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[REWIND2025] Raver-Gottesdienste in Zürich: „Wir kennen keine Beichte”

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Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks 2025. Alle Beiträge findet ihr hier.

Den ersten Artikel unseres Zweiteilers zu Rave und Religion findet ihr hier.

Immer mehr Kirchen veranstalten „Techno-Gottesdienste”, um junge Menschen zu Jesus zu bringen. Pünktlich zur stillen Zeit charakterisiert GROOVE-Redakteur Christoph Benkeser dieses seltsame Spektakel zwischen Rave und Ratlosigkeit. Der erste Beitrag gab einen Überblick über das Thema, nun kommt der Zürcher Kirchenparty-Aktivist Christoph Schneider zu Wort.

Zürich, Stadt der Versicherungen und gut geölten Mittagsmeetings. Aber auch: Austragungsort der größten Technoparade der Welt. Seit einigen Jahren findet als Begleitprogramm der Street Parade zudem ein sogenannter Raver-Gottesdienst statt. Das mag erst mal so klingen, als hätte Zwingli, der Zürcher Bibelreformator, schon im 16. Jahrhundert von der Afterhour geträumt. Aber Christoph Schneider, Ideenschöpfer der Kirchenpartys, weiß: „Wir müssen als Kirche dorthin, wo die Leute sind.”

Flankiert von Pfarrer Johannes Block veranstaltete man 2025 zum vierten Mal den „Raver-Gottesdienst” in der Zürcher Wasserkirche. Und: es funktioniert. Zuletzt kamen fast 1.000 Menschen, um zu „tanzen, zu lachen und zu beten”, wie Schneider sagt. GROOVE-Autor Christoph Benkeser hat mit ihm in Zürich gesprochen und unter anderem gefragt, ob man als Raver in den Himmel kommt.

Herr Schneider, was ist schlimmer: einem Kirchenvorstand Techno zu erklären oder einem Raver die Reformation?

Christoph Schneider: Na, ich erkläre dem Raver ja nicht die Reformation – er kommt nur zum Tanzen, ich nicke ihm zu, und das war es.

Und der Kirchenvorstand?

Dem erkläre ich den Rave auch nicht. Sehr wohl aber, warum die Kirche das machen soll. Das hat zu Beginn natürlich Diskussionen ausgelöst, nach dem Motto: Nackte, besoffene, verkokste Leute, die zu Krach tanzen, sollen zu uns in die Kirche kommen? Ich habe aber mit einer Gegenfrage geantwortet: Wo steht in der Bibel, dass man in der Kirche nur Orgelmusik vor sitzenden Leuten über 60 spielen darf? Darauf habe ich nie eine Antwort bekommen.

Also, haben Sie gedacht, ändern wir das?

Mein Gedanke war: Wir gehen dorthin, wo die Leute sind. Darüber habe ich mit dem Veranstalterverein der Street Parade gesprochen. Ursprünglich war der Vorstand dagegen, weil man kirchlich neutral auftreten will. Daraufhin habe ich einen interreligiösen Gottesdienst aufgezogen, mit einem evangelischen und katholischen Pfarrer sowie einem Imam. Nach Corona haben wir aber gesagt: Wir konzentrieren uns einfach auf die Jugend, die bringt ihre Religion sowieso mit.

Auf dem Raver-Gottesdienst ist der Pfarrer auch Star (Foto: Reformiert Zürich)

Sie haben bereits die Orgel erwähnt. Zwingli, der erste Zürcher Reformator, hätte die Orgel einst fast aus der Kirche verbannt. Sie holen jetzt den DJ hinein. Sehen Sie sich als Anti-Ch…?

Kann man so sagen, aber: In allen reformierten Kirchen und über die Jahrhunderte gab es dennoch Orgeln bei den Evangelisten. Wir sind also nicht die Ersten, die wieder Musik machen.

Sind Raver leichter zu missionieren als Konfirmanden?

Na ja, die Leute kommen nur herein, tanzen, sprechen ein Vaterunser und erhalten den Segen, bevor sie wieder gehen. Das hat mit Missionieren nichts zu tun. Außerdem kommen die Leute natürlich nicht nur für den Gottesdienst zu uns. 

Weswegen kommen sie dann?

Am Tag der Street Parade gehen Zehntausende Menschen an der Wasserkirche vorbei. Sie kommen aber nicht einfach in die Kirche. Deshalb arbeite ich mit vier bis fünf Cheerleader:innen zusammen – junge, extrovertierte Leute, die die Vorbeiziehenden hineinlocken.

„Die Idee habe ich sicher nicht beim Bibelstudium gehabt.”

Das hat zuletzt gut funktioniert, es waren fast 1.000 Leute in der Kirche.

Ja, es gab sogar Warteschlangen. Als Ökonom weiß ich: Wenn die Nachfrage höher ist als das Angebot, macht man etwas richtig.

Die Leute stehen also an wie vor dem Berghain?

Ja, doch. Wir hatten sogar Türsteher, die den Einlass kontrolliert haben.

Was ist der Türsteher dann? Das Letzte Gericht?

Die Frage ist weniger ein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-als-auch. 

Der Türsteher ist also auch das Letzte Gericht?

Ja, ja. Jedenfalls erzeugt so eine Schlange immer eine gute Neugier.

In den Himmel kommen aber auch nicht alle, oder?

Na, da sind wir in der Wasserkirche schon wegen der Feuerpolizei begrenzt. Es dürfen nur ein paar Hundert auf einmal herein. Der Rest muss draußen warten.

Rave, Zaubershow, Segen! (Foto: Reformiert Zürich) 

Wann kam Ihnen eigentlich die Idee zum Raver-Gottesdienst – beim Bibelstudium oder beim Bass auf der Street Parade?

Sicher nicht beim Bibelstudium. Allerdings leite ich seit Jahren den Freundeskreis Grossmünster. Er entstand um 2017. Damals kam es zu einer Zentralisierungsbewegung der Kirchengemeinden in Zürich. Viele Mitglieder des Grossmünsters hatten das Gefühl, dass man dadurch die Identität verliert. Ich baute daraufhin den Freundeskreis auf, aus dem bald der erste Raver-Gottesdienst hervorging.

Warum gerade Rave?

Ich bin inzwischen pensioniert und beschäftige mich ehrenamtlich nur noch mit Dingen, die mich interessieren. Gleichzeitig bin ich offen für Neues. Damals war ich bei der Street Parade, sah die Menschen, hörte die Musik. Da kam mir die Idee.

Christoph Schneider hat den Raver-Gottesdienst erfunden (Foto: Grossmünster Zürich)

Eine göttliche Eingebung?

Es gibt jedenfalls keinen biblischen Hintergrund.

Vielleicht ist das ganz gut, oder? Was denken Sie, wenn nach dem Gottesdienst jemand direkt neben der Kirche eine Line zieht?

Ich fände das nicht gut. Allerdings bleibe ich hier im Konjunktiv, denn: Die Street Parade beginnt immer am Nachmittag. Davor darf keine Musik ertönen – außer in der Kirche. Die Leute sind also bereits am Vormittag bei uns. Da ist ihnen noch nicht nach Koks zumute.

Das war aber nicht die Frage.

Ja, gut. Würde jemand vor der Kirche eine Line ziehen, würden wir sie freundlich, aber bestimmt wegweisen. Allerdings habe ich bisher keine einzige Situation erlebt, in der es so gewesen wäre.

Fast 1.000 Menschen kamen 2025 zum Raver-Gottesdienst (Foto: Reformiert Zürich)

Es kommt auch niemand, der seine, ich sage mal, Sünden beichten möchte?

Doch, immer wieder! Als reformierte Kirche kennen wir aber keine Beichte. Die Leute – es waren eigentlich immer Italiener – wollen dann vom Pfarrer gesegnet werden. Das macht er natürlich auch, direkt auf dem Dancefloor.

„Manche halten sich die Finger in die Ohren wegen des Krachs, ich meine: wegen der Musik.”

Sie sind der Erfinder des Formats. Hätten Sie Angst, dass Ihnen jetzt jemand das Patent klaut – zum Beispiel die Katholiken?

Wenn dem so wäre, hätte ich die größte Freude! Gute Sachen werden nämlich immer kopiert. Allerdings behaupte ich, dass die Katholiken konservativer sind als wir. Vom Gegenteil müssten sie mich zuerst überzeugen.

Dabei gäbe es ja viel Vergleichbares: Im Rave suchen manche den Moment, in dem man sich selbst vergisst. In der Kirche spricht man von Transzendenz. Wer klaut hier eigentlich wessen Geschäft?

Es klaut niemand niemandem irgendetwas, es ist eher eine Ergänzung, eine Synergie! Aber: Wenn nach dem Rave alle Versammelten das Vaterunser sprechen, hat das etwas Besonderes. Gerade auch, weil mehr junge Leute da sind als sonst.

Und die Älteren?

Die kommen auch. Manche halten sich die Finger in die Ohren wegen des Krachs, ich meine: wegen der Musik. Aber sie sehen auch, dass diese Gottesdienste etwas Verbindendes haben.

Zum Abschluss, unter uns: Ist Gott wirklich ein DJ?

Wenn Gott ein Pfarrer ist, dann kann er auch DJ sein.

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