Das lange braune Haar hängt ihr auf einer Seite luftig über dem Gesicht, schnell streicht sie es mit den Kopfhörern hinters Ohr, bevor sie sich wieder ihren Platten widmet. Konzentriert bespielt sie die Turntables, ehe ihr strahlender Blick ins Publikum wandert, sie die Kopfhörer wieder absetzt und beide Arme in die Luft wirft.
Innerhalb kürzester Zeit hat die derzeit in Berlin lebende Ogazón eine so steile Karriere nach oben hingelegt, wie es sich andere DJ-Noviz:innen nicht einmal in ihrer Fantasie ausmalen können. Sie steht für ein Soundverständnis, das in den letzten Jahren immer rarer wurde, spielt mitunter oldschooligen Techno und House und lässt die Mixtur trotzdem frisch klingen.
Einer bestimmten musikalischen Richtung folgt sie bei ihrer Auswahl trotzdem nicht und bedient in ihren Sets lieber Gefühlsebenen als Kategorien. Ogazón schlägt Brücken zu Minimal, spielt mit progressiven Trance-Elementen, begibt sich auf Klangreisen in ferne Länder und huldigt ihren spanischen Wurzeln auch mal mit Guaracha-Einflüssen. Das führt logischerweise dazu, dass sie 2022 in so ziemlich jedem musikalischen Kontext funktionierte.
Mittlerweile packt sie ihren Plattenkoffer nicht nur für europäische Festivalbühnen oder große Club-Floors, sondern spielt sogar auf dem luxemburgischen Nationalfeiertag. Was es damit auf sich hat, wie ihre Passion für Schallplatten entstand und wie sie sich im europäischen Tourzirkel festgespielt hat, erzählte Nathalie F., die ihren Nachnamen zum Schutz ihrer Privatsphäre nicht preisgeben will, unserer Autorin Celeste Lea Dittberner bei einem Besuch in der GROOVE-Redaktion in Kreuzberg.
Wie bei vielen Künstler:innen liegt der Ursprung ihres künstlerischen Schaffens auch bei Nathalie in der Kindheit und Jugend. Gemeinsam mit ihren Eltern habe sie schon immer viel Musik gehört oder Jazz- und Klassische Konzerte besucht, allerdings nie selbst ein Instrument gespielt, „also nicht wirklich”, ergänzt sie schmunzelnd – „nur so ein bisschen mit Klavier und Gitarre herumexperimentiert.”
Von der Ästhetik von Platten sei sie aber schon immer fasziniert gewesen. Eigentlich fing alles damit an, dass sie irgendwann mal durch die Classic-Rock-Sammlung ihres Großvaters stöberte. Unpraktisch nur, dass sie damals gar keinen Plattenspieler besaß – erst als sie 15 Jahre alt wurde, bekam sie das lang ersehnte Geschenk. In diesem Moment war sie „die glücklichste Person ever”. Warum sie Vinyl so angezogen hat, wisse sie gar nicht so genau, wahrscheinlich wegen des „ganzen Hypes um Vintage und Läden mit coolen Plattencovern”. Sie erinnert sich jedenfalls genau daran, wie schön es war, „endlich mal die Nadel auf die Platte zu legen und etwas zu hören”, am liebsten die neuesten Indie-Rock-Alben.
„Man muss sich halt trauen und diesen Sprung schaffen. Es muss auch nicht smooth sein.”
Auflegen hatte sie eigentlich nie so richtig auf dem Schirm. Ihren ersten richtigen Berührungspunkt damit hatte sie erst mit 19 in den Niederlanden, nachdem sie für ihre Studienzeit nach Amsterdam zog. Damals habe sie nicht besonders viel geschlafen und ihre Nächte in den Amsterdamer Clubs verbracht. Die dröhnenden Bässe, die Lichtspiele, die Fusion verschiedener Gefühle habe sie von Anfang an geliebt, wie sie demonstrativ betont.
Cheesy Träume, große Gigs
Nachdem sie zum ersten Mal ins Berliner Nachtleben eingetaucht ist, wurde ihr schnell bewusst, dass sie selbst Teil der Szene werden möchte. Das Vorhaben brannte sich so stark in ihre Gedankenwelt, dass sie sogar anfing, davon zu träumen: „Boah, ich habe geträumt, dass ich in der Panorama Bar aufgelegt habe”.
Geträumt übrigens im wahrsten Sinne des Wortes, und das repetitiv: Den Traum hatte sie so oft, dass sie es selbst schon kaum mehr glauben kann, als sie mir die Story anvertraut und prompt anfängt zu lachen: „Mann, klingt das cheesy, wenn ich das sage!” Ihr Freundeskreis jedenfalls hat die kleine Anekdote zum Anlass genommen, ihr zum 22. Geburtstag zwei CDJs-400 und einen Mixer mit der Nachricht „Damit du auch irgendwann mal deinen Traum erfüllen und in der Panorama Bar spielen darfst” geschenkt.
Und das durfte sie, nicht nur einmal übrigens, und darüber hinaus in zahlreichen weiteren renommierten Clubs in ganz Europa, wie unter anderem dem Offenbacher Robert Johnson, den Lissabonner Arroz Estúdios oder dem Münchner Blitz. Für ihre ersten ganz großen Gigs habe sie nur ganz besondere Platten ausgewählt, erklärt sie, diejenigen, die sie schon seit einer Ewigkeit nur dafür gesammelt hat, diejenigen, die nirgends sonst gespielt werden durften. Oftmals Fundstücke, die sie von einer Reise mitgebracht oder auf einem unscheinbaren Flohmarkt entdeckt hat.
Nochmal zurück zu Ogazóns Frühphase als DJ in Amsterdam. Nachdem sie sich eine Zeitlang an den neuen CDJs ausprobiert hatte, überkam sie die Langeweile. Grund dafür: Alles sei einsehbar, vorprogrammiert und zu einfach. Um das zu ändern, habe sie kurzerhand die BPM-Anzeige überklebt. Sie wollte lernen, ihrem Gehör zu vertrauen und es zu trainieren. Als sie die Chance bekam, sich die Plattenspieler eines Freundes auszuleihen, dachte sie sich: „Es ist zwar cool, mit diesem Plastikgerät hier rumzuspielen, aber ich würde lieber mit Platten spielen, ich habe ja welche zuhause.”
Ihren ersten Vinyl-Gig hatte sie an einem Abend für Studierende in der Sugar Factory in Amsterdam, davor hat sie bisweilen auf privaten Feiern mit CDJs gespielt. Sie erzählt, dass sie froh darüber sei, diesen Schritt relativ schnell gemacht zu haben, nachdem sie mit dem Auflegen angefangen hat: „Man muss sich halt trauen und diesen Sprung schaffen. Es muss auch nicht smooth sein.” Ihr sei sehr wohl bewusst, dass sie in diesen anderthalb Stunden viele Fehler gemacht habe. Dafür sei der Club perfekt gewesen, denn „zum Opening war eh kein Mensch da. Beziehungsweise die, die da waren, waren eh alle betrunken, deshalb war es denen egal”, erinnert sie sich schmunzelnd. Diese Nacht habe ihr geholfen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, sich weiterzuentwickeln und zu lernen, „auf einem Club-Soundsystem zu spielen.” Allerdings betont sie belustigt, dass sie äußerst froh darüber sei, „dass das Set nirgendwo aufgenommen wurde, weil sie sich das echt nicht gerne anhören würde.”
Die Sugar Factory reichte irgendwann nicht mehr aus, und so bewarb Ogazón sich um einen Slot bei HÖR. Nachdem sie im September 2020 zum ersten Mal zu Besuch im gekachelten Raum war, ging ihr Set extrem durch die Decke. Das liegt daran, dass sich ihre Sets nicht nur voneinander unterscheiden, sondern auch in der Musikauswahl äußerst vielfältig sind – mal mit Einflüssen spanischer Volksmusik, einem leichten New-Wave-Touch, Minimal-House und plötzlich doch wieder perkussivem Techno mit ordentlich Wumms. Ihre Bandbreite ist erstaunlich groß.
Wie kommt es dazu, dass sie so viele Stile bedienen kann? Sie beantwortet die Frage, indem sie mir erzählt, dass sie unter der Woche eigentlich fast gar keine elektronische Musik anhöre, sondern eher „irgendwelche skurrilen Mixtapes” oder NTS-Radio-Sets. Daraus schöpfe sie am meisten Inspiration. Man könne immer wieder neue Subgenres aus fernen Ländern entdecken, obwohl sie, wenn sie digge, eher spezifisch nach elektronischer Musik sucht.
Damals habe sie erst nach einem halben Jahr einen freien Slot bei HÖR bekommen, dementsprechend aber genug Zeit gehabt, um sich zu organisieren: „Ich war richtig gut vorbereitet und wollte mal eine andere Seite zeigen, weil ich nicht nur House spiele, sondern auch technoiden Sound.” Mittlerweile hat das Set rund 400.000 Views auf Youtube.
„Ich hatte immer das Gefühl, ich muss zurück nach Berlin. Ich fühle mich hier einfach wohler als in Amsterdam”
Nach dem enormen HÖR-Erfolg wurde sie von der Agentur This is Fun aufgenommen. Eine Berliner Agentur. Für sie sei das ein klarer Vorteil, da sie selbst in der Stadt wohnt, von der sie übrigens schon immer fasziniert war, erzählt Ogazón. Während sie Business Administration in Amsterdam studierte, fand sie in Berlin ein Praktikum in einer PR-Agentur für elektronische Musik. Ab dem Zeitpunkt war sie mitten im Geschehen der Branche, lernte viele Leute aus der Clubkultur und Musikszene kennen und fasste den Entschluss, direkt nach dem Studium nach Berlin zu gehen. Zurück nach Luxemburg zu ziehen, steht hingegen bis heute nicht zur Debatte.
„Die denken halt direkt an David Guetta”
Ob dort überhaupt eine Clubkultur existiert? „Nicht wirklich”, antwortet Ogazón nachdenklich. Sie registriert zwar, dass viele kleine Festivals stattfinden und es schon einen kleinen Markt für elektronische Musik gibt, nur eben nicht so stark ausgeprägt wie in anderen großen Städten. Sie wäre bestimmt auch häufiger in Luxemburg, wenn da etwas mehr gehen würde. Sie selbst geht nämlich gerne tanzen – tagsüber liebt sie es, „ein bisschen zu Housemusik oder whatever rumzugrooven, abends schon eher Techno.”
Ich erkundige mich, ob sie schon mal in ihrer Heimat Luxemburg gespielt hat. Witzigerweise hatte sie ihren ersten Gig dort gerade erst dieses Jahr. Plötzlich lag eine Anfrage der luxemburgischen Regierung im Postfach, ob sie nicht Lust hätte, am Nationalfeiertag am 23. Juni zu spielen. Alljährlich beginnen die Feierlichkeiten mit Fackelumzügen, einer Wachablösung und einem Feuerwerk und enden als große Open-Air-Party mit DJs und Konzerten. Das war auf einer „riesigen Stage vor 10.000 Leuten auf dem Main Square.” Und dazu noch „auf der Helene-Fischer-Bühne, die sie immer auf ihre Touren mitschleppt”, sei ihr gesagt worden. Helene Fischer hat also ihre eigene Bühne? Interessant.
Vor Ogazón hat Alle Farben gespielt, und zwar „richtig kommerziell, mit Konfetti-Bomben und Saxofonisten und Sängern auf der Bühne”, und „die Leute haben es gefeiert”. Das habe sie vor ihrem Gig sehr verunsichert, schließlich spiele sie einen komplett anderen Sound, auch wenn sie für die Veranstaltung extra „ein bisschen cheesigere Sachen” und ein paar Hits gespielt habe. Da die elektronische Musikszene in Luxemburg nicht besonders groß ist, denken die meisten „halt direkt an David Guetta”, wenn sie davon erfahren, dass man DJ ist.
„Würde ich so einen Gig dann überhaupt spielen wollen, wenn das wirklich der Grund ist, warum sie mich nicht booken? Eigentlich nicht.”
Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht erzählt sie, dass sogar ihre Eltern kamen, was ihr persönliches Highlight gewesen sei. Hätten die beiden früher noch gedacht, dass es sich beim DJing nur um ein kurzlebiges Hobby handle – immerhin studiere sie ja an einer Hotelschool in Amsterdam – sei ihnen bei dem Gig bewusst geworden, dass ihre Tochter damit tatsächlich Geld verdient. Noch schöner sei es allerdings gewesen, die beiden „vorm DJ-Pult grooven zu sehen.”
Relation und Kombination
Ein weiteres Hobby von ihr ist die Fotografie. Bestaunen kann man die Ergebnisse in ihrem Instagram-Feed. Häufig verbindet sie die minimalistischen Detailaufnahmen von Bauwerken oder Schattenspielen mit ihrer Musik. Sie erzählt, dass sie gerne Parallelen zwischen Sound, Rhythmus und visueller Ästhetik ziehe. Überall versuche sie, ästhetische Muster und Zusammenhänge zu sehen oder selbst neue entstehen zu lassen: „Es gibt eine kleine Korrelation. Deswegen habe ich mich dazu entschlossen, nebenbei nicht auch noch einen DJ-Account zu machen, weil die Fotos, die ich schieße, auch zu meiner Kunst gehören und ich das interlinken kann. Wenn man die Fotos sieht und dazu die Musik hört, erkennt man vielleicht einen roten Faden.”
Ogazón möchte ihren Feed auch gar nicht mit DJ-Pics fluten. Davon gebe es schon genug, außerdem wolle sie auch nicht so viel von sich preisgeben. Ob das der richtige Weg ist? Manchmal befürchte sie, sich damit selbst Steine in den Weg zu legen. Sie erzählt, dass sie ganz genau wisse, dass sie manche Gigs nicht bekommen hat, weil sie in den sozialen Medien nicht präsent genug ist und sich dementsprechend zu wenig promotet. Andererseits stelle sie sich die Frage: „Würde ich so einen Gig dann überhaupt spielen wollen, wenn das wirklich der Grund ist, warum sie mich nicht booken? Eigentlich nicht.”
Ihr ist es wichtig, aufgrund ihrer musikalischen Expertise gebucht zu werden – und nicht aufgrund ihres Geschlechts, ihres Aussehens oder ihrer Wurzeln. Bei Social Media gehe es leider genau darum – ihr sei das alles zu viel Zurschaustellung. Aus diesem Grund habe sie auch den Namen Ogazón ausgewählt, erklärt sie. Er ist unisex.
Gleichberechtigung und Objektivität werden in der Branche leider stets vernachlässigt. Ogazón versucht trotzdem, so gut sie kann, dagegen anzugehen – indem sie den Fokus nur auf die Musik lenkt und eben diese gewisse Anonymität bewahrt.
Vielleicht ja irgendwann mal im Rahmen eines eigenen Labels? Das sei zweifelsohne ein weiterer großer Traum und garantiert der nächste Schritt. Zuvor müsse sie sich aber erst mal das Produzieren beibringen, erklärt sie lachend. Eigene Releases zu veröffentlichen steht ganz oben auf ihrer Agenda.
Learning By Doing
Nach dem Lockdown hat sich Nathalie F. beruflich noch einmal komplett neu orientiert und eine Weiterbildung als Developer gemacht, um bei einer Software-Firma arbeiten zu können. Dafür hat sie sich innerhalb eines halben Jahres Coding angeeignet. Natürlich werde ihr als Software-Entwicklerin viel abverlangt, es sei nun mal learning by doing, sagt sie. Vieles lernt man erst, wenn man schon mitten im Prozess steckt.
Das macht es manchmal kompliziert, ihre Gigs und ihren Job unter einen Hut zu bringen. Montags hat sie immer frei, um sich nach einem durchgespielten und durchtanzten Wochenende zu regenerieren. Außerdem brauche sie es als Pendant zum Auflegen, sich durch ihren Beruf auch intellektuell weiterzubilden. Durch den Job habe sie die finanzielle Freiheit, nur die Gigs auszuwählen, auf die sie wirklich Lust hat. Und: Sie kann sich neue Platten leisten. Darunter auch superviele, die ihr einfach nur gefallen und die sie liebevoll „Listening-Pleasure-Platten” nennt.
Jetzt, da wir uns so viel über Vinyl unterhalten haben, möchte ich zu guter Letzt natürlich wissen, wo sie am liebsten Platten kaufen geht und ob es Stores gibt, die sie präferiert. Bikini Wax finde sie richtig „nice”, weil dort viel Second Hand verkauft wird. Ihre ganz persönliche kleine Perle sei allerdings Kimchi Records in Neukölln, dort gehe sie am liebsten hin, wenn sie auf der Suche nach Zweitausender- und Neunziger-Oldschool-Techno ist.
Und wer weiß, vielleicht lassen sich ja in nicht allzu ferner Zukunft auch eigene Platten von Ogazón in den umliegenden Record Stores finden, in Planung ist das ja bereits. Zunächst überquert sie jedoch die europäischen Grenzen und weitet ihre Touren auf ferne Kontinente aus. Ein weiterer Traum von Ogazón, den sie ambitioniert umgesetzt hat, ohne sich den typischen DJ-Konventionen zu beugen. Erstaunlich, so viele diverse Projekte gleichzeitig zu meistern, aber genau das ist eben die Fähigkeit, die sie ausmacht – unterschiedliche Dinge miteinander zu vereinen, ob verschiedene Musikgenres in ihren Sets oder berufliche Vorhaben. Was auch immer sie sich vornimmt, sie setzt es mit einem Lächeln im Gesicht um.