Adiel & Anthony Linell – Raso EP (Danza Tribale)
Der patriarchale Chauvi-Zirkel der Techno-Szene hat mal wieder die YouTube-Comments vollgekotzt. Adiel, italienische Produzentin und DJ, pflügt zwar seit mehreren Jahren den römischen Goa Club um, hat mit Danza Tribale ihr eigenes Label gegründet und gießt ihren abgespeckten Tribal-Techno zum Fünf-Uhr-Tee im Berghain auf. Die Spacko-Realkeeper jammern trotzdem rum – weil Adiel nebenbei modelt, designt oder generell: Frau ist. Meine Fresse, dass wir uns das Gelaber 2020 immer noch antun müssen! Gut also, wenn sie solchen Mist zu Techno aus der Tiefkühltruhe packt, auf Kangding Rays Label Ara veröffentlicht oder neuerdings mit Anthony Linell zusammenarbeitet. Dessen borealer Entwurf von Düster-Ambient und seine Vergangenheit als hypnotisierender Techno-Hasardeur vertragen sich nämlich prächtig mit dem, was die Italieniern unter „ihrem Style” versteht. Musik, die nach dem Abriss das Tempo rausnimmt und Kiefer mahlen lässt. Musik, die langsam ihre Flügel ausbreitet und nicht direkt die Anlage zerschießt. Musik, die einen – so kitschig das auch klingen mag – an den schwitzenden Pfoten nimmt, Pauschal-Reisen in die dunklen Ecken der eigenen Seele veranstaltet und unter all dem aufgetauten 90s-Geballer wie eine Frischzellenkur im Sanatorium für hängengebliebene Raver wirkt. Für ihre Debüt-Kollabo Raso gilt deshalb: Augen zu, Ohren auf – wir stampfen jetzt mit drei Tracks auf dem ideologischen Gebashe rum. Christoph Benkeser
Fideles – Brain Machine (Correspondant)
Auch im Jahr 2020 lebt Italo Disco noch. Und riecht nicht mal komisch, wie im Fall des Duos Fideles anerkennend diagnostiziert werden muss, die sich für ihr Solo-Debüt auf Jennifer Cardinis Qualitätslabel fast neu erfunden haben. Daniele Aprile und Mario Roberti aus Turin kennen die Formen und Formeln der Vergangenheit und wissen sie umstandslos und pragmatisch in die Gegenwart zu transportieren, wovon insbesondere der mit vorhaltigem Groove und fanfarenartigen Synthiehooks reichlich Hitpotential verströmende Titeltrack Zeugnis ablegt. „Conjunction” spielt die Cosmic-Karte, während „Glasses” mit einem Vocoder-Vocal herumspielt und ein dystopischeres Setting abruft. Mit dem Rondo „Blow“ schließt sich der Italo-Schaltkreis. Eine Vinylpressung wäre mehr als wünschenswert. Harry Schmidt
Freddy K – 1995 (Key Vinyl)
Mit mittlerweile 28 Jahren DJ- und Produzentenkarriere auf dem Buckel kann man den Italiener Freddy K zu Recht einen Techno-Dinosaurier nennen. Kaum verwunderlich, wenn nach all der Zeit der ein oder andere vergessene Release im CD-Regal verstaubt. In Freddy Ks Fall kann das auch schonmal das eigene Debütalbum sein – oder zumindest Teile davon. Rage of Age erschien vor ganzen 25 Jahren auf dem römischen Label ACV. Einmal als Doppel-LP mit insgesamt acht Nummern und als Extended-CD mit fünf Bonustracks. Und genau die gerieten in Vergessenheit – bis heute. Drei exklusive Rage of Age-Klassiker gibt es nun erstmals auf Platte, selbstverständlich beim eigenen Label Key Vinyl. Wer bei dem Titel 1995 an Breakbeat-betonten Rave-Sound denkt, der diese Zeit dominiert hat, liegt falsch. Die EP gibt sich anspruchsvoller: Die A-Seite belegt der Acid-geschwängerte Track „Mac-Beth”. Auf der B-Seite erwartet einen mit „Electro K” ein mit Industrial-Samples angereicherter Electro-Song. Der dritte Track „Love Trax” wirkt dagegen ruhig und aufgeräumt. Patrick Wagner
Heidi Sabertooth – With The Void (UFO Inc.)
Geduld ist eine fucking Tugend. Heidi Sabertooth, Sängerin, DJ und Produzentin aus Brooklyn, bringt sie mit. In New York tingelt sie seit den frühen 2010er Jahren die Kellerlokale rauf und runter, hat sich in der Szene einen Namen als hard hittin’ Industrial-Verfechterin mit Hang zur Live-Schrauberei an einem Vintage-Gerätepark gemacht und zuletzt Platten auf Lobster Theremin und Serotonin rausgebracht. Geht also noch, sich die eigene Karriere langsam aufzubauen, Self-Release um Self-Release bei Bandcamp rauszuschießen, um irgendwann von Ellen Allien gefragt zu werden, eine EP auf ihrem Label UFO Inc. beizusteuern. Soll heißen: In der weiten Welt der Heidi Sabertooth ist alles nachhaltig wie Bio-Bergbauernkäse aus dem Dreiländereck. Zum lockeren Däumchendrehen schaut die US-Amerikanerin aber trotzdem nicht vorbei. Auf With The Void gießt sie stilecht zwei Gallonen Acid über ihren Roland-Synthie. Das Teil kreischt, die Beats schmirgeln was das Zeug hält, der Bass klettert im Ausfallschritt die Wände hoch. Und wer die Abrissbirne wie auf „Ur Pushin It” dermaßen brachial durch den Club reitet wie die Frau aus Brooklyn, hat keinen Bock mehr, geduldig in der zweiten Reihe rumzugeigen. Raus mit den Kanonen, hier wird scharf geschossen! Christoph Benkeser
Orbe – Mechanische Apparate (Orbe Records)
Auch in Spanien weiß man mit der deutschen Sprache zu jonglieren: Mechanische Apparate. Die Poesie der Technik; dieser hat sich der Madrider Fernando Sanz alias Orbe – auch mit seinem gleichnamigen Label – von jeher verschrieben. In einer Welt, in der die Maschinen den Takt vorgeben, in den Fabriken, an den Fließbändern von Amazon und Alibaba, wohnt den feingliedrigen Smashern auf dieser EP etwas Romantisches inne. Im Titeltrack gibt es trotz aller Sinnesüberflutung mit gewitterhaften Pads, Beeps und den rollenden Hi-Hats auch einen Moment der Beruhigung: Egal was wir jetzt machen, das Schiff wird schon im Heimathafen anlegen. Man denkt an nächtliche Autobahnfahrten: Lichter fliegen vorbei, LKW fahren immernoch Nase an Stoßstange durch die Landschaft, der Mond ist das Führungslicht und steht am Firmament wie der Stern der drei Weisen.Obschon diese Assoziationen verlocken, ist die Platte eher für den Big-Room-Einsatz gedacht. Treibend, selten melodiös, eher verwirrend unharmonisch, rüttelt es hier permanent im gepflegten Bereich jenseits der 130 BPM. Die Kicks sind deftig, wenn nicht zu bass-lastig, sondern im richtigen Maße zum Tanze auffordernd. Und immer wieder mit tollen Momenten, wie etwa den Chords im letzten Drittel von „Eurofighter Typhoon”. Hier klingt dann gar ein futuristischer Urwald durch, dessen Geräusche nie verstummen werden, aber im richtigen Seinszustand ein Tor zum Jenseits öffnen. Lars Fleischmann