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Juni 2023: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Jayda G – Guy (Ninja Tune)

Viel ist passiert bei Jayda G seit ihrem letzten und ersten Album Significant Changes von 2019. Im Jahr vor und nach der Pandemie konnte sich die Kanadierin ziemlich schnell in die oberen Kreise des internationalen DJ-Circuits spielen, überzeugte Fans und Kritiker:innen gleichermaßen mit ihrer quirligen und authentischen Art – sei es in housigen DJ-Sets oder mit Pop flirtenden Produktionen.

Das neue Album geht in dieselbe Richtung, spielt noch mehr mit Pop-Sensibilitäten und featuret Jaydas Stimme prominent. Dabei sind die Produktionen immer noch druck- und klangvoll genug für einen Dancefloor. Der Hintergrund des Albums ist allerdings die Geschichte ihres verstorbenen Vaters William Richard Guy, der ein nicht immer leichtes Leben gelebt hat. Entlanggehangelt an Archivaufnahmen seiner Stimme, spinnt seine Tochter also Tracks, die von der Rückkehr aus dem Vietnamkrieg erzählen, den Rassenunruhen von 1968 in D.C. sowie einem neuen Leben in Kanada. Auch wenn die Themen mit Tod und Trauer nicht leicht besetzt sind, schafft es Jayda G, das Album vor allem hoffnungsvoll klingen zu lassen. Selbst wenn es in „Scars” um Reibereien mit Schlägern aus Kansas geht, macht sie das zu einem erhebenden House-Song, der gekonnt Elemente aus Disco, Soul und R’n’B mit einfließen lässt.

Mit diesem Album hebt sich Jayda G gekonnt vom Status der Underground-Produzentin in Richtung Pop-Olymp und entwickelt gleichzeitig ihren eigenen Stil weiter, ohne sich kommerzialisiert anzuhören. Im Gegenteil: es ist es ihre eigene Art, Storytelling und persönliche Geschichte mit ihrem musikalischen Ausdruck zu verbinden. Leopold Hutter

Kubus x Sluwe – Virtual Excursion (Native Swamp)

Koppelt die Wohnwägen ab, diese holländische Koproduktion klompert über den Strand von Zandvoort und hinein ins Tulpenparadies. Kubus und De Sluwe Vos, zwei Producer mit Tandem-Teamgeist, verbrüdern sich im Grachtengeiste und machen fünf Bänger fürs Massaker auf der Mainstage los.Dort passen die „Traks” hin wie geklaute Straßenschilder in das Wohnzimmer von Sechser-WGs. Deep wie ein Drogentrip im Dungeon wird’s leider nur auf der „4”. Ansonsten brüllt einem die Spontan-Ekstase ins Ohr: Geht scho, gemma floorwärts! Na ja, dass zwischen dem Geböller das Wasser pritschelt, es knistert und keift, als stünde man in einem dieser tollen austauschbaren Ausstellungsräume zwischen Bottrop und Berghain, ist – Knick-Knack – auch schon egal. Für die wöchentliche Werktags-Euphorie reicht Virtual Excursion auf jeden Fall. Ob das aber wirklich der „unique Sound” sei, den Sluwe „noch nie” in seinem Leben gehört haben will, könnt ihr selbst entscheiden. Beim Abkoppeln, zum Beispiel. Christoph Benkeser

Levon Vincent – Work In Progress (Novel Sound)

Zwei Stunden House. Für sein aktuelles Album verzichtet der New Yorker Produzent Levon Vincent auf ein übergeordnetes Konzept und präsentiert wie bei einem DJ-Set Clubtracks, die sich ohne unnötigen Zierrat darauf konzentrieren, Leute zum Tanzen zu bringen. Mit 140 BPM bewegt er sich für das Genre an der Höchstgeschwindigkeitsgrenze, und manche Nummern wie die inhaltsgerecht benannten „Strut Beats” benötigen kaum mehr als einen Drumcomputer, um ihren Zweck zu erfüllen. Das mit den zwei Stunden ist keine Übertreibung, neun der 13 Titel (die knapp siebenminütige Kurzfassung (!) von „Greetings and Salutations” eingeschlossen) dauern über acht Minuten.In den Tracks verlässt sich Vincent auf stabil vorantreibende Grooves, Variationen kommen bei Bedarf hinzu. Manchmal gestattet er seinen Synthesizern hymnische Akkordfolgen, wenngleich er es auch dabei meistens streng reduziert hält. Banger wie „Carena” sind ebenso im Angebot, wie Vincent prinzipiell auf Work In Progress der Ekstase Vorschub leistet. Energie und Euphorie sind reichlich vorhanden, bloß in einzelnen Fällen kann man sich streiten, ob man das Ergebnis konsequent oder eine Spur zu spröde findet. Die ganze Sache soll man ohnehin nicht einfach stur durchhören, sondern eher als Sammlung betrachten, aus der man nach Bedarf auswählt. Dürfte keine Schwierigkeiten damit geben. Tim Caspar Boehme

Lowfish – Grey With Breaks (Suction)

Wenn Musikjournaliste:innen ihre Gefühlsverwirrung in Worte fassen, schreiben sie: Das Instrument atmet, die Musik lebt, alles sei so schön organisch und so weiter. In 110 Prozent der Fälle ist das fetzendeppert, weil: Wie soll so eine 303 nach Luft schnappen? Wo pocht das Herz einer 808? Was ist in deiner Kindheit falschgelaufen? Bevor wir die heutige Therapiesitzung eröffnen, lauschen wir Lowfish und seinem Album Grey With Breaks – 19 kanadische Songs, die atmen und leben und organisch sind. Nein, seriously, keine Verarsche! Hört mal genau hin, was sich da zwischen den Schaltkreisen entwickelt: ein Organismus, mehrere Zellen, Synthese dank 240 Volt!Lowfish, der bärtigste Bartträger von Toronto, forscht seit den späten Neunzigern nach Lebensformen im Schall. Gefunden hat er: zwei Dutzend EPs und acht Alben, die alle unter eigenen Label-Laborbedingungen entstanden sind. Sie enthalten Spuren von Delia Derbyshire, Mort Garson und Aphex Twin. Möglicherweise haben sich auch Tin Man und ein Dopplereffekt ins Petrischälchen verirrt. Wurscht, weil das ohnehin nur billiges Namedropping ist, um der organisch nach Luft hechelnden und ganz und gar lebendigen Gefühlsverwirrung einen Namen zu verpassen. Christoph Benkeser

Om Unit + TM404 – In The Afterworld (Acid Test)

Beide auf dieser Platte vertretenen Künstler haben sich in den letzten Jahren jeweils damit beschäftigt, wie man die klassischen Sounds der TR-303 (im Sprech oft als „Acid” bezeichnet) in alternativen Weisen und besonders an der Schnittstelle zu Dub-Musik einsetzen kann.

Om Unit tat dies mit seiner Reihe Acid Dub Studies und TM404 respektive mit seinem Album Acidub. Beide geben dabei dem Sound des altehrwürdigen Roland-Synthesizers viel Platz, greifen aber auch die Charakteristiken der Dub-Vorlage auf. Das Ergebnis klingt genauso nach Techno und House, wie es unmissverständlich die jamaikanische Blaupause integriert. Dadurch transportiert sich ein Gefühl von Tiefe und Weite, das die elektronischen Elemente fiepend und flirrend mit Maschinenleben füllen.Während TM404 aus dem Techno- und House-Hintergrund kommt und Om Unit in der Vergangenheit prominenter Vertreter von Drum’n’Bass und Jungle war, treffen sich beide hier in der Mitte. Sie einigen sich auf den typischen Acid-Sound im Rampenlicht, umspült von Ambient-Schwaden, Drum-Breaks und schweren Basslines — allesamt von den für Dub prägenden Effekt-Schleifen bearbeitet. BPM und DJ-Strukturen sind dabei nicht so wichtig, viel mehr wird den Tracks genügend Raum zur freien Entfaltung gegeben. In ihren Laufzeiten bleiben die nebulösen Stücke dennoch bescheiden und lassen die meditative LP bereits nach einer guten halben Stunde im Kosmos verhallen. Leopold Hutter

Wrecked Lightship – Oceans and Seas (Midnight Shift)

Die ersten beiden Tracks auf Oceans and Seas lassen ein weiteres gutes Breakbeat-Album zwischen Post-Dubstep und Drum’n’Bass erwarten, was bei der Vergangenheit der beiden Künstler:innen hinter Wrecked Lightship, Laurie Osborne und Adam Winchester alias Appleblim und Wedge, keine große Überraschung ist. Doch die folgenden drei Stücke eröffnen einen weit größeren Rahmen in Richtung Listening Electronica mit mal ambienter, mal eher experimenteller Tendenz. Der nächste Track namens „Take It Back” fasst dann die Beats des Beginns und etliche Strömungen der ruhigeren Stücke in einem tollen dubby Breakbeat-Tune zusammen, der zum Höhepunkt des Albums wird – anfangs scheinbar unspektakulär, dann aber immer einnehmender, detailreich und atmosphärisch. „Henge” klingt wie der Soundtrack eines Mystery-Endzeit-Thrillers kurz vor dem Höhepunkt, wenn die Helden sich für die entscheidende Schlacht sammeln und der Ausgang derselben höchst ungewiss ist. Hätte vermutlich auch mit einer Spur weniger Eindringlichkeit die gleiche Überwältigung beim Publikum erzielt, aber geschenkt.Wrecked Lightships Musik stellt eben immer eine Gratwanderung zwischen Zugänglichkeit und hohem Anspruch dar, die nie nur einer Fraktion gefallen will. Und die Luftigkeit kehrt zudem prompt im abschließenden Titeltrack wieder zurück, der US-Electro und britische Fusions-Kunst noch einmal perfekt – genau! – fusioniert. Mathias Schaffhäuser

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