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Kate NV: gezielte Absichtslosigkeit

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Kate NV (Foto: Richard Jonathan Miles)

Bei Ekaterina Shilonosova alias Kate NV ist wenig greifbar oder gar konkret. Während unseres Interviews strahlt die russische Avant-Popmusikerin das Bild eines etwas wunderlichen Künstler*innennaturells aus. Ihre Inspiration? Blumen, die in ihr aufgehen. Live-Auftritte? Wie Fischen gehen. Musik machen? Mit ihrer musikalischen Persona kommunizieren. Und sie selbst? Eigentlich ein Instrument. Dass das aber keine vorgefertigten Worthülsen sind, um sich einem wunderbar leidendem, vom Genie begnadeten Künstler*innentum in Elfengestalt zuzuschreiben, macht sich schnell bemerkbar. Mit zarter Stimme und voller Elan erzählt Shilonosova von vielen persönlichen Anekdoten, verliert sich manchmal in ihren langen Erzählungen und lacht schelmisch auf, als ob sie das gerade Gesagte selbst nicht ganz fassen kann. Vieles ist bei Kate NV Gefühlssache, ihr einziges Dogma: der Realität ihren Lauf lassen.

An die neue Realität rund um Corona konnte Shilonosova sich dann doch eher schwerfällig gewöhnen. Anders als in Deutschland gab es in Moskau, ihrer Wahlheimat, schärfere durch das Coronavirus bedingte Restriktionen. Es herrschte bis Anfang Juni eine strenge Ausgangssperre und nur mit Passierschein durften Moskaus Anwohner*innen ihr Heim verlassen. Die Quarantäne habe sie emotional mitgenommen und sie konnte sich dem über Social Media verbreiteten Produktivitäts-Wahnsinn nicht hingeben. Das sei eine ganz neue Form von fear of missing out für sie gewesen. Ohnehin schon sensibel, was Stimmungen in ihrer Stadt oder der ganzen Welt angeht, fiel ihr Plan flach, im März und April zu Hause an neuer Musik zu arbeiten. Zu gestresst sei die Musikerin von der globalen Situation gewesen. Die Musikvideos für ihr aktuelles Album Room for the Moon (RVNG intl.) hat sie während dieser Zeit trotzdem fertiggestellt. 

Zum Glück! Denn das am 12. Juni erschienene Album voller verspieltem Avant-Pop mit kindlichem Charme brachte wieder etwas Farbe in die triste Welt des Social Distancing. Die LP musste vielleicht auch genau so aufmunternd klingen, denn sie entstand vor einem Jahr während einer der einsamsten Zeiten im Leben der Künstlerin. Auf kuriose Weise vermischen sich heitere Synth-Klänge, hüpfende Melodien und schillernde Perkussionen mit Texten über die Melancholie der Zeit und die Unaufhörlichkeit des Alterns. Die Veröffentlichung kam dann wie ein Déjà-Vu, ihre Zeit alleine auf der Platte traf auf die Quarantäne ihrer Hörer*innen. Lange habe sie überlegt, ob sie das Album wirklich wie geplant veröffentlichen solle. Doch letztendlich ist Shilonosova froh darüber, dass Room for the Moon vielleicht genau für diese Zeit gemacht erscheint: „Ich hoffe, mein Album kann jemandem durch diese schwere Zeit helfen. Wenn es einer Person hilft, bin ich glücklich.”

Vergebung und Akzeptanz, vor allem gegenüber sich selbst, und letztendlich Glücklich-Sein bilden das thematische Dreieck, zu dem Kate NV immer wieder während unseres Gesprächs zurückkehrt. Auch in der Quarantäne musste die gebürtig aus Kasan stammende Musikerin lernen, sich selbst zu vergeben: „Es hat lange gebraucht, bis ich realisiert habe, dass diese Zeit nicht wie Urlaub ist und mir selbst vergeben habe, nichts Nützliches gemacht zu haben. Am Anfang war es sehr schwer, aber dann habe ich herausgefunden, wie ich in der neuen Realität existieren kann”, sagt sie. Oft hat ihr Bezug zur Musik eine sehr persönliche Note. Wenn Shilonosova über ihre Musik redet, geht es schnell um persönliches Wachstum oder zwischenmenschliche Beziehungen. So beginnt sie davon zu erzählen, wie sie sich in der Vergangenheit viel Traurigkeit und Frust beschert hat, wenn ihre Erwartungen an andere Menschen nicht eintraten. Die Erkenntnis daraus, Menschen mit mehr Akzeptanz zu begegnen, bedeutete für sie, das auch bei Musik mitzudenken: „Ich will alles, so wie es ist, akzeptieren und Menschen so akzeptieren, wie sie sind. Ich glaube, das ist die gesündeste Weise zu kommunizieren, auch mit Musik. Langsam habe ich den Dreh raus. Ich glaube, ich habe das schon mit Musik geschafft, aber ich habe lange gebraucht, mich auf diesen Ansatz einzulassen”, erklärt sie. Mit allerhand Lebensweisheit erzählt die Russin ihre musikalische Geschichte. Dabei wird klar: Kate NV hat für alles die richtige Metapher oder kluge Antwort parat. 


„Entwicklung ist nie ganz einfach. Wenn etwas wächst, dann kann das schmerzhaft sein”


Diesen Ansatz vollkommener Akzeptanz lernte Shilonosova bei ihrer Erfahrung mit dem Scratch Orchestra in Moskau kennen, einem wandelbaren, losen Zusammenschluss aus ausgebildeten Musiker*innen und unerfahrenen Interessierten. Sie muss bei ihrer Erzählung auflachen: „Das Lustige am Scratch Orchestra ist, dass man es nicht beenden kann, weil es nie begonnen hat.” Das erste Mal trat das Orchester 1969 mit Cornelius Cardew, einem britischen Komponisten und Improvisationsmusiker, in Erscheinung, wurde aber immer wieder in verschiedenen Konstellationen und Zeitpunkten neu auferlebt. Es dient zur experimentellen Erforschung von Klang durch Improvisation in großen Gruppen. Dabei geht es um einen enormen Kooperationsakt, inspiriert von der Fluxus-Bewegung (Kunstbewegung, bei der die Idee hinter dem Kunstwerk wichtiger ist als dessen tatsächliche Form), John Cage (zu ihm später mehr), Free Jazz und Performancekunst.

„Das war eine sehr traumatisierende Erfahrung, wirklich! Aber so ist das mit allen wichtigen Momenten im Leben, die einen großen Einfluss auf dich haben, sie passieren nie einfach so. Entwicklung ist nie ganz einfach. Wenn etwas wächst, dann kann das schmerzhaft sein”, sagt Shilonosova. Das sei wie mit den Milchzähnen: Wenn sie wachsen oder später ausfallen, ist das schmerzhaft, aber extrem wichtig. Zwar bräuchten Menschen per se keine negativen Erfahrungen, doch wenn man die Realität auf eine bestimmte Weise neu erfährt, kann das auch mal überwältigend sein, meint sie. Das Scratch Orchestra hat die Improvisationsbegeisterte in jeder Hinsicht beeinflusst, sagt sie – musikalisch, mental und emotional.

Immer wieder betont Shilonosova, wie wichtig ihr diese Erfahrung ist. Das Improvisieren mit dem Orchester in Moskau habe ihr beigebracht, dass jedes Geräusch Musik sein kann und jeder Mensch ein*e Musiker*in oder Künstler*in sein kann. Da wird die Musikerin auch mal sehr selbstkritisch. Früher sei sie snobistisch an Musik herangegangen: Bestimmte Klänge waren Musik und manche nicht, erst recht nicht Lärm. Diese neue Offenheit, Musik und Harmonien in jeglichen Geräuschen, Lärm oder Stillen zu suchen, habe sie von Grund auf Musik neu denken lassen. „Sobald man anfängt, mit dem Scratch Orchestra zu spielen, bleibt es für immer bei einem. Das fühlt sich an, als würde man einen Setzling in seinem Innersten pflanzen. Wie er dann wächst, hängt von dir ab. Aber du kannst die Pflanze nicht mehr töten, die in dir wächst. Vielleicht ist es ein Baum, vielleicht ein Busch oder eine Blume”, erklärt sie.


„Du weißt nie, ob der Fang gut oder schlecht sein wird. Du weißt nie, ob die Musik zu dir kommen wird wie ein Fisch.”


Wieder eine Eigenart ihres künstlerischen Ichs: Kate NV spricht oft in Bildern. So steht es auch um Musik als solche. Durch ihre Erfahrung mit dem Scratch Orchestra fing sie an, Musik als Persona wahrzunehmen, als separate Kollaborateurin, mit der sie kommuniziert. Erst im Dialog mit Musik entstehen Tracks. Musik besitzt bei ihr eine gewisse Eigenwilligkeit, wie ein*e Freund*in, mit dem*der man eine Unterhaltung führt, auch mal diskutiert, die Meinung des*der anderen aber nie vollkommen ablehnt. „In dieser Art der Unterhaltung lässt man das Gegenüber reden und akzeptiert Änderungen. Eine Unterhaltung ist wie ein Fluss. Sie hat ein Narrativ and ein Ziel, aber gleichzeitig ist sie ziemlich zufällig”, sagt die Wahlmoskauerin. Ihre Unterhaltungen mit der Musik nehmen in verschiedenen Situationen verschiedene Zustände an. Das Komponieren ist anders als das Hören und anders als Live-Auftritte. 

Kate NV upright by Richard Johnathan Miles
Foto: Richard Johnathan Miles

Mit ihrem zweiten Studioalbum для FOR, das entgegen seinem Nachfolger, Room for the Moon, Ambient-getränkt klingt und sich konzeptionell um den Buchla-Synthesizer dreht, improvisierte die Musikerin viel während der Tour. Das sei wie Fischen gehen gewesen. Jeder Auftritt, jedes Publikum, jeder Teich oder Fluss war anders. Beim Fischen muss man ruhig sein, bestimmte Ausrüstung richtig verwenden und sehr aufmerksam und geduldig sein. Das hat Shilonosova als Kind von Ausflügen mit ihrem Vater und Großvater gelernt. „Du weißt nie, ob der Fang gut oder schlecht sein wird. Du weißt nie, ob die Musik zu dir kommen wird wie ein Fisch. Es ist sehr unberechenbar. Aber wenn du es als Fischen gehen denkst und nicht als Musik, die du von Grund auf neu vor einem Publikum produzierst, nimmt dir das die Hälfte der Verantwortung”, sagt sie. So könne sie den Prozess der Live-Musik viel natürlicher wahrnehmen. Das Wissen darum, wie genau sie die Musik mal komponiert hat, hinge nicht wie eine Last über ihr. Dann ist sie Kate, die Musikerin, und nicht Kate, die Komponistin, die von der Live-Situation überwältigt wird. Mit dieser Einstellung gebe sie sich selbst mehr Freiheit und könne sich Fehler besser selbst verzeihen.

Musik, die mit sich reden lässt

Live-Auftritte waren für Shilonosova auch eine gute Gelegenheit, mit Musik kommunizieren zu üben und nicht von jedem Auftritt das absolut Beste zu erwarten. So ähnlich geht sie an das Produzieren heran, wenn sie in ihrer Moskauer WG an Songs bastelt: „Du greifst einfach nach Ideen, aber manchmal sind es nicht die Besten. Das muss man verstehen und sich selbst und die Musik so sein lassen, wie man selbst und die Musik gerade in diesem Moment sein will. Alles dreht sich dabei um Akzeptanz.” Eine Art gezielte Absichtslosigkeit steuert Kate NVs künstlerisches Schaffen. Sie lässt die Musik passieren. Mit vorgefertigten Ideen kann das nicht klappen. Musik ist für die freidenkende Künstlerin eine ganzkörperliche Angelegenheit. Ihr Kopf, ihr Herz und ihr ganzer Körper seien ein Instrument, sagt sie, das sie nutzt, um mit Musik zu kommunizieren. Wenn die Musik zu ihr kommt, lässt sie sie zu: „Ich versuche immer, die Realität in den Prozess mit einzubinden. Zufälligkeit und Musik sind meine ständigen Kollaborateurinnen.” Der Musik ist eben keine Richtung aufzuzwingen. „Genau das ist es. Wenn sie traurig sein will oder ambient, dann ist sie nunmal heute so”, sagt Kate NV und lacht ihr schelmisches Lachen.

Kate NV by Nina Ainbinder
Foto: Nina Ainbinder

Diese Technik, einen Kommunikationsweg mit der Musik zu finden, lernte Shilonosova nicht nur über das Scratch Orchestra kennen, sondern auch über John Cage. Seine Art, die Realität wahrzunehmen, habe sie stark beeinflusst. Das Scratch Orchestra und die damit einhergehende Faszination mit Cage habe ihr ein Fenster in ihrem Kopf geöffnet. Die Vorstellung, dass jede Person ein*e Künstler*in sein könnte, hat ihr Selbstverständnis als Musikerin und ihre Wünsche als solche stark geprägt. „Ich dachte: Warum habe ich mit meinen Augen, meinem Herzen, meinem Verstand und meinem Fenster verschlossen gelebt? Jetzt versuche ich dieses Fenster ständig zu öffnen”, sagt sie. Besonders habe es ihr ein Buch mit einer Zusammenstellung von Interviews mit Cage, Conversing with Cage, angetan: „Wenn ich dieses Buch lese, fühle ich immer, wie eine Blume in meiner Brust aufgeht. Das inspiriert mich sehr. Die Weise, wie er denkt, ist wie ein frischer Luftstoß. Ich fühle mich so ruhig und voller Freude, wenn ich die Gedanken dieses Menschen lese”, sagt Shilonosova. Freude bereitende Momente in ihrem Leben lassen besonders schnell Blumen in ihr aufgehen, sei es nun die Musik, John Cage oder geliebte Erinnerungen.

Fragende Kunst

Kate NV ist keine Person, die mit direkten Aussagen besticht, auch nicht in ihrer Musik. Sie denkt Kunst als Frage. Die Aufgabe der Kunst ist es demnach, die Realität ständig infrage zu stellen. Diese steht aber nicht in einem luftleeren Raum: „Natürlich existiert Kunst immer in einem Kontext. Ich existiere auch in einem Kontext. Ich lebe in Moskau, in Russland. Mir ist alles bewusst, was momentan in der Welt passiert. Ich versuche nicht, dem zu entfliehen oder es zu ignorieren. Ich komponiere Musik, indem ich mit Musik selbst kommuniziere. Das ist auch davon abhängig, wie ich mich generell fühle und der Kontext ist dabei sehr wichtig. Aber ich bevorzuge die Kunst, die Fragen stellt.” Mit ihrer Musik will Shilonosova anregen, ihren Hörer*innen (Interpretations-)Freiheit geben. Mit zu direkten Texten, die das Denken vorschreiben, würde das nicht gehen. Erst wenn die Kunst Fragen aufwirft, beginnt der eigene Kopf zu rattern. Dann kann ein Track wie Treibstoff wirken, über den Inhalt nachzudenken oder sich selbst zu hinterfragen, sagt sie.

Zusammengefasst klingt ihr Schaffensprozess etwas kompliziert: Es wachsen Blumen, Kate NV geht fischen, ihr Kopf wird zu einem Instrument und dann tritt sie in einen Dialog mit der Musik. Ihre Kunst ist das Ergebnis langer Arbeit und Selbstreflektion, doch muss sie sich dafür nicht verbiegen. Ihre musikalische Geschichte ist Teil ihres emotionalen Wachstums. Und so schließt auch unser Interview mit einer ihrer weisen Aussagen. Immer mehr denkt sie darüber nach, aus Moskau wegzuziehen, vielleicht nach New York. Doch wann und wie und ob überhaupt, das muss die Realität entscheiden: „Weißt du, manchmal gelangt ein Gedanke in deinen Kopf. Das Geheimnis ist, nicht zu sorgfältig zu planen, sondern nur den Gedanken in deinen Kopf zu pflanzen und zu sehen, wie die Realität mit Ideen kommt, das umzusetzen. Du musst der Realität ihren Weg lassen. Das ist dasselbe mit Musik, lass einfach alles passieren.”

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