Bézier – Valencia (Dark Entries)
Die Hi-Tom of Finland der TR-707 knattert hölzern im gebrochenen Sechzehntel-Takt („Resurrection”). Darüber hackt die trockene 4-To-The-Floor-12-Bit-Plastiksample-Kick mit Rauschfahne. Synthkeys üben die große Pose der Terminator-Reminiszenz. Josh Cheon von Dark Entries spielt seit einem Jahrzehnt im Vinyl-Biz in Form von Wave-Reissues mit und verkauft dieses neue Wave-Remake von Robert Yang alias Beziér per Zwillingstorte-Aufladung. Musiker Robert Yang erforscht mit entsprechenden musikalischen Referenzen auf diesem dunkleren Minialbum Themen wie Unterwerfung und Katharsis.
Damit spielt es auf San Franciscos schwule Lederbars in den 1970er und 1980er Jahren an. Das ist stimmig, denn der amerikanische Multiinstrumentalist ist als Teil des queeren Musikkollektivs Honey Soundsystem selbst gewissermaßen Nachfahr dieser Szene. „Past The Marches” fällt mit Moroder-Sylvester-Beats aus den CSD-Paraden des wild-befreiten 70s-Disco-Jahrzehnts. Und „Scrupulous” reenacted zwischen Dark-Italo-Disco und Hi-NRG die Psychokiller-Atmosphäre aus Cruising, in dem der junge Al Pacino einen Cop spielt, der in der schwulen Nachtclubs New Yorks einen Serienmörder sucht. Mirko Hecktor
Captain Mustache & Chicks On Speed – Good Weather Girl (Permanent Vacation)
Als Frederic De Carvalho alias Captain Mustache vor ziemlich genau einem Jahr „Mentally Naked” mit Vocals von Melissa Logan vorstellte, war das auch das erste Lebenszeichen des Fashion-Art-Electroclash-Projekts Chicks On Speed nach längerer Funkstille. Mit „Good Weather Girl” liegt nun die zweite Zusammenarbeit vor. Electroid ja, Clash nein, so lässt sich das Ergebnis in Kürze zusammenfassen.
In der Tat ist „Good Weather Girl” eine ausgesprochen gelungene, sehr eingängige Dancefloor-Ballade, Logan singt ihre nonchalanten Lyrics ins Blaue der Roland-Sounds hinein. Gleich fünf Remixer unterstreichen den Stellenwert der Veröffentlichung. Lauer nutzt die Steilvorlage zu einem Vocoder-Disco-Track mit Moroderbassline. Gewohnt düster dagegen die Version von Zombies In Miami – tiefer in die Nacht. Joyce Muniz zwirbelt in ihrem Arrangement eine konstant übersteuerte Acidline um den Tune. Tatsächlich Electro kommt vom französischen Producer Maelstrom, in tiefen Frequenzen grabender House von seinem Landsmann speaKwave. Ausfälle? Keine. Harry Schmidt
Edward – Time Stretch (Die Orakel)
Oliver Hafenbauers Label Die Orakel ist fokussiert auf Clubmusik, die, laut Bandcamp-Proklamat des Labels, auch „darüber hinaus funktioniert” – also keine Grenzen (aner)kennt. Edwards dient Time Stretch dafür als Musterbeispiel. Als Held des hippen Post-Post-Modernen 4×4-House-Geschunkels, der dabei immer ein Quäntchen deeper und smoother zu klingen vermag als andere Produzent*innen, weiß er definitiv, wie man die Leute abholt.
Der zwölf Minuten lange Titelrack, der die A-Seite füllt, greift genau auf diese Expertise zurück. Die warmen Bässe und zeitlosen Pads, die sich anfühlen wie eine wohltuende Umarmung eines verloren geglaubten Freundes diktieren das Geschehen. Dahinter jedoch verbirgt sich die eigentliche Schönheit des Stücks. Und auch der Grund, wieso sich diese zwölf Minuten gleichzeitig wie eine viel zu schnell verflogene Ewigkeit anfühlen. Verspulte Synthie-Hüllkurvenmagie, verspielte Percussions und perfekt getunte Kicks, alles in einem mühelosen Arrangement verpackt, lassen die Nadel gleich nochmal zu dessen Anfang führen.
Wenn man es dann doch endlich mal auf die Flip geschafft hat, wird man doppelt belohnt. „La Grotta”, ein an Haruomi Hosono erinnerndes, experimentelles No-Kickdrum-Konstrukt, gepaart mit Vogelgezwitscher und schön-sonderbar modulierten Percussions. Das trägt fröhlich-leichtfüßig zum Abschluss der EP. Dieser ist dann, und bei der A-Seite will das wirklich etwas heißen, das Highlight der Orakel-Weissagung. Ein erhebender Beat paart sich auf „Black Sea” mit intelligenten Bleeps und mutierenden Synth-Pads, fetten Snares und kraftvollen Unterwasserklangbeben. Ob so intendiert, weiß man nicht, aber eines ist sicher: „Black Sea” klingt mehr nach der Zukunft von IDM als jedes so deklarierte Release der letzten zwölf Monate. Andreas Cevatli
Roman Flügel – Mega (Running Back)
Als Produzent ist Roman Flügel dermaßen vielseitig, dass es bisweilen schwerfällt, sich einen Reim auf die Verlaufskurven zwischen seinen verschiedenen Veröffentlichungen zu machen. Schon auf das brütende Pandemieverarbeitungsalbum Eating Darkness folgte mit Anima eine EP, die der Introspektion die pure Ekstase weichen ließ. Nun dreht Mega, die nächste Platte auf Gerd Jansons Label Running Back, die Farben noch weiter auf.
Der Titeltrack donnert mit einer Unbedarftheit in die verworrene Gemengelage der Gegenwart wie ein motorisierter Elefant in den Porzellanladen. Bereits den Auftakt macht ein Orchestra-Hit, dann rattern die Cowbells und eine aufgekratzte Bassline los – gefolgt von italoesken, ineinander verflochtenen melodischen Elementen. Das Ganze klingt, als hätte Flügel eine Ecstasy-befeuerte New-Order-B-Seite durch den Hi-NRG-Mixer gezogen. Heißt: Es macht irre viel Spaß.
Der zweite Track „Rules” nimmt dann aber schon wieder merklich das Tempo raus und siedelt sich im Grenzbereich von New Wave und Nu Disco an – ein entspannter, verspielter Swagger fürs Warm-Up oder die After-After-Hour. Darauf folgt eine Trilogie von durchnummerierten, als „Film” betitelten Tracks, von denen sich die ersten beiden Krautrock-Rhythmen als Folie für wunderbar verspulte Experimente mit wirbelnden Synthie-Melodien hernehmen.Das Finale besteht aus einem verstolperten IDM-Track, der sich dann endgültig jeder Clubfunktionalität ent- und verausgabt auf die Couch verzieht. Mega vermisst in zügigen Schritten die kürzeste Verbindung zwischen zweckgebundener Konkretion und kreativer Abstraktion – ein echter Flügel also, vielseitig und schwer zu knacken. Kristoffer Cornils
Superpitcher – Lush Life (Live at Robert Johnson)
Endlos tropfender Regen, ewig grauer Himmel, die Wohnung in Staub gehüllt, im Hintergrund erleuchtet der Superpitcher-Track „Diario” das Szenario: auch trübe europäische Wintertage erscheinen durch bemerkenswerte Klänge in neuem Glanz. Superpitchers erste EP für Live at Robert Johnson hat jene Qualitäten, gespalten in zwei emotionale Welten, weitschweifig ausgebreitet, wissentlich arrangiert.
Die A-Seite bringt „Lush Life”, einen langsam-dubbig aufsteigenden Housetrack, der vom Label zu Recht mit „deep electronic US house à la François K” bezeichnet wird. Über jenem soft, aber eindringlich ravenden Guss tanzt die mythische Stimme der Fantastic Twins, die ja eigentlich keine sind. Ein kosmischer Tune, der als Teilchenbeschleuniger die eigene Imagination emotional anfeuert. Das dürfte auch tanzend im Club funktionieren, wird hier im Regen vermutet.
Auf der B-Seite dann „Diario”, ebenfalls episch, aber entspannter, mit Dschungel-Sounds, Meeresrauschen und einem lateinamerikanischen Swing, der nach knapp zwei Minuten von einer dezenten, aber bestimmenden Acidline veredelt wird. Über allem lässig gehauchte italienische Worte, die scheinbar Poesie von Piere Paolo Pasolini rezitieren. Wer hinter der weiblich anmutenden Stimme steckt, ist nicht bekannt. Stört aber nicht weiter, denn plötzlich glänzt das Grau wie Sonnenlicht, das sich auf der Meeresbrandung spiegelt, und für einen Moment ist er vorbei, der Winter, weggepustet vom Superpitcher. Michael Leuffen