn lebt, hat seinen Job bei Plattenfirmen wie !K7 oder Trevor Jacksons Output gelernt, früh Kompakt als Vertrieb gewonnen und achtet darauf, sowohl lokalen Produzenten wie John Selway, Brendon Moeller oder Party-Veranstalter Eamon Harkin eine musikalische Heimat zu bieten, als auch internationale Künstler wie Paul Woolford, Mugwump oder Andrew Weatherall einzubinden. „In der Vergangenheit haben sich Labels in New York oft nur um die eigene Stadt gekümmert“, so Friedman. „Aber mittlerweile gibt es einen regen Austausch mit Produzenten und DJs aus Europa, die schätzen, was wir machen.“

Neben James Friedmans Labels gibt es eine ganze Reihe weiterer Labels aus Brooklyn, die gerade von sich reden machen. Wurst, Golf Channel und Rvng Intl. etwa, die alle mit der Veröffentlichung von Disco-Edits begannen, sich inzwischen jedoch einen eigenen Künstlerstamm aufgebaut haben. Und auch der ehemalige DFA-Praktikant Tim Sweeney, der mit seiner wöchentlichen Radiosendung Beats In Space die neuesten Veröffentlichungen aus Brooklyn in die Welt strahlt, hat gerade sein eigenes Label gegründet.

 

Still Going

Die nach wie vor aktiven New Yorker Pioniere und Platzhirsche der neunziger Jahre – DJs und Produzenten also wie Masters At Work, die Body & Soul-Macher um François Kevorkian oder Shelter-Resident Timmy Regisford – kennen die meisten der aktuellen Szene-Aktivisten aus Brooklyn nur vom Hörensagen. Kontakte zwischen den alten und neuen House-Lagern gibt es kaum. Eine Verbindung zwischen New Yorks Vergangenheit und Gegenwart stellt, zumindest was seine Sozialisation betrifft, Olivier Spencer dar, jeweils eine Hälfte der Projekte Still Going und House Of House. Der gebürtige Franzose zog mit seinen Eltern – sein Vater arbeitete für eine Schokoladen-Firma – als Teenager zuerst nach Chicago, dann nach Detroit und schließlich alleine nach New York. „Ende der Neunziger, Anfang der Nuller-Jahre habe ich praktisch bei Body & Soul gelebt. Ich habe jeden Sonntag dort verbracht. Das Publikum war eine Mischung aus Alt und Jung, Schwul und Hetero, Latinos, Asiaten, Schwarzen und Weißen“, erinnert sich Spencer an die legendäre Nachmittags-Partyserie von François K, Joe Claussell und Danny Krivit. „So etwas gibt es heute nicht mehr.“

Liv Spencer war mit seinem Projekt Still Going, das er gemeinsam mit Rub N Tugs Eric Duncan betreibt, bei DFA unter Vertrag, bevor sie dieses Jahr ihr eigenes Still Going-Label an den Start brachten. Er lebt in Brooklyns Stadtteil Greenpoint, etwas abseits vom Hipster-Zentrum Williamsburg. Seine ersten Platten veröffentlichte er auf Jerome Sydenhams Label Ibadan und Sasses Moodmusic. „Es gibt natürlich einen Generationsunterschied zwischen der Szene in Brooklyn und den alten House-Typen. Aber der Grund, warum es kaum Kontakte zwischen den Szenen gibt, hat auch mit der Herkunft zu tun. Die Labels, die gerade von sich reden machen, werden alle von weißen Mittelstand-Kids betrieben. Es gibt kaum einen sozialen Austausch zu afroamerikanischen New Yorker Deep-House-DJs wie Fred P, Jus Ed oder DJ Qu.“

Auch soundästhetisch liegt Liv Spencer mit seinen Produktionen zwischen diesen Szenen. Er hält nichts von Sampling und spielt selbst für seine Remixe, wie zuletzt für The 2 Bears, alle Parts neu ein. Und mit House Of House, seinem Nebenprojekt, dessen dramatischer Dance-Hit „Rushing To Paradise“ 2009 für Aufmerksamkeit sorgte, hat er bereits ein Rock-Album fertiggestellt, das noch dieses Jahr erscheinen soll.

 

Electric Daisy Carnival

„Ich muss noch zwei Stunden spielen. New York, schaffen wir das?“, fragt Afrojack ohne Ironie sein Publikum. Der Holländer Nick van de Wall alias Afrojack legt erst seit gut einer halben Stunde auf. Es ist früher Sonntagabend doch der Electric Daisy Carnival nähert sich bereits seinem Ende. 135.000 Besucher sind hier an drei Tagen im MetLife-Stadium zusammengekommen, so viel wie noch nie zuvor zu einer Dance-Veranstaltung im Großraum New York. 2012 ist Dance also auch in New York endlich im Mainstream angekommen. Die Beats von David Guetta und Konsorten tönen aus den Autoradios und die Rave-Kids tanzen beim ausverkauften EDC kontrolliert von 12 Uhr mittags bis 23 Uhr die riesigen LED-Wände an. Danach geht’s zurück in die Vorstadt, bis zum nächsten Tag. Neben Afrojack – über den die New York Times schreibt, dass er eine Million Dollar für sein DJ-Set erhalten soll – heißen die Headliner-Importe Armin van Buuren, Steve Angello (ein Drittel der Swedish House Mafia) und Avicii. Elektronik-Spektakel wie der Electric Daisy Carnival stellen mittlerweile eine echte Konkurrenz für die etablierten Rock-Festivals in den USA dar. Doch anders als bei ähnlichen Veranstaltungen in Europa finden sich unter den über 80 DJs und Live-Acts kaum Namen, die in den Clubs oder auf Underground-Partys groß geworden sind. Und: Von Urgestein Danny Tenaglia einmal abgesehen, steht auf dem Lineup des EDC kein einziger DJ aus New York.

Doch auch in den angesagten Clubs Brooklyns werden lokale DJs selten für mehr als ein Warm-up-Set gebucht und länger als zwei oder drei Stunden geht auch hier so gut wie kein DJ-Set. Während die House-Elite der Neunziger – Louie Vega, François K, Danny Krivit und Roger Sanchez – nach wie vor ihre Residencies in Manhattener Clubs wie dem Cielo oder Santos hat, wo man als Gast Tische mit Flaschen-Service für ein paar Hundert Dollar reservieren kann, ziehen in Clubs wie dem Public Assembly vor allem Namen aus Europa. In dieser Nacht ist es zum Beispiel das Rotterdamer Label Clone, das die Veranstalter für ihre Bunker-Party eingeladen haben. Die Qualität der Line-ups stimmt, aber jüngere New Yorker DJs können, von Ausnahmen wie den Wolf + Lamb-Partys abgesehen, die Läden nicht selbst füllen. So kommt es, dass Fred P hier für Panorama Bar-Resident Prosumer die Tanzenden warmspielt – von 22 Uhr bis Mitternacht, weil um 4 Uhr die meisten Clubs schon wieder schließen. „Länger darf man in New York keinen Alkohol ausschenken“, erklärt James Friedman. „Danach rechnet es sich für Clubs nicht mehr, geöffnet zu bleiben.“ Tim Sweeney wird auf seinen DJ-Reisen oft auf das Nachtleben und die angesagten Clubs in New York angesprochen. Meist wiegelt er dann nur ab. „Ihr habt hier doch viel bessere Partys“, sagt er den Fragestellern aus europäischen Großstädten. „Die besten Partys machen hier freie Veranstalter an Orten, die oft erst kurz vorher angekündigt werden“, findet Liv Spencer von Still Going. Loft- und Warehouse-Partys wie Mister Saturday Night, die Veranstaltungen der Verboten-Crew oder der Resolute und Blkmarket Membership-Promoter, die alle meist in Brooklyn stattfinden, zeugen tatsächlich von einer Partyszene, die deutlich vielseitiger ist als noch vor zehn Jahren, als man interessante DJs fast nur in Bars wie Plant hören konnte, wo nicht einmal getanzt werden durfte.

 

Ital

Für Musiker aus anderen US-Städten ist die House-Szene in New York tatsächlich auch ein Grund in die Stadt zu ziehen. Daniel McCormick, der unter dem Namen Ital für das kalifornische Label 100% Silk veröffentlicht und von dem Anfang des Jahres sein beeindruckendes Debüt-Album Hive Mind auf Planet Mu erschien, verlagerte seinen Wohnort erst vor einem Jahr von San Francisco nach Brooklyn. „Hier sind tolle Labels wie Rvng Intl. oder L.I.E.S. zu Hause, und befreundete Künstler wie Laurel Halo (Hippos In Tanks, Hyperdub) leben hier“, sagt der 28-Jährige. „Hinzu kommt, dass es lauter Orte gibt, an denen ich auflegen kann. Clubs wie das 285 Kent Avenue oder auf den Partys von Mutual Dreaming. All das gab es in San Francisco nicht.“ Wie einige der House-Produzenten, die heute in Brooklyn leben, spielte McCormick erst in einer Reihe von Hardcore-Punk-Bands, bevor er House für sich entdeckte.

„Chicago Footwork- und die Perlon-Platten von Ricardo Villalobos haben mich erst zu House gebracht“, so Ital, der mit seinem „Ital’s Theme“ 2011 die erste Katalognummer auf Amanda Browns 100% Silk veröffentlichte, ein Label, von dem nicht selten abschätzig behauptet wird, es veröffentliche rückwärtsgewandten Hipster-House. „Man sollte jede Veröffentlichung für sich beurteilen und nicht alles in einen Topf schmeißen“, sagt McCormick. „Und das Tolle an New York ist doch gerade, dass hier mehrere House-Szenen nebeneinander existieren können. Die neuen Sachen aus Brooklyn, die Deep-House-Produzenten oder auch die Drag-House-Szene, die nach wie vor aktiv ist.“

In diesem Text

Weiterlesen

Features

Luca Musto: Eine Pause von der digitalen Welt

Downtempo in einer schnellen Welt? Luca Musto bleibt seinem Sound treu. Im Interview erzählt er, wie er trotz Trends zu seiner musikalischen Vision steht und was ihn inspiriert.

Motherboard: August 2024

Von Krach in Köln bis zum Lifestyle in Los Angeles ist es ein weiter Weg. Einer, den das Motherboard im August gerne geht.

Renate: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir finanziell nicht mehr können”

Die Wilde Renate muss Ende 2025 schließen. Warum der Mietvertrag nicht verlängert wird, erklärt Pressesprecherin Jessica Schmidt.