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September 2022: Die essenziellen Alben (Teil 2)

Front de Cadeaux – We Slowly Riot (Antinote)

„There Is Something Wrong” heißt der dritte Track auf We Slowly Riot. Dieser Satz lässt sich auf viele Phänomene anwenden, und gerade in den letzten drei Jahren scheint das, was wrong ist, sich inflationär zu vermehren. Hinzu kommt: Die Verdrängungsmechanismen versagen zusehends. Front de Cadeaux sehen jedoch keinen Grund, uns angesichts all des sogenannten Falschen zu schonen. Im Gegenteil, sie wiederholen „There Is Something Wrong” als Quasi-Beschwörungsformel so lange, bis der Impuls, den Track zu skippen, fast die Oberhand gewinnt. Doch dann nimmt das Stück an Intensität zu, und die Formel wird zur Parole, dringt in den Teil des Bewusstseins ein, der sie akzeptiert und nicht mehr abzuwehren versucht. Woraus ein gutes Gefühl entsteht, ein Trance-Effekt – der in verschiedener Intensität fast allen Stücken innewohnt.

Komplett ohne Trance-Genre-Stilmittel allerdings, Front de Cadeaux lassen sich keinem Fach im Plattenladen so richtig zuordnen, und von Fusion oder Stilmix zu sprechen klingt im Zusammenhang mit ihrer Musik mindestens unangemessen, wenn nicht gar grob. Das in Belgien und Italien ansässige Duo hat vielmehr einen sympathisch-eigenwilligen Electronica-Entwurf kreiert, in dem sich Bezüge zu Dub, Kraftwerk und Kraut genauso finden lassen wie zu experimentellem Techno, Slo-Mo-House und nordafrikanischem Wüsten-Blues.

Alle Tracks verweigern sich aber konsequent einer Etikettierung, kein Element wirkt aufgesetzt oder einem konventionellem Rahmen angepasst, um einen Aha- oder Novelty-Effekt zu erzielen – alles wirkt lässig, organisch, selbstverständlich. Mathias Schaffhäuser

Front De Cadeaux – We Slowly Riot (Antinote)

Herva – Seez (Planet Mu)

Nach fünf Jahren Pause hat der Florentiner Produzent Hervè Atsè Corti alias Herva ein neues Album vorgelegt. Statt Sampling vertraut er diesmal auf selbstgebaute Apparate und generative Software. Weitgehend frei flottierende Frequenzen und Rhythmen sind das Ergebnis, das sich durchaus hören lassen kann.

Allerdings sind Hervas Erkundungen nicht ohne Vorbild. Schon im ersten Stück „Xld”, meint man das Soundvokabular von Autechre herauszuhören, das diese seit den späten Neunzigern perfektionieren. Auch die kryptischen Tracktitel lassen eine Nähe zu den IDM-Helden erkennen. Herva betreibt andererseits keine vollständige Auflösung nachvollziehbarer Beatmuster, er hält die Tanzfläche bloß leicht auf Abstand. Scheint am ehesten für zeitgenössischen Tanz geeignet.

Dass Herva jetzt weniger eigenständig klingt, als sein Ansatz vermuten ließe, wäre eigentlich kein Problem. Bei einem traditionellen, dafür sehr gut produzierten House-Album etwa wäre man vermutlich toleranter im Hinblick auf die mangelnde Innovation. Herva spielt jedoch in einer Liga, in der die Idee des Materialfortschritts noch zählt. Und daran muss er sich messen lassen. Tim Caspar Boehme

Herva – Seez (Planet Mu)

Ibrahim Alfa Jnr – Messier87 (Mille Plateaux)

Skippt man in DJ-Shopping-Manier durch Ibrahim Alfa Jnrs Album Messier87, kann es passieren, dass man nur Stellen erwischt, die sein Debüt auf Mille Plateaux nach einem reinen Drum’n’Bass-Werk klingen lassen. Wer aus Desinteresse am Genre das Album dann flugs zu den Akten legt, dem könnte einiges entgehen.

Exemplarisch demonstriert das ein komplettes Durchhören des zweiten Tracks auf, der über komprimierte sechs Minuten schnelle, langsame und beatlose Phasen plus Jazz- und Noise-Elemente stimmig zu einer komplexen musikalischen Kurzgeschichte vereint.

Das Album als Ganzes geht stilistisch noch mehr in die Breite. „MGUN” zieht seinen Reiz aus einem vermeintlich unentschlossenen Stolpern zwischen geradem Housebeat und doch wieder punktierten Beat-Notenwerten, und genauso ambivalent verhalten sich die eingesetzten Sounds und Noises, die auf dem Dancefloor genauso gut funktionieren wie auf der Bühne eines Avantgarde-Festivals. Dort würden auch die jazzigen Miniaturen „ZQQN” und „YKTS” eine sehr gute Figur machen, denn Jazz und der omnipräsente Fusion-Ansatz werden hier nicht akademisch-museal gedacht.

Überhaupt nimmt das Album mit zunehmender Laufdauer – auf Vinyl ab Seite drei – immer mehr Kurs auf großartige musikalische Freigeisterei, in der stellenweise auch Post-Rock vorkommt und vor allem eingefahrene Strukturmuster kreativ umschifft werden. Eine der besten Veröffentlichungen der letzten Zeit auf dem glücklicherweise wieder sehr aktiven Label. Mathias Schaffhäuser

Ibrahim Alfa Jnr – Messier87 (Mille Plateaux)

Lasse Marhaug – Context (Smalltown Supersound)

Prolific ist so ein Wort, das auch eine höfliche Kritik verstecken kann. Der norwegische Noisemusiker Lasse Marhaug erfüllt in jedem Fall die formalen Kriterien, um mit diesem Adjektiv bedacht zu werden. Er ist einfach sehr, sehr produktiv. Dass das keine schlechte Sache sein muss, zeigt er auf seinem Soloalbum Context – Marhaug arbeitet im Übrigen ansonsten viel und gern mit anderen Künstler:innen zusammen.

Hier erkundet er verschiedene Körnungsstufen des Brummens, durchläuft stetige Wandlungen von hohen, hellen zu tiefen, verhangenen Klängen, entwickelt aus Störgeräuschen und Hall zwischen spannungsreicher Geladenheit und Leere changierende Räume. Seine sieben Studien stehen nie still, selbst wenn die Veränderungen mitunter so allmählich sind, dass man sie womöglich gar nicht groß registriert. Doch sogar dort, wo es lärmig zugeht, hat man nicht den Eindruck, der Krach verselbstständige sich bei ihm zur bloßen Geste. Eher sind seine Elemente so strukturiert, dass sie einen klingenden Zweck aus sich selbst heraus ergeben: Marhaug stiftet mit scheinbar nichts den nötigen Zusammenhang. Tim Caspar Boehme

Lasse Marhaug – Context (Smalltown Supersound)

Mall Grab – What I Breathe (Looking For Trouble)

Sechs Hundis, ein Chappi – wer das Cover gesehen hat, der will die Platte nicht mehr hören. Dabei haut Mall Grab mit What I Breathe sein erstes Album raus und spielt mit der Erwartung.

Schließlich nimmt der australische Producer nicht an die Leine, sondern schleudertraumatisiert eine Stunde lang im Ableton-Autodrom. Eingequetscht zwischen Jungle-Breaks-Quietschen für Ritalin-Junkies und Formatradio-Verfehlungen aus der Bravo-Hits-Ära, holt man sich damit nichts als blaue Flecken. Das Dumme: Wie bei jeder anständigen Kaltverformung kann man nicht wegsehen. Wenn jemand den Sound der Swedish House Mafia für Bewegungslegastheniker zwischen zwei Kickdrums spannt, hat das den Unterhaltungswert einer Samstagabendshow in den Achtzigern.

Ob Mall Grab auf den Flügel eindrischt („Love Reigns”), Konfetti-Kollaborateure über die Klippe springen lässt („Without The Sun”) oder wie in „Metaphysical” vollkommen die Fassung verliert – What I Breathe ist leider missraten. Christoph Benkeser

Mall Grab – What I Breate (Looking For Trouble)

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