Flugscham ist real. Und trotzdem jetten die Leute um die Welt. Superöko, ohne Flieger, im eigenen Zimmer. Klingt nach Esokram für Traumfänger*innen, funktioniert aber – mit den besten Neuveröffentlichungen aus der internationalen Kassettenszene. Wer sich zwischen Museums-Trips an grauen Grübeltagen und Segeltörns in der Karibik nicht entscheiden kann, shuffelt in Hamburg zu Anti-Prolo-Hip Hop oder fettet das Ledergeschirr für die nächste Techno-Session. Christoph Benkeser mit dem Überblick zu den aktuellen Tape-Veröffentlichungen.

Alphamob – Swaffle Phonk 3 (mafiosibros.)

Alphamob

Schluss mit Schwanzvergleichs-Geblöke von Prolo-Straßenbanden. Hamburg hat in Sachen Hip Hop geilere Seiten zu bieten als Plastikpalmen und Frauenschläger. Amedeo Malagia, auch bekannt als Alphamob, zum Beispiel. Ein Typ, der Bretter straight outta Downtown Memphis produziert, die so breit daherkommen wie der Pornobalken unter seiner Nase. Memphis-Rap aus dem Golden Age of Hip Hop verschifft Malagia schon seit einigen Jahren an die Elbe. Wir erinnern uns: Das ist der Sound, den Legowelt vor ein paar Jahren mit einem Mix auf YouTube ins kollektive Gedächtnis der Elektronik-Fans gespült hat. Mit dem letzten Teil der Swaffle Phonk-Trilogie schubbst Malagia, der Realkeeper aus Hamburg-Blankenese, nochmal eine pumpende 808 in den Container, drischt ein paar Samples von vorvorgestern rein und bastelt mit Features wie Wien-Export Keke, Haiyti und ERRdeKa den Dirty Ol’ Südstaaten-Sound aus den Neunzigern nach. Mit Möchtegern-Machismo aus der Abrissbirnen-Ecke hat die Sache nichts zu tun. „Mir geht es viel mehr um den Vibe”, sagt Malagia. Und weil das runtergeht wie picksüßer Lean, gibt’s die Trilogie nicht nur als schick vertütete Tapes, sondern auch auf Vinyl. Wer die ausgewaschenen Baggiepants aus dem Schrank holen und den alten Ghettoblaster vom großen Bruder reaktivieren möchte, greift zum Tape!

House Cookin Show Vol. II – Deep Talent (House Cookin’ Records/Shite Music)

House Cookin Show

Hört ihr die Sirenen? Die Arche Noah der House-Mukke sticht in See. Mal eben ein paar Producer*innen eingesackelt, schon schippert der von House Cookin’ Records gecharterte Kahn über den Atlantik, den Pazifik, durch einsame Kanäle und den ein oder anderen Golf – von überall her pusten Subwoofer frischen Wind in die Segel. Und während Seemansknoten-Kicks die Mägen zu Pudding verarbeiten, fegen Deep House-Chords übers Deck. Hey, Alter! Schüttelt hier jemand ein paar Drinks? Der Sound ist übel nice, und hier wackeln echt nur braungebrannte All-inklusive-Influencer*innen rum, die sich fünf Wochen in der Karibik abseilen, um dem Winter mit instagramtauglichen Segeltörns auf 120 Meter langen Promi-Yachten ein paar Likes abzuknöpfen. Ob mit Jackin’ House wie bei Rawdios „Around the World” oder der Dance-like-it’s-1977-Discokugel „Feel It” von Hust, die Compilation des Brüsseler Labels legt zwölf Knoten zu und bringt uns in trockenen Tüchern durch die Sintflut.

Nauker & Delta Rain Dance – Charakters (Jacktone Records)

Stellen wir uns vor, wir streifen durchs Grüne. Keine Menschen, keine Wege – nur Farne, Flüsse und frische Luft. An einem schönen Fleckchen legen wir uns in ein Bett aus Moos. Die Sonne scheint uns ins Gesicht, wir atmen das Gefühl von Alleinsein ein und lauschen: Grillen zirpen, Frösche quaken, Wasser plätschert. Nichts stört unseren Gedankenausflug. Bis sich Geräusche einmischen, die nicht dazugehören. Eigentlich. Denn wer schleppt schon einen Synthesizer in den Wald, um damit herumzueiern? Die in Berlin lebenden Künstler Nauker und Delta Rain Dance grinsen. Natürlich die! Nauker treibt sich im Umfeld von Money $ex Records rum, wo Delta Rain Dance schon eine Weile lang als Glenn Astro den Bio-Waldhonig aufs Butterbrot schmiert. Ein Happy Accident also, dass die beiden für das zwischen Detroit und Berlin wandernde Jacktone Records ein Album aufgenommen haben, das den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Mit dem Jazz-House, den Konstantin als Glenn Astro produziert, hat die Sache nämlich nichts zu tun. „Delta Rain Dance ist mein dystopisches Projekt. Es ist künstlicher und synthetischer, weil ich damit den Zuschreibungen entkommen möchte, mit denen die Leute den Namen Glenn Astro im Laufe der Jahre in Verbindung gebracht haben”, sagt der gebürtige Essener. Das passt – die elektronischen Spielereien polyrhythmisieren sich durch einen Dschungel aus Bleeps und Brimborium, heben in ihren Sequenzen nie ab, und pfeifen wie Vöglein im Walde. Musik, für die man an verbotenen Äpfeln kaut und das Paradies verkauft.

Nikita von Tiraspol – Was Lucifer more beautiful than Adonis? (Noorden)

Nikita von Tiraspol

Man sollte einen wesentlichen Teil seiner Liebe für Leute bewahren, die ihre Songs nach einer knallbunten Kaugummimischung aus Kalendersprüchen für angehende Philosophiestudent*innen und Thirtysomething-Krisen-Tagebucheinträgen benennen. Nikita von Tiraspol stünde dann nicht nur eine feste Umarmung, sondern auch ein kuschliges Eck in unserem Herzen zu. „Während meines Aufenthalts am Flughafen” oder „Am Grund der Hölle ist jede Tat ein Wunder” sind Titel, die er für seine Tape-EP auf Noorden ausgewählt hat. Klingt nach Masterstudiengang für Sprachkunst und angewandte Hirnwichserei. Aber: Von besagtem Flughafen ist der Brückenschlag zu Enos Airports nicht weit. Auf Was Lucifer more beautiful than Adonis? tröpfeln in Luftpolsterfolie eingewickelte Beats in ein Fass, randvoll mit Maschinenloops und Ambient-Schmierereien, für die man sich auf der Afterhour mit Velours-Polstern auf den Teppichboden wirft. Zumindest auf der A-Seite. Drehen wir das Tape, legen es wieder ein und pressen auf Start, verschwinden die Kicks. Zeitlupen-Jazz in Bohren & der Club Of Gore-Manier zischelt aus den Boxen. Irgendwer packt eine Conga aus. Später zwitschern ein paar frühe Vögel dem Morgengrauen entgegen. Die Sache wird kitschig, man übergießt sich mit Olivenöl und zappelt in der Badewanne rum. Must-Have-Tape!

Phirnis/Mzungu – Presence/Cadence (TC5)

„Lärm besitzt etwas seltsam Schönes”, hat Trent Reznor gesagt, bevor er Nine Inch Nails in seine Wohnzimmerwand hämmerte. Egal ob der fragwürdige Ansatz von faschistischen Italo-Futuristen der 1910er Jahre, japanischer Schmerz-Approach von Merzbow und Jojo Hiroshige oder existenzialistischer Experimental-Krach aus Rundfunkanstalten der Nachkriegsjahre – Noise sprengt verstopfte Ohrwascheln mit kontrollierten Explosionen, gießt Apfelessig nach und sorgt für, nun ja, schöne Überaschungen. Als Phirnis verbindet der in Wien lebende Klangtüftler Kai Ginkel sozialwissenschaftlichen Background (er hat seine Dissertation über Noise geschrieben) mit praktischer Erfahrung im Feld. Drones pfeifen aus dem letzten Loch, Klaviere klimpern wie auf Caretaker-Platten, der Synthesizer radikalisiert sich innerhalb von Frequenzen, die Elfenbeintürme zerpulvern. Weil Martin Hensel, Gründer des Bremer Mikrolabels TC5, viel Fokus auf Kollaborationen legt, bespielt der britische Künstler Mzungu die B-Seite. Er interpretiert die Stücke zu einem Remix, filtert, verdreht, verlangsamt. Und tauscht das Schmirgelpapier von Phirnis gegen Federn, die er über die Handfläche streichelt, bis aus Krach wieder Ambient wird.

Psee/Mårble/Koyil – Trainspotti (Hair Del. Records)

Raus mit dem Räucherwerk, rein mit den Gedanken. Kokeln die Räucherstäbchen erst mal vor sich hin, hängen wir uns beim Sonnengruß richtig rein und pusten auf selbstgeschnitzten Kuckuckspfeifen ein paar Wünsche in den Wind. Wer auf Ethno-Kram allergisch reagiert und trotzdem ins Nirwana will, darf sich bei Hair Del. Records Hilfe holen. Das Label kommt aus Sankt Petersburg, die Producer aus Sibirien. Mehr Infos gibt’s nicht. Geheimniskrämerei auf Nachfrage – wer hinter Hair Del. steckt, weiß nicht mal der russische Geheimdienst. Ob der sich mit dem in Kleinstauflagen produzierenden Künstler*innenkolletiv aus dem russischen Underground überhaupt auseinandersetzt, ist eine andere Frage. Schließlich ist hier alles artsy, self-made und ziemlich experimentell. Die Einleger für die Kassetten bepinseln die Künstler*innen selbst, tunken Zahnbürsten in Acrylfarbe und bespritzen die Tapes. Dilettantismus zum Niederknien. Auf den Songs zirpen Grillen zwischen Glockenspielen im buddhistischen Tempel. Psee, Mårble und Koyil klöppeln goldene Klangschalen auf Betriebstemperatur, düdeln auf Flöten rum und saugen uns mit ihrem Post-Sprechkunst-Gebrabbel nach drei Minuten ein wie ein Dyson-Staubsauger im Boost-Modus.

Rojin Sharafi – Urns Waiting To Be Fed (Zabte Sote)

Urns Waiting To Be Fed

Die iranische Tausendsasserin Rojin Sharafi schickt uns ins Naturhistorische Museum, dreht das Licht ab und lässt uns über Nacht inmitten ausgestopfter Krabbelviecher und Dino-Gerippen schmoren. Ganz allein in der Finsternis, mit der Albtraumvorstellung einer Mischung aus Ben Stiller-Komödie, Toy Story 3 und Jurassic Park im Kopf, pinkeln wir uns vor Angst in die Hose. Der Boden knarzt, die Türen quietschen, von hinten nähert sich ein wobbelndes Etwas. Was Sharafi auf ihrem Debütalbum für Zabte Sote, das Label des iranischen Soundkünstlers Ata „Sote“ Ebtekar, zusammenmischt, ist großes Popcornkino minus übertriebene Spezialeffekte vor dem Greenscreen. Urns Waiting To Be Fed ist ein Spiegelkabinett aus bis zur Unkenntlichkeit verfremdeten Klängen aus Sharafis Heimat Teheran und schmatzenden Klangmaschinen mit einem Hang zum organisierten Chaos. Sharafi, die mit 17 nach Wien auswanderte, um Komposition und Tonmeisterin zu studieren, sagt selbst: „Schwer kategorisierbar zu sein, finde ich interessant.” Und weil so viel auf einmal passiert, führe das zu „einer gewissen ausgedachten Unruhe”. Wer auf das akademische Understatement von Ikeda steht, Aphex Twins Drukqs schon mal bei Starbucks gehört hat und trotzdem im anorganischen Organismus von Matmos aufgeht, schiebt sich das Tape sofort ins Deck.

Various Artists – The Blaq Bunch Vol.3 (Blaq Numbers)

VA - The Blaq Bunch

„Yo, so kricht der Somma 2019 doch noch nen juten Abschluss!”, hat ein Hörer bei Bandcamp unter den Blaq Bunch Vol.3-Sampler getippt – und übertreibt damit kein bisschen. Das von Matthias Fiedler gegründete Blaq Numbers gründelt seit 2015 in deepen House-Gewässern, steckt das Köpfchen aber immer häufiger über Wasser, um sich nach Disco, Hip Hop und Downbeat umzusehen. Hauptsache, das Ding hat Funk und Soul und stößt mit wonky Bässen ein paar konzentrische Kreise in den Bergsee. Schließlich wollen wir beim Blick aus dem Fenster nicht in graue Tristesse starren und uns auf gar keinen Fall in eine anbahnende Winterdepression stürzen. Also runter mit dem als 21 Wohlfühl-Tracks getarnten Antidepressivum und Daumenhalten für ein paar trippy Nebeneffekte. Spoiler: Die stellen sich nach fünf Tracks ein! Mit auf der Compilation sind neben alten Label-Hasen wie Explorer of the Humankind, Last Nubian und DJ Psychiatre auch jede Menge Neuentdeckungen, die uns die ollen Dockermützen vom Kopf streichen und in ihren Bedroom-Studios gegen die überzogene Vorstellung von einem endlosen Sommer eintauschen.

Viktor Kalima – Loyalty Beyond (Amok Tapes)

Viktor Kalima – Loyalty Beyond (Amok Tapes)

Keinen Bock, im Ambient-Harem auf dem Weg zur Erleuchtung wegzuratzen? Amok Tapes ist dein Freund. Das Berliner Label prügelt seit 2015 mit Vorschlaghammer-Beats in die Nieren von Ravern, die ihr Ledergeschirr freitags einfetten, um sicher durchs Wochenende zu driften. Verträumte Melodien-Junkies steppen lieber einen Schritt zurück – hier wird gelötet! Viktor Kalima schmeißt mit Loyalty Beyond ein Tape raus, bei dem die Sequencer in feinster New Beat-Manier durchbrennen. Kicks rattern wie getunte Traktoren über Felder, Bässe gurgeln im Darkroom-Bälleparadies und weiter hinten spritzen Funken, weil irgendjemand wie bekloppt an Metallteilen rumflext. Gut möglich, dass der Typ mit der verspiegelten Schweißermaske Mikko Virtala ist. Der Finne veröffentlichte als SEXFORSELFHELP schon Folter-Noise, als alle anderen noch an High-Pass-Filtern für ihr Modularsystem herumgebastelt haben. Neuerdings quetscht er als Viktor Kalima ein paar Big Room-Beats zwischen den Krach und sorgt für gleißende Gesichter im Tresor. Wer sich das gibt, hat mit der Welt noch nicht abgeschlossen!

Wobbly – Monitress (Hausu Mountain)

Wobbly

Maschinen kontrollieren, überwachen und optimieren uns Menschen. Was passiert, wenn man den Spieß umdreht? Jon Leidecker hat es ausprobiert und klaut zu Versuchszwecken Daten. Klar, man will es sich mit den Dingern ja nicht verscherzen. Der Mittvierziger aus San Francisco beschäftigt sich seit den 80er Jahren mit elektronischer Musik, hat mit Matmos, Dieter Moebius und David Toop zusammengearbeitet, begleitet seit 2019 Thurston Moore in seiner Group und spielt gerade mit der US-Experimental-Band Negativland ein neues Album ein. Ach ja, und auf dem eh schon immer für abgedrehte Sounds berüchtigten Hausu Mountain veröffentlicht Leidecker als Wobbly ein Tape, auf dem er iPhones mit anderem Synthie-Kram verdrahtet, manipuliert und singen lässt, bis Siri vor Neid verstummt. Zwei Dutzend Geräte listet der gute Mann in der Presseaussendung auf. Ziemlich viel Holz für Chipmunk-Mukke, die einen auf direktem Weg in den Wahnsinn treibt. Aber hey: Man solle sich das live ansehen, dann checke man auch, dass das ein Rahmen sei, um Beziehungen zwischen uns und unseren Maschinen hörbar zu machen. Meint Leidecker. Wir sollten ihm vertrauen – auch wenn’s nur fürs Tape reicht.

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