Nils Frahm – Music For Animals (BMG)
Music For Animals markiert den längst überfälligen Bruch im überhypten Werk von Nils Frahm. Ein Bruch, der vom Musiker ganz bewusst in seiner ganzen leisen Wucht in Szene gesetzt wurde. Die kategorisch kleine Musik von Frahm, die jahrelang zwischen begnadeten Klavier-Performances und ebenso engagierter Electronica pendelte und beide Seiten schließlich wie in einem Snapshot eines nicht enden wollenden Faltungshalls zusammenbrachte, wurde viel zu schnell zu groß. Im Sound, aber auch in der Rezeption und den automatisiert-angeschlossenen Marktmechanismen.
2022? Cut. Drei Stunden Musik, verteilt auf vier LPs bzw. drei CDs. Das Klavier? Weg. Die Beats und Energie? Weg. Stattdessen konfrontiert uns Frahm mit der reinen Lehre des ambienten und elektronisch erzeugten Wohlklangs. Wer sich nun in der unserer Kultur so inhärenten Haltung aus Langeweile und besserwisserischem Abkanzeln verfängt und abwinkt: Tschüss! Gut, dass ihr weg seid. Euch brauchen wir nicht. Ein Pendel schwingt nicht nur in eine Richtung. Wer das nicht verstanden hat, hat den Dancefloor nicht verdient.
Ein großes Werk, ganz intuitiv entstanden – gemeinsam mit Frahms Ehefrau und dem faszinierenden Klang einer Glasharmonika als Basis. Das ist keine Katharsis, das ist ein Neustart, und ein überaus hoffnungsvoller dazu. Von jemandem, dem seine eigene Welt zu unübersichtlich wurde. Dieses Album heilt Wunden und macht Mut. Workshops zum Thema Well-being mit langweiligen, in Insta-Storys verpackten Sagern von abgehalfterten DJs auf Ibiza tun das nicht. Thaddeus Herrmann
Om Unit – Acid Dub Studies II (Om Unit)
Om Unit macht es wieder und übt sich in Minecraft Dub. Eine Freude, denn der erste Teil der Acid Dub Studies gehörte im 2021 zum Besten, was es im Hardcore Continuum in diesem Jahr an Veröffentlichungen gegeben hatte, das „Bristol Theme” sicher zu den Signature-Stücken des Jahres.
Jim Coles aus London bewegt sich schon seit über einer Dekade im Feld der Breakbeats aller Tempi. Nach Veröffentlichungen auf Exit, Planet Mu und Metalheadz lotet er nun die Möglichkeiten des Selbst-Publizierens aus und nutzt dafür vor allem die Plattform Bandcamp, wo er bereits die erste Folge der Acid Dub Studies ohne Label herausgab – so erfolgreich, dass selbst das in diesem Frühjahr nachgereichte Versions-Album mit Remixen von Deadbeat oder CV313 bereits vergriffen ist.
Acid Dub Studies II legt unbeeindruckt nach: das Leichte, das Spielende schwebt über dem Album. „Melted” beginnt mit irisierenden Spiralnebeln, um von „Camo” fortgeführt zu werden, einem Digi-Dub, dessen Sing-Melodie auf Panflöten eingeträllert kommt anstatt auf einer Melodika. Das volle Spektrum der Serie entfaltet sich auf Stücken wie „Strange Brew”: enorme Breite in den mittleren Höhenfrequenzen, Sub-Bässe und die blibbernden, blubbernden Sounds der Roland TB-303, die einst schon Acid House den Namen gab.
Dabei zieht Coles die Skizze dem High End vor, „Pursuit” etwa wäre durchaus vorstellbar mit stärkerer Trennschärfe in den Frequenzbereichen, doch das würde eben auch den Produktionsflow verkomplizieren: so kommt sie eben zustande, die Minecraft-Ästhetik. Spielen geht über Studieren, was Tracks wie „Acid Tempo“ zu Lieblingsstücken macht.
Die Tracklänge liegt wie bei einem frühen Beatles-Album zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Minuten, was die Frage aufkommen lässt, ob diesem Album eine Voice-Version folgen wird. Christoph Braun
Philipp Priebe – Apparent Calm Palms (Feuilleton)
Der aus Berlin agierende Philipp Priebe hat sich in den letzten Jahren mit seinem Label Stólar einen kleinen Namen in der kontemporären Deep-House-Szene erarbeitet. Er arbeitet sauber, aber nicht so geleckt und seelenlos, wie man es manchmal am polierten Ende des Spektrums findet. Gleichzeitig gibt Priebe sich nicht dem Lo-Fi-Haze hin, sondern verleiht seinen Tracks mit gezieltem Einsatz von Effekten und Samples die nötige Tiefe.
Auf seiner zweiten LP geht es nach eigener Aussage um die Orte und Gefühle, die mit dem Partymachen verbunden sind, wenn man nicht gerade selbst in der großen Stadt und Ausgehmetropole haust; also das Vorglühen, die Hin- und Rückfahrt und so weiter. Tatsächlich hört sich Apparent Calm Palms vorzüglich auf einer urbanen Transitstrecke, sei es in der Metro oder im Flughafenterminal. Die zehn Tracks tragen sich von der ruhigen Anfangsstimmung langsam aber sicher in den Club und wieder zurück.
Stilistische Ähnlichkeiten sind etwa zu den frühen Recondite-Veröffentlichungen zu ziehen, wenn diese mystische Dörflichkeit von Nebelschwaden über dem Waldstück mit in der 303 hängt. Oder aber auch die schweren, üppig geschwungenen Drums, die an René Pawlowitz unter einem seiner vielen Aliasse erinnern. Dazwischen findet sich eine ganze Menge Groove, geschult an Deep-House-Vorbildern aus Chicago und Detroit. Das ein oder andere ambiente Interlude darf auf so einer LP natürlich auch nicht fehlen.
Was jetzt viele Referenzen aufgerufen hat, klingt aber keinesfalls nach einem Zusammenbau von Versatzstücken der Deep-House-Geschichte. Priebe hat unmissverständlich seine eigene, zwischen Melodik, Groove und Deepness ausgewogene Handschrift gefunden und diese auf dem LP-Format formvollendet zum Ausdruck gebracht. Leopold Hutter
Sarah Davachi – Two Sisters (Late Music)
Mit ihrem neuen Album bewegt sich die nordamerikanische Komponistin Sarah Davachi in der Alten Musik, der Minimal Music der 1960er sowie im gegenwärtigen Klang-Prozessieren. Baff machende Reibung entsteht.
Mittendrin, etwa in „Icon Studies I”, stellt sich das Begreifen ein: hier entsteht Musik von neuer Schönheit, einer Schönheit, die sich aus einem zerstückelten Begriff von Zeit speist. In diesem kurzweiligen Zwölf-Minuten-Stück vergeht jene Zeit sehr, sehr langsam, das Hören benötigt diese Dauer und vermag zu entziffern, ähnlich wie der Sehsinn ein Bild entziffern kann. Das Hören kann den Harmonien folgen und ihrem langsamen Vergehen, ebenso den vertikalen Bewegungen, Tonhöhe rauf, Tonhöhe runter, wie es eben möglich ist beim Betrachten etwa einer orthodoxen Ikonografie.
Diese Flexibilität in der Komposition, dieses Springen zwischen Hier und Dort, zwischen Gegenwart und Vergangenheit zeigt sich bereits in der Eröffnung. Die in Kanada aufgewachsene und derzeit in Kalifornien lebende Komponistin benennt mit „Hall Of Mirrors” das Eröffnungsstück quasi nach ihrer Arbeitsweise, mit allen Spiegelungen in die Unendlichkeit und Abbildungsverformungen, die solch einen Spiegelsaal charakterisieren. Im Folgestück „Alas, Departing” bearbeitet sie das Lied „Alas, Departynge is Ground of Woo” aus dem 15. Jahrhundert des europäischen Mittelalters, indem sie Stimmgruppen aufteilt, vereinzelt, hintereinanderschiebt, jedoch immer mit einer Rekonstruktion der Dekonstruktion im Auge behält: die bereits eingangs beschriebene, zeitgemäße Schönheit mitsamt eines molekularen Zeitbegriffs.
Die Reife der beiden ersten Arbeiten durchzieht das komplette Album, das so zu einer meisterlichen Arbeit der elektronischen Musik des Hörens heranreift: ein vielstimmiges und dennoch homogenes Klangwerk aus elektrischer Orgel, Viola, Cello und Singstimmen; eine hochkonzentrierte Bewegung weg von den ach so einstudierten Alltagshandlungen und ihren Verständnissen von Zeit und Aktion. Christoph Braun
Soreab – Muğla’s Chronicles (Self Released)
In London ansässig, sind die aktuellen Einflüsse des italienischen Produzenten Soreab durchzogen von UK-Clubgeschichte. Sein erstes, selbstveröffentlichtes Album Muğla’s Chronicles verbindet diese Sounds nun mit den Erfahrungen und Aufnahmen eines Aufenthalts in der Türkei. 2016 verbrachte Dario Picchi, so Soreabs bürgerlicher Name, sechs Monate in der türkischen Provinz Muğla. Bereits damals entstand eine Art musikalisches Tagebuch, durch das der Künstler seine neuen Eindrücke jeden Tag verarbeitete. Während des Lockdowns dann kehrte Soreab zurück zu den Aufnahmen und verband die beiden Welten – die Türkei und seine eigenen Experimente mit der türkischen Laute, auf der anderen Seite der Londoner Clubkosmos mit seinen angestammten Sounds wie Techno, Bass, Dub, IDM und Jungle.
Das Ergebnis ist ein faszinierendes Album voller Rhythmen und Tempi, auf dem BPM und Funktionalität weniger eine Rolle spielen als Kohärenz, Klangteppiche und Atmosphäre. Was nicht heißt, dass die Grooves nicht durchaus clubtauglich wären; jedoch steht der cinematische Wirkungsgrad im Vordergrund der neun Stücke.
Vor allem ist es die türkische Laute, auf jedem der Tracks in einer Vielfalt manipulierter Spielweisen vertreten, die dem Album seinen Charakter gibt. Von Soreab selbst gespielt und von Hand in das elektronische Geflecht einbaut, wird sein stilistischer Entwurf zum authentischen Zitat – meilenweit vom üblichen Electronica-plus-0815-Ethno-Sample entfernt. Es zeigt vorbildlich, dass dabei ein einnehmendes Album herauskommen kann, das scheinbar spielend den orientalischen Vibe einfängt und ihn mit düsteren UK-Half-Time-Steppern auf 100 bis 160BPM verbindet. Leopold Hutter