„Hoxton club heads, queers and skinheads, feds and yardies, MPs and priests …“ Der Spokenword-Poet Josh Idehen zählt im Stück „Face Of God“ auf, wer alles den Bus Nr. 38 benutzt, der vom Bezirk Clapton im Nordosten Londons bis in die Innenstadt fährt. Die Buslinie, die auch schon von Grime-MCs wie Wiley in ihren Stücken verewigt wurde und die nicht gerade den besten Ruf genießt, dient Idehen zur Inspiration für eine ganze 12-Inch – die „38“-EP, die er zusammen mit dem Produzententrio LV aufgenommen hat. Auf den fünf Stücken der Platte schlüpft der Dichter in die Persönlichkeiten verschiedener Passagiere – darunter ein einsamer Pendler, ein illegaler Einwanderer und ein jugendlicher Krimineller – und schildert zu den düsteren, aber eleganten Dubstep-Rhythmen von LV ihre Gedanken während der Busfahrt. Es sind Geschichten von geplatzten Träumen und verzweifelten Hoffnungen, unterdrückten Aggressionen und geheimen Begierden. „It’s obvious you don’t get on with this metropolis, the big smoke’s a big joke and you’re the butt of it“, reimt Idehen im Stück „Lost“.
Stream: LV & Joshua Idehen – 38 EP (Clips)
Erschienen ist die „38 EP“ auf Keysound und sie eignet sich hervorragend als programmatisches Manifest für das Label, dessen Katalognummern bezeichnenderweise mit den Buchstaben LDN, dem Kurznachrichten-Code für „London“, beginnen. Denn die Betreiber von Keysound, das Produzentenduo Dusk & Blackdown, haben mit den knapp zwanzig bisher erschienenen Veröffentlichungen ein dichtes Netz aus Klängen von den Straßen Londons geknüpft, das in seiner Gesamtheit eine Art akustischen Stadtplan ergibt. Die Keimzelle für das Label bildete das Blog von Keysound-Mitinhaber Martin „Blackdown“ Clark, in dem der lange Jahre als Journalist aktive Musiker seit 2004 die Entwicklung der Musikkulturen des Londoner Untergrunds dokumentiert. Für Clark ist Musik untrennbar mit den sozialen Zusammenhängen verbunden, in denen sie entsteht. Deswegen beschreibt er in seinem Blog nicht nur Musikstile wie Grime, Dubstep und UK-Funky, sondern auch die Orte, an denen diese gehört, gespielt, produziert und gelebt werden – von den Studios der Piratenradios in Wohnsilos und Lagerhallen über die Partys in Clubs und besetzten Häusern bis zur dunklen Seitenstraße um die Ecke von seiner Wohnung.
Auch wenn Keysound – wie Clark in Interviews betont – zuerst als Plattform für seine und Dusks eigene Produktionen gedacht war, so hat sich das Label mit der Zeit immer mehr zu einer Fortsetzung des Blogs mit anderen Mitteln entwickelt. Keysound-Veröffentlichungen sind vor allem als Dokumentation der musikalischen Landschaft Londons und der dort wuchernden Zwischentöne konzipiert, die sonst wohl ungehört verhallen würden. Dies trifft auch auf die zweite aktuelle Veröffentlichung des Labels zu, die EP „Enter In Silence“ des Produzentenkollektivs LHF. Die Mitglieder der Gruppe haben neben einer Vorliebe für altägyptische und esoterische Künstlernamen auch einen Sound, der fernöstliche Einflüsse, Jazz, Dubstep und Jungle mischt und so definitiv nur in London entstehen konnte. Clark schreibt treffend, ihre Musik klinge, „als ob Sun Ra den [Piratensender] Rinse FM übernommen hätte und ihn dafür benutzen würde, mit dem Himmel zu kommunizieren“.
170 Kilometer westlich von London macht sich derweil in Bristol eine zweite Generation von Produzenten daran, die dort bereits etablierten Verbindungen zwischen Dubstep und Techno noch enger zu knüpfen. Einer dieser Produzenten ist Alec Storey alias Al Tourettes, der vergangenes Jahr mit seiner Maxisingle „Dodgem/Sunken“ bei Apple Pips, dem Label des Bristoler Dubstep-Techno-Übervaters Appleblim, das erste Mal eine breitere Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machte. Storeys Techno-Bezugspunkte sind weniger Detroit oder Berlin als die nordenglischen Städte Leeds und Manchester sowie die dort verwurzelte etwas härteren Gangart des Genres. Sehr schön nachvollziehen lässt sich dieser Einfluss auf seiner hervorragenden neuen 12-Inch „The Next Meal/When I Rest I Rust“ (If Symptoms Persist).
Stream: Al Tourettes – When I Rest I Rust
Ebenfalls stark von der englischen Technotradition geprägt, aber wesentlich minimaler als Al Tourettes Musik klingt „Tribtek Pt. 1 & 2“ (Saigon), die erste Platte von Rob Davies unter dem Künstlernamen Orphan101. Auch Davies stammt aus Bristol und war vor seiner Reinkarnation als Orphan dort unter dem Namen Whiteboi als Teil der Dubstep-Crew Hench unterwegs. Zum Umfeld der Londoner Dubstep-Nonkonformisten um Untold, Ramadanman und Co. zählt dagegen ein Produzent mit dem unscheinbaren Künstlernamen Joe. Auf zwei neuen Veröffentlichungen, den Maxisingles „Untitled/Digest“ (Apple Pips) und „Claptrap/Level Crossing“ (Hessle Audio) erhält er die Gelegenheit, seine ansteckende Mischung aus Grime, Percussion-Beats und Houseelementen in gebührendem Umfang ausbreiten zu dürfen. Absolut empfehlenswert.