„Distortion is part of desire. We always change the things we want.“ Es dürfte wohl kaum einen Musiker geben, der diese Lektion aus Siri Hustvedts Buch „The Blindfold“ tiefer verinnerlicht hat als Gordon Sharp alias Cindy, ein(e) Künstler(in), die ihre Inspiration seit fast dreißig Jahren aus den Verzerrungen und Umdeutungen eindeutiger Realitäten zieht. Seine Band Cindytalk ist sich in der Veränderung, im Anderssein sein immer so treu wie fremd geblieben, von den harschen Postpunk-Industrial-Klängen der Anfangstage zu den ambienten Pianominiaturen der neunziger Jahre. Ihre jüngste musikalische Metamorphose H o l d E v e r y t h i n g D e a r (Editions Mego/A-Musik) umspielt die Stille. Ein hellmetallenes Windspiel auf der Veranda, eine Feldaufnahme der herbstlichen Flur, strenge Elektroakustik und zarte Pianofragmente auf der Schwelle zum Verschwinden. Klänge, die von weit weg zu kommen scheinen, aber in ihrer zerbrechlichen Anmut doch unmittelbar berühren. Distanzierte, auf den ersten Blick unorganisierte Musik, auf die man sich einlassen muss, die Aufmerksamkeit beansprucht, diese aber reichlich belohnt – wie so vieles was in dieser Kolumne abgehandelt wird.
Christian Fennesz besitzt ein ähnliches Verständnis für die Schönheit aus unreinen Quellen. Die 10-Inch EP „Seven Stars“ (Touch/Cargo) verdeutlicht das einmal mehr. Aus der fast schon physisch greifbaren Spannung zwischen körnigem Feedback-Lärm und zartesten Akustikgitarren, von Fennesz wie immer überaus elegant ineinander geschichtet, wird eine in sich selbst ruhende Musik von weltabgewandter Melancholie wie von wuchtiger Körperlichkeit. Scheinbare Gegensätze, die in Fennesz’ Klangarchitektur organisch zusammenfinden. Eine Virtuosin im zerschmettern falscher Oppositionen und fehlgeleiteter Erwartungshaltungen ist die in Berlin lebende Australierin Jasmine Guffond alias Jasmina Maschina. Ihr zweites Album A l p h a b e t D r e a m N o i s e (Staubgold/Indigo) verknüpft die elektroakustischen Experimente ihrer früheren Arbeiten als Teil von Minit und Organ Eye mit akustischem Singer-Songwriter-Folk. Diese unwahrscheinliche Kommunikation von neumusikalischer Schwere und popaffiner Sorglosigkeit ist so originell wie eingängig und deutet an, wie viel Freiraum noch der Entdeckung harrt zwischen musikalischer Struktur und klanglicher Freiheit. Eine andere Generation, dieselbe Freude am grenzenzerschmetternden Spiel: Der Franzose Ghédalia Tazartès, der der akademischen Tradition von Musique Concrète entstammt, schnitzelt auf R e p a s F r o i d (Pan-Act/Hard Wax) Stimmsamples und exotische Musikwelten zu einem wilden Hörstück. Ist das noch Musik oder schon Verfremdungstheater? Spaß oder Krawall? Sicher ist nur, diese Klänge sperren die Ohren weit auf. Ähnlich subversive Hörerlebnisse hat das Dadavistic Orchestra im Sinn. Auf D o k u m e n t . 0 2 (Dust Science/Kompakt) formt die Supergroup aus The Black Dog und den Psychick Warriors Ov Gaia erhabene Drone-Landschaften aus Industrial, Ambient und kleinen Absurditäten, die dem Bandnamen mehr als gerecht werden.
Stream: Ghédalia Tazartès – Repas Froid I
Der im vergangenen Jahr unerwartet wieder auferstandene Electronica-Labelklassiker Mille Plateaux (Vertical.fm) erhöht gerade den Veröffentlichungsdruck mächtig. Bleibt zu hoffen, dass sich die Verfallsgeschichte des alten Labels nicht wiederholt. Die Alben + – 0 von Marow und 71.36 von Sabi/Kiyo sowie der Sampler I A M I n t e l l i g e n t A m b i e n t M u s i c 0 1, letzterer auf Force Intel, dem Sublabel für traditionellen Ambient mit kleinen Beats, geben jedenfalls Anlass zum vorsichtigen Optimismus. Hier ist nichts neu oder extravagant, sondern alles sorgfältig durchdacht und wohltemperiert. Tiefgründigkeit statt Innovation. Das ebenfalls neu gegründete Mille Plateaux Organic schmiegt sich schon näher an aktuelle Trends. The Lawless sampeln sich dort auf H a b i t F o r m i n g durch Librarymusic und Soundtracks. Dank einer ordentlichen Portion Hall ergibt das eine charmante Chillwave-Variante mit diesem gewissen „Saint Tropez ’73“-Gefühl.