Am 22. Juli lädt die international aktive Techno-Reihe Unreal zu ihrem bisher größten Rave – leider an eine historisch höchst umstrittene Location in Leipzig. GROOVE-Autor und Frohfroh-Redakteur Jens Wollweber erklärt, was an der Veranstaltung falsch ist.
„This is totally insane”, mit diesem Satz kündigt der Kölner Veranstalter aus dem Umfeld des Bootshauses sein bisher größtes Event überhaupt an. Mehr als 10.000 Besucher:innen werden erwartet, wenn international renommierte Big-Room-Artists wie Klangkünstler, Amelie Lens und Kobosil vor einem der bekanntesten Wahrzeichen Leipzigs ihre düster-peitschenden Techno-Tracks loslassen: dem Völkerschlachtdenkmal. Auf den ersten Blick ist das Unreal-Open-Air für viele sicher ein Highlight im Kalender dieses Leipziger Rave-Sommers – zumal das Th!nk? Festival am Cospudener See in diesem Jahr aufgrund gestiegener Produktionskosten ausfällt.
Überhaupt: Kultur und Konzerte im und am „Völki”, wie das Denkmal von den Leipziger:innen gern verniedlicht wird, sind nichts Neues. Mainstream-Acts wie Die Fantastischen Vier, Elton John und Scooter traten vor der historischen Kulisse bereits ebenso auf wie Paul Kalkbrenner. Im Rahmen des bisher einmal veranstalteten „Monument Open Airs” spielte er im Sommer 2022 mal wieder live in seiner Geburtsstadt. Business as usual also? Keineswegs. Denn niemand inszeniert sein Event am Völkerschlachtdenkmal in solch heroisch-kriegerischer Art wie Unreal.
Das erste Promo-Video auf Instagram ist mit Gockels „Lucifer” unterlegt, einem Track von 2017, in dem ein elegisch-sakraler Chor ganz erwartbar von 140+-BPM schnellen Bassdrums abgeholt wird. Um ein 3D-Rendering des Denkmals erheben und drehen sich schwere Metallketten mit scharfen Haken, plötzlich rotes Alarm-Flackern. Darüber in altdeutscher Schrift: „Unreal Open Air”, darunter in Versalien: „VÖLKERSCHLACHT”. Oh ja, „this is totally insane!” Aber weniger, weil hier mit viel Professionalität und Pathos ein Mega-Rave auf die Beine gestellt wird, sondern weil die Unreal-Crew bei ihrer Suche nach einer TikTok- und Instagram-tauglichen Off-Location offensichtlich wenig geschichtssensibel vorgegangen ist. Auch wenn die Event-Ästhetik nahtlos in das dystopisch-martialische Branding der anderen Unreal-Partys passt – das Völkerschlachtdenkmal ist kein x-beliebiger Ort.
Ein Koloss des deutschen Nationalstolzes
Um es einmal deutlich zu machen: Das Völkerschlachtdenkmal wurde am Vorabend des Ersten Weltkriegs eingeweiht. Exakt 100 Jahre nach der zentralen, mythisch-überhöhten Schlacht in Leipzig, bei der Preußen, Russland, Österreich, Schweden und andere Staaten die französische Armee unter Napoleon zurückdrängen konnten. Diese sogenannte Völkerschlacht mit mehr als einer halben Million Soldaten und rund 100.000 Gefallenen und Verwundeten gilt als eine der größten der gesamten Weltgeschichte.
Viel unangenehmer als diese eh schon düstere Kriegsgeschichte ist die Entstehung des Völkerschlachtdenkmals. Bereits kurz nach der Schlacht brachte der deutsch-nationalistische und antisemitisch publizierende Lyriker Ernst Moritz Arndt die Idee eines Denkmals auf. Es dauerte dann aber noch mehr als 80 Jahre, bis es tatsächlich angegangen wurde. Sein Bau fiel in eine Zeit, in der das Deutsche Reich als Monarchie und ehemals politisch-kultureller Underdog selbst seine nationale Stärke und Einheit heraufbeschwor – und in der Antisemitismus, Kolonialismus und übersteigerter Patriotismus Hochkonjunktur hatten.
Vielmehr scheint hier der weiter wachsende Rave-Mainstream mit der klischeehaften Überzeichnung eines harten Techno-Armageddons zusammenzuprallen.
Als das Völkerschlachtdenkmal am 18. Oktober 1913 feierlich im Beisein von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde, blickte das Deutsche Reich voller Stolz auf die gewonnene Schlacht bei Leipzig. Mit seinen 91 Metern Höhe stand hier von nun an nicht nur Europas höchstes Denkmal, hier steht bis heute ein 300.000 Tonnen schwerer Koloss des deutschen Nationalpatriotismus – ein Zeichen an die Welt, die nur wenige Monate nach seiner Einweihung eine ganz andere war.
Gern gewählte Kulisse von (Neo-)Nationalsozialisten
Gestaltet hat das Völkerschlachtdenkmal der Berliner Architekt Bruno Schmitz – er war bestens vertraut mit monumentalen Denkmälern in Deutschland. Auch die Kaiser-Wilhelm-I.-Denkmäler am Kyffhäuser und Deutschen Eck in Koblenz stammen von ihm. Sein Mahnmal an die Völkerschlacht ist voller – damals schon – anachronistischer Symbole eines kriegerischen Heldentums. In einem 19 Meter breiten Relief wird die Grausamkeit der Schlacht dargestellt. In der Mitte thront eine riesige Statue des Erzengels Michael – in rechten Kreisen das Leitbild einer kriegerisch-deutschen Männlichkeit. Ganz oben auf der Kuppel halten mehrere zwölf Meter hohe Ritterstatuen Totenwache. In der Ruhmeshalle erinnern neun Meter hohe Steinfiguren an die Tugenden Tapferkeit, Volkskraft, Opferfreudigkeit und Glaubensstärke. Und vor dem Denkmal erstreckt sich ein großes Wasserbecken – der See der Tränen. Kurzum: Bruno Schmitz zog Anfang des 20. Jahrhunderts im Auftrag des Deutschen Patriotenbundes wirklich alle Register nationalistisch-triefender Symbolik.
Kein Wunder also, dass auch die Nationalsozialisten – und besonders Adolf Hitler – das Völkerschlachtdenkmal gern als Kulisse für Leipzig-Aufenthalte, Massenaufmärsche mit Hakenkreuz sowie für Vereidigungsfeiern der NSDAP und der Wehrmacht nutzten. Mit seiner Kriegsglorifizierung bot es die perfekte Projektionsfläche für die damaligen Großmachtfantasien. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die DDR erst, sich des Denkmals zu entledigen, schaffte aber nicht, es final zu zerstören. Stattdessen wurde es später zum Symbol deutsch-russischer Verbundenheit umgedeutet. Nach der Wende kam das „Völki” wieder zurück auf den Radar nationalistischer Gruppen. Immer wieder wurde es zum gern gewählten Versammlungsort von Neonazis.
Geschichtsvergessenes Effektheischen
Genug Gründe also, die für einen sensiblen Umgang mit diesem zweifelsohne imposanten Monument sprechen. Vor allem für Promoter mit riesiger internationaler Reichweite auf Instagram und TikTok. Und die DJs selbst? Laut eines Artikels der Jungle World äußerte sich Klangkuenstler auf Social Media, dass es ihm eine Ehre sei „vor diesem Denkmal auftreten zu dürfen” – inklusive Likes von Amelie Lens. Scheinbar wurde dieser Kommentar aber wieder offline genommen. Bei Instagram lässt sich das Event-Posting auch nicht mehr kommentieren – eine potenziell kritische Auseinandersetzung scheint also nicht erwünscht zu sein.
Nun der gesamten Techno-Szene Politikverdrossenheit vorzuwerfen – wie ebenfalls in der Jungle World geschehen – wird jedoch dem nicht unerheblichen Teil an politisch aktiven Club-Akteur:innen auch nicht gerecht. Vielmehr scheint hier der weiter wachsende Rave-Mainstream mit der klischeehaften Überzeichnung eines harten Techno-Armageddons zusammenzuprallen. Heraus kommt ein geschichtsvergessenes Effektheischen. Äußerst schwierig – zumal es in Leipzig und Umgebung genug andere spannende Off-Locations gibt.