Chilly Gonzales und Richie Hawtin (Alle Fotos: Camille Blake)
Wenn alles gegen eine Idee spricht, ist sie meist besser, als man denkt. Dann wird ihr Überraschungseffekt zu ihrer größten Stärke. So etwa verhält es sich mit Consumed in Key, dem gemeinsamen Album des Techno-Produzenten Richie Hawtin und des Jazz- und Poppianisten Chilly Gonzales. Das Album speist sich aus dem Zusammentreffen des 1998 erschienenen Albums Consumed, mit dem Hawtin dem Minimalismus einen neuen Weg ebnete, und Gonzales‘ Gegenstücken, die er an seinem Klavier komponierte.
Während Gonzales mit Boys Noize oder Daft Punk bereits Erfahrung in elektroakustischen Kollaborationen sammeln konnte, war das für Hawtin Neuland. Für den eingefleischten Liebhaber elektronischer Klänge gestaltet sich das Projekt anfangs gar nicht so einfach. Der Kanadier scheute die Herausforderung jedoch nicht und ließ sich auf das Experiment ein. Dazu schlüpfte er in seinen Alias Plastikman, als der er auch Consumed produzierte, und ließ dessen minimale, kühle Aura mit Gonzales’ spielerischen Klavierklängen verschmelzen. Aus der anfänglichen Skepsis wuchsen Akzeptanz und irgendwann Bewunderung. Im Interview mit unserer Autorin Louisa Neitz spricht Hawtin außerdem über seine Wohlfühlfrequenzen, 90s-Nostalgie und wie es ist, von der eigenen Arbeit erstaunt zu sein.
GROOVE: Du und Chilly kommen als musikalisches Duo nicht direkt in den Sinn. Wie ist es zu der Zusammenarbeit gekommen?
Richie Hawtin: (lacht) Das stimmt. Wir haben beide eine Zeit lang in Berlin gewohnt, uns aber über die Jahre nie persönlich getroffen. Wir hatten aber voneinander gehört. Zum 20. Jubiläum von Consumed ist Chilly über einen Online-Artikel auf das Album aufmerksam geworden und hat es sich angehört. Ab irgendeinem Zeitpunkt hat es ihn genug inspiriert, um einige Begleitungen aufzunehmen. Diese Experimente entstanden aber, bevor ein gemeinsames Projekt feststand. Erst etwa ein Jahr später sind diese Demos über Tiga, einen gemeinsamen Freund und ebenfalls kanadischen Produzenten, zu mir gelangt. Zuerst hat mich die Idee gar nicht so interessiert. Das Album war für mich ein abgeschlossenes Werk, das mir viel bedeutet. Die Idee, zu einem Album, bei dem es ums Reduzieren auf ein absolutes Minimum geht, etwas hinzuzufügen, klang für mich im ersten Moment wie eine dumme. Noch skeptischer wurde ich, als ich hörte, dass es akustische Begleitungen sein sollten. Bis dahin hatte ich noch nicht viele gelungene elektronisch-akustische Kollaborationen gehört.
Was hat dich letztendlich überzeugt?
Chillys Name hat den Stein ins Rollen gebracht. Mein Gedanke war, dass Chilly bestimmt zu beschäftigt ist, um sich einer Idee zu widmen, an deren Veröffentlichung er nicht glaubt, die ihn nicht bewegt oder herausfordert. Das musste ich als Künstler respektieren und sein Experiment ernst nehmen, indem ich offen war für jede Richtung, in die es hätte gehen können.
Für den Erfolg des Projekts war es entscheidend, dass Chilly und ich während des Prozesses so wenig Kontakt wie möglich hatten.
Kannst du dich an deine ersten Eindrücke von den Demos erinnern?
Die Demos waren ein Stück weit anders als die finalen Tracks. Beim Hören gab es Momente, in denen ich genoss, was Chilly zu erreichen versuchte. Es gab aber auch Stellen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sich die Begleitung zu sehr vom eigentlichen Stück weg entfernte. Es gab also Momente des Respekts und der Respektlosigkeit. Aber ich bin immer für eine Herausforderung zu haben. Es fühlte sich wie ein künstlerisch interessantes Experiment an, erst in die Arbeit einzusteigen, wenn der andere fertig war. Tiga, Chilly und ich waren zu dem Zeitpunkt, auch pandemiebedingt, mental am selben Ort und hatten die Zeit, immer wieder zu dem Projekt zurückzukehren. Wenn man als DJ viel reist, kann es schwer sein, die Ruhe für solche Momente zu finden. Dieses Mal aber konnte ich einer kreativen Idee viel Zeit schenken und sie in meinen Kopf einsickern lassen, um dann eine überlegte Entscheidung zu treffen.
Wie kann man sich die künstlerische Beziehung zwischen Chilly und dir während der Entstehung des Albums vorstellen?
Für den Erfolg des Projekts war es entscheidend, dass Chilly und ich während des Prozesses so wenig Kontakt wie möglich hatten. Da Tiga ohnehin schon die Kommunikation zwischen uns hergestellt hatte, fragte ich ihn, ob er als Vermittler zwischen mir und Chilly agieren würde. Dem Projekt wäre nicht geholfen, wenn ich Chilly meine Meinung zu seinen Interpretationen gegeben hätte. Ich hätte sie nur aus dem Standpunkt heraus formulieren können, von dem aus ich Consumed betrachte, aber es ging ja um Chillys Reaktion. Auch wenn ich nicht alles mochte, konnte ich seine emotionale und kreative Perspektive heraushören. Das ist die Magie, aus der Consumed in Key heraus entstanden ist.
Du meintest, dass Consumed ein für dich abgeschlossenes Projekt darstellt. Wie war es, wieder zum Werk zurückzukehren?
Dass Chilly seine Interpretationen ohne mich aufgenommen hat, hat mich davor bewahrt, das Projekt als eine Bastardisierung des eigentlichen Albums zu sehen. Es stellt ein komplett neues Werk dar. Mir war nur wichtig, für den finalen Mix verantwortlich zu sein. Zuerst war es kompliziert, Chillys Parts in das Album zu inkorporieren. Ich habe versucht, sie so wie die anderen Klänge in das Album einzugliedern. Doch je mehr ich das tat, desto stärker scheiterte es als Gesamtwerk. Ich habe versucht, Chilly als einen neuen Teil in Consumed aufzunehmen, anstatt Consumed zu einem Teil eines neuen Werkes werden zu lassen. Irgendwo im Prozess des Mixens habe ich verstanden, dass es nicht darum geht, Chillys Parts über ein altes Werk von mir zu legen, sondern zwei Werke zu einer neuen Komposition zu verschmelzen.
Hast du dabei darüber nachgedacht, wie deine eigene Produktionsweise sich über die Jahre verändert hat? Gab es einen Moment der Reflexion deines Werdegangs?
Auf jeden Fall. Anfang 2020, bevor die Arbeit mit Chilly begann, habe ich viel in meinem Studio mit altem Equipment und analogen Instrumenten gearbeitet. Ich wollte die Textur des alten Equipments in ein komplett digitales Setup mitnehmen, was ich meiner Meinung nach bisher nicht zur Gänze geschafft habe. Das Projekt mit Chilly präsentierte sich dann als Herausforderung, mental zu den Aufnahmesessions von Consumed zurückzukehren und zu überlegen, wie ich diesen analogen Workflow in einen digitalen übersetzen kann. Ich habe wieder daran gedacht, wie und warum ich Dinge auf eine bestimmte Weise aufgenommen habe.
Spielerisch trifft es sehr gut. Wenn ich als DJ mit dem ein oder anderen Drink intus auftrete, kommt diese Seite bei mir auch zum Vorschein. Plastikman hingegen ist ein Studioprojekt und sehr introvertiert, vielleicht manchmal sogar zu ernst.
Was an Consumed sprang dir am stärksten ins Auge?
Ich habe mich wieder daran erinnert, wie natürlich und langsam sich Consumed entfaltet. Natürlich gibt es ein Arrangement, das sich aber weniger aus einer strikten Struktur als aus Intuition speist. Es atmet wie das Auf und Ab der Gezeiten. Nach meinem Empfinden verschwindet dieses Auf und Ab in elektronischer Musik, je mehr man Computer benutzt. Das Projekt war demnach eine großartige Möglichkeit, in ein altes Projekt einzutauchen und mich dazu zu zwingen, meine eigene Musik auf neue Weise zu hören.
Normalerweise entwickelt ein Kunstwerk ein eigenes Leben, wenn es veröffentlicht und rezipiert wird. Manchmal unterscheidet sich die Rezeption deutlich von der eigentlichen Intention des Kunstwerks, darüber hat man als Künstler*in meist wenig Kontrolle. Du bist nun erneut in diesen Prozess eingestiegen. Hast du in dieser Hinsicht auch etwas Neues über Consumed gelernt, das du damals noch nicht rausgehört hast?
Es ist irgendwie lustig, denn ich habe alte Fotos vom Mixing Board und meinen Notizen für die jeweiligen Instrumente aus den Consumed-Sessions wiedergefunden. Damals wurde noch alles analog aufgenommen, ohne Masterfiles. Wenn ich daran zurückdenke, wie die Mixingkonsole aussah, ist es verblüffend, wie spärlich die einzelnen Instrumente eingesetzt wurden. In meinem digitalen Prozess gibt es vielleicht 24 Spuren an Information, von denen ungefähr 18 tatsächlich genutzt werden. Aber während der Consumed-Sessions haben es nur ungefähr acht von den 24 in den finalen Track geschafft. Es hat mich sehr erstaunt, wie minimal die Songs tatsächlich gehalten wurden, obwohl das Album so imposant klingt.
Es wird schwierig, etwas als überraschend auszuweisen, wenn man in die Vergangenheit reist.
Wie war es, Chillys Instrumente wie das Klavier einzubauen?
Sehr aufregend. Ich stellte mir dabei die Frage: Wie geht man am besten mit einem Instrument mit ungewohnten Frequenzen um? Wenn man genau zuhört, merkt man bei den meisten elektronischen Musikproduzent*innen, dass ihr Stil nicht nur mit der Sequenzierung zusammenhängt, sondern besonders mit den gewählten Instrumenten beziehungsweise ihrem jeweiligen Frequenzbereich. Ich zum Beispiel liebe Platten, bei denen man einen Moog-Synthesizer hören kann. Aber jedes Mal, wenn ich mich an einem dieser Synthesizer versuche, funktioniert es nicht. Es passt einfach nicht in den Frequenzbereich, in dem ich mich im Studio wohlfühle. Meine Wohlfühlfrequenzen liegen in Roland-Instrumenten wie der TB-303, der TR-909 und der TR-808. Mich auf ein Klavier einzulassen, war ein völlig neues Unterfangen.
Ich hatte beim Hören das Gefühl, dass deine Parts eher düster rüberkamen und Chilly das stellenweise sehr spielerisch kontrastiert.
Spielerisch trifft es sehr gut. Wenn ich als DJ mit dem ein oder anderen Drink intus auftrete, kommt diese Seite bei mir auch zum Vorschein. Plastikman hingegen ist ein Studioprojekt und sehr introvertiert, vielleicht manchmal sogar zu ernst. In der Kollaboration spürt man meinen Fokus, zu dem Chillys spielerische Persönlichkeit hinzukommt. Man kann beide Seiten spüren, manchmal ergänzen sie sich sehr gut, manchmal nimmt ein Part Überhand. Ich mag, wie sie sich abgrenzen, aber auf dem Album zusammen funktionieren.
Warst du überrascht, dass jemand auf diese Weise Consumed rezipiert hat?
Anfangs haben mich manche von Chillys Interpretationen nicht ganz überzeugt. Im Laufe der Zeit haben seine Gegenstücke für mich immer mehr Sinn ergeben und eine wunderschöne Balance zum originalen Album hergestellt. Einer der wichtigsten Punkte, die Chilly an Consumed verstanden hat, ist der Umgang mit Raum und Stille. Es gibt da einen wunderschönen Moment, in dem Chilly in seinem Groove ist, aber plötzlich stoppt und das, was darunter liegt, zum Vorschein kommen lässt, bevor er selbst wieder einsteigt.
Wie hast du diese Momente in Consumed in Key eingebracht?
Beim Mixen habe ich oft nur Chillys Parts angehört. Und je länger das gedauert hat, desto mehr Verständnis habe ich dafür aufgebracht, wie sensibel er mit seinem Klavier umgeht. Diesen Aspekt wollte ich nicht im Mix verlorengehen lassen. Dieser ganze Prozess war faszinierend. Sobald ich anfing, Chillys Interpretationen zu mixen, habe ich angefangen, ihn kennenzulernen, ohne mit ihm zu sprechen. Es entstand ein Künstlerdialog, in dem Kompositionen und deren Frequenzen den Kommunikationsweg darstellten. Dadurch haben wir beide eine Sensibilität für die Ideen des anderen entwickelt.
Hast du vorher schon einmal daran gedacht, mit älteren Titeln von dir zu arbeiten?
Nicht wirklich. Neue Mastertracks oder Remixe von älteren Werken sind für mich immer schwierig. Diese Werke haben eine bestimmte Magie, die sie für mich und die Fans besonders machen. Man kann das nicht einfach rekreieren; nur, wenn man sehr vorsichtig dabei ist. Auf Consumed habe ich zum ersten Mal so reduziert und mit diesem bestimmten Arrangement gearbeitet. Auf Sheet One habe ich mich zum ersten Mal ernsthaft an einer TB-303 und einer TR-606 versucht. Man kann solche Momente nur einmal haben. Die meisten wissen, wie gerne ich in Interviews über die Zukunft rede. (lacht) Denn mit der Hoffnung, genauso wichtige und schöne Alben produzieren zu können, ist der einzige Weg, auf dem man neue aufregende, besondere oder überraschende Momente findet, der nach vorne. Und es wird schwierig, etwas als überraschend auszuweisen, wenn man in die Vergangenheit reist.
Du meintest, dass man die alte Technologie der Neunziger auf Consumed hören kann. Gab es da ein nostalgisches Moment, in dem du dir gewünscht hast, du könntest dorthin zurückkehren?
Die nostalgischen Momente der Neunziger hängen für mich nicht nur an der Musik. Ich erinnere mich an die Unschuld der damaligen Zeit, wie man Musik produzierte, nicht wirklich wusste, was man gerade machte, und alles im Prozess lernte. Die Szene und die gesamte Community waren damals so neu und jugendlich. Meine Generation kann in diesen speziellen Modus, in dem wir früher in der Musik gelebt und geatmet haben, nicht mehr zurückkehren. Vielleicht ist diese Situation vergleichbar mit Personen, die momentan in die elektronische Musik einsteigen, nach Berlin ziehen und zum ersten Mal das Berghain erleben. So wie für uns damals ist alles voller Entdeckungen. Auch heute suche ich immer wieder nach Überraschungen. Das war auch einer der Gründe, mich auf Consumed in Key einzulassen, denn mir kam vorher ein solches Projekt nicht einmal in den Sinn. Dort habe ich die Aufregung, Inspiration und Herausforderung gefunden, die ich in den Neunzigern gefühlt habe.
Haben die aktuellen Zeiten, im Speziellen die Pandemie, dir Anstöße gegeben, auf neue Wegen Musik zu produzieren?
Eigentlich nicht. Durch die Pandemie hatte ich aber viel mehr Zeit zur Verfügung, die ich im Studio verbringen konnte. Das war auch das Einzige, was ich in dem Moment machen wollte. Ich habe mich auf Projekte fokussiert, für die ich viel Zeit im Studio verbringen musste, wie bei meiner Zusammenarbeit mit Prada. Wie Consumed in Key war auch das ein Plastikman-Projekt und etwas, was ich noch nie vorher gemacht hatte – mit Mode zu arbeiten. Diese Phase hat mich ins Studio gezwungen, wo ich neue Dinge lernen konnte und produktiv war. Ich kann mir vorstellen, dass es vielen so ging. Man hat danach gestrebt, sich in dieser neuen Situation selbst zu finden und darin glücklich zu sein. Als ich jung war, bin ich zur elektronischen Musik gekommen, weil ich mich so glücklich und sicher in einem dunklen Studio mit aller erdenklichen Technik in unmittelbarer Nähe gefühlt habe. Das war meine Art zu kommunizieren. Und als Covid uns in Atem hielt, bin ich zu meinem Safe Space zurückgekehrt: dem Studio.
Wenn du den Wunsch frei hättest, selbst das Werk eines*einer anderen Künstler*in neu zu interpretieren oder seine oder ihre Interpretation von einem deiner Werke zu hören, fällt dir ein Name ein?
Mir kommt da Nils Frahm in den Sinn. Aber ich wüsste nicht, ob ich etwas von ihm interpretieren würde oder andersherum. Er ist mir aber eingefallen, weil er sich an der Schnittstelle zwischen akustischer und elektronischer Musik bewegt. Er ist zwar klassisch geschult, musiziert aber mit der Freiheit elektronischer Musik. Seine Arbeit inspiriert mich sehr, und als Freunde haben wir interessante Gespräche. Das wäre also potenziell interessant.