Text: Felix Denk & Sven von Thülen
Erstmals erschienen in Groove 133 (November/Dezember 2011)
Auf der Suche nach den Spuren von Techno: Wer nach Detroit fährt, hat aus der Vergangenheit eine Menge Bilder, Erwartungen und Vorurteile im Gepäck – und trifft auf eine Gegenwart voller Überraschungen. Ein Reisebericht.
Ist die Maschine schon die erste Sehenswürdigkeit? Für den Flug DL 7012 Berlin-Amsterdam-Detroit hat Delta den wohl klapprigsten Flieger der gesamten Flotte auf die Reise geschickt. Als der Film auf dem Langstreckenflug grünstichig über unsere Monitore flimmert und die Stewardess, die aussieht wie Billy Idol, das Essen serviert, denken wir: Vielleicht sind mit genau dieser Maschine schon die legendären Afrofuturisten geflogen, wegen denen wir nach Detroit reisen. Jene DJs und Produzenten, die vor zwanzig Jahren der gerade entstehenden Technoszene den entscheidenden Schub gaben. Damals wurde Techno härter, industrieller, konfrontativer und vor allem: endgültig ein weltweiter Exportschlager. Eine Erfolgsgeschichte mit einer merkwürdigen Pointe: Zu den Flecken, die der Technovirus nie wirklich infizierte, gehört ausgerechnet seine Ursprungsstadt. Dort zählt zwar Juan Atkins’ Prä-Techno-Projekt Cybotron zur lokalen Folklore, seine späteren Platten aber weit weniger. Der afroamerikanische Mainstream vollzog den Schritt von Cybotron zu Rhythim Is Rhythim oder später Underground Resistance nicht. In Detroit nicht und im Rest der USA auch nicht.
Soweit die Theorie. Nach gut sieben unbequemen Stunden müssen wir an eine Aussage von Robert Hood denken. Die Maschine knarzt und wackelt, wir umkreisen den Flughafen von Detroit, weil da unten ein Wirbelsturm fegt. Die Situation von Detroit, erzählte uns Hood neulich, sei wie der Hurrikan Katrina in Zeitlupe. Nur komme niemand, um die Stadt zu retten. Als wir landen, hat sich der Wind gelegt, es ist schwül. Der Himmel sieht aus wie ein grauer Lappen, die Pfützen sind fast so groß wie der Lake Michigan. Bei der Autovermietung kann der Typ am Tresen nicht verstehen, warum wir das kleinste Auto wollen, das sie haben, ein ordentlicher Jeep koste doch bloß ein paar Dollar mehr pro Tag. Als wir im Shorecrest Motel in Downtown ankommen, glitzern die zylinderförmigen Türme der General-Motors-Firmenzentrale in der Abendsonne. Wir sagen, dass wir sechs Nächte bleiben wollen. Die Frau an der Rezeption hebt ungläubig die Augenbraue, als würden wir einen Witz machen. Willkommen in der Motor City!
Am nächsten Tag fahren wir zur Gratiot Avenue, in den neunziger Jahren als „Techno Boulevard“ bekannt. KMS war hier, Metroplex, es gab zahlreiche Studios. Auch Dan Bell war mit seinem Label und Vertrieb 7th City in der Gegend. Und Blake Baxter mit seinem Plattenladen Save The Vinyl. Heute ist nur noch Transmat von Derrick May da, und auch das merkt man erst auf den zweiten Blick. Die Tür ist offen, wir schauen vorsichtig rein, und als uns Don Chow (Bild unten), Mays Assistent, begrüßt, stellen wir erstaunt fest, dass wir in einer Galerie sind. „Das ist die zweite Ausstellung, die wir hier machen“, sagt Chow. In dem dreißig Quadratmeter großen Raum hängen Zeichnungen von Abdul Haqq, der die Labels von vielen UR-, Red-Planet- und Transmat-Platten gestaltet hat, neben einem Poster des sagenumwobenen Detroiter Clubs Music Institute, wo einst May, Chez Damier, Alton Miller und D-Wynn aufgelegt haben. Alan Oldham hat das Music Institute 1989 nach der Schließung gezeichnet. In einem Nebenzimmer läuft ein Video, das den Verfall Detroits polemisch als große Verschwörung der Baubranche erklärt. Die interessanteste Arbeit lässt sich aber gar nicht so ohne Weiteres als Kunstwerk identifizieren: die Fassade des Eckhauses, dessen Ziegel farbig angesprüht sind. „Brixels“ nennt das der Detroiter Streetart-Künstler Icon. Ein bunter Aufstand gegen das graue Verfall-Image der Stadt.
„Es kommen eben viele Leute nach Detroit und interessieren sich vor allem für all diese verlassenen Häuser“, sagt Chow über die Arbeit. Dass das vielen Detroitern gehörig auf die Nerven geht, merken wir etwas später. Als wir an einer Kreuzung halten, um eine Brandmauer zu fotografieren, die mit einem riesigen, blau schimmernden Streetart-Piece bemalt ist, werden wir aus einem vorbeibrausenden Pick-up angebrüllt: „Stop that shit!“
VERDAMMT VIEL PLATZ
In Detroit hat man keine Lust auf Katastrophentourismus. Dafür gibt es hier sogar einen Begriff: ruin porn. Kein Wunder: Regelmäßig muss die Stadt als Kulisse für Niedergangsfantasien des Hollywood-Kinos herhalten. Allein im vergangenen Jahr wurden hier drei Horrorfilme gedreht. Und auch die Hochkultur setzt sich mit dem Strukturwandel auseinander: Anfang des Jahres sorgte der Bildband R u i n s O f D e t r o i t der französischen Fotografen Yves Marchand und Romain Meffre für weltweite Beachtung. Sie zeigen in epischen Weitwinkelaufnahmen verlassene Gebäude als Mahnmal des ausgehenden Industriezeitalters. Aber wer will schon in einem Mahnmal leben?
„How’s Detroit?“, fragt der gut gelaunte Mann im Coffeeshop auf der Woodward Avenue, wo wir am nächsten Morgen auf dem Weg zu Submerge einen Stopp einlegen. „Interesting“, sagen wir und wissen nicht, ob das eine gute Antwort war. Im Schaufenster steht: „Voted best coffee in downtown“. Es könnte auch der einzige Kaffee in Downtown sein. Denn obgleich die Woodward Avenue die Lebensader der Stadt ist, gibt es kein Starbucks, kein McCafé – und auch kaum jemanden, der das vermissen würde. Die Straßen in der Innenstadt sind praktisch menschenleer. Es ist verdammt viel Platz. Das hat die Stadt in den vergangenen Jahren attraktiv für Künstler gemacht, die hier billig leben und arbeiten können. Sie machen sich schon im Stadtbild bemerkbar: In vielen der leeren Schaufenster befinden sich Kunstinstallationen. Links und rechts der Hauptverkehrsstraße hat sich die Stadtverwaltung ein anderes Konzept der Raumnutzung ausgedacht: Alte Kinos und Bürogebäude wurden in Parkhäuser umgewandelt, zwei Gefängnisse, ein Casino, ein Baseball- und ein Football-Stadion wurden sogar neu gebaut.
Während man bei Transmat mit der Galerie Detroit als aufstrebende Kunststadt zeigt, wird bei Submerge die Technotradition gepflegt. Der Vertrieb ist seit knapp zwei Jahrzehnten das zentrale Nervensystem und die strategische Kommandozentrale von Detroit-Techno. Einst gegründet von Mike Banks und Jeff Mills, residiert Submerge seit 2003 in einem typischen Einfamilienhaus mit Veranda und Vorgarten. An der Tür steht: „No appointment, no entry“. Der Tonfall erinnert uns an die Auslaufrillen mancher UR-Platten. Weil am Vortag niemand ans Telefon gegangen ist, klingeln wir trotzdem. Nichts passiert. Als wir abdrehen, kommt ein Mann mit zauseligem Bart und fragt skeptisch, was wir wollen. Mit Cornelius Harris sprechen, dem Chef von Alter Ego Bookings und nebenbei Mike Banks’ Manager, sagen wir. Die Tür geht zu. Als sie wieder aufgeht, steht ein Mann mit imposanten graumelierten Dreadlocks vor uns und bittet uns herein. Er stellt sich als John Collins vor und ist eine der zahlreichen lokalen DJ-Größen, von denen man außerhalb Detroits kaum gehört hat. Schon 1986 legte er gemeinsam mit dem damals noch unbekannten Jeff Mills im Cheeks auf, einem in den Achtzigern schwer angesagten Detroiter Club. Collins führt uns in das kleine Museum, das im Erdgeschoss des Submerge-Gebäudes eingerichtet wurde. In den Schaukästen stehen ein paar Schlüsselplatten: „Sharevari“ von A Number Of Names, Cybotrons „Clear“ sowie natürlich die Compilation T e c h n o ! T h e N e w D a n c e S o u n d O f D e –
t r o i t , die die erste Generation Detroiter Produzenten um die Welt und vor allem nach England brachte sowie der der jungen Musik ihren Namen gab.
Stream: Cybotron – Clear
In anderen Schaukästen findet sich eine Sammlung von Roland-Geräten, bestehend aus einer TR-909, einer TB-303 und einer TR-808, daneben ein Magazin mit Jeff Mills auf dem Cover, Electrifying Mojos Autobiografie M e n t a l M a c h i n e , ein Zeitungsartikel über den Motown-Gründer Berry Gordy, der als Stadtheiliger verehrt wird, und ein Foto des ersten UR-Auftritts im Berliner Tresor 1991. In einem Nebenraum steht eine weitere Berühmtheit: die Schneidemaschine von Ron Murphy. Bevor der legendäre Mastering-Engineer und Pionier des kreativen Vinylschnitts (Endlosrillen, von innen nach außen laufende Platten und wohl auch die Doppelrille gehen auf sein Konto) gestorben ist, vermachte er die Maschine „Mad“ Mike Banks.
NICHT AUFGEBEN, WEITERMACHEN!
Für den nächsten Tag verabreden wir einen Termin mit John Collins für einen Besuch des Plattenladens im Keller von Submerge. Regelmäßige Öffnungszeiten gibt es nicht. Es kommt ja keine Laufkundschaft. Dafür Technoreisende aus aller Welt, die sich an der Wand verewigt haben. Deutschland, Spanien und Japan scheinen vorn zu liegen. In den Fächern stehen fast ausschließlich Platten aus Detroit. Vor allem natürlich von UR, aber auch von KMS, Planet E, Red Planet und Hipnotech, dem HipHop-Ableger von UR. Wir greifen uns die 7-Inch mit dem seltenen A-capella von „Transition“, einem der wohl spirituellsten Tracks aus dem neueren Schaffen von Underground Resistance. „Project yourself in the direction of your dreams“, heißt es da. „Find your strength in the sound – and make your transition!“ Nicht aufgeben, immer weitermachen.