Fluffig-jazzige Chillout-Electronica geht immer. Von Hidetoshi Koizumi sogar schon satte 30 Jahre. So lange ist der Japaner im Land der Sundowner unterwegs. Dabei begann er erst vor zehn Jahren, seine Produktionen in größerem Umfang als Hybrid Leisureland zu veröffentlichen. Dennoch blieben und bleiben seine Produktionen rar, seine Veröffentlichungen selten, zu erratisch und speziell für die Playlists der Streamingindustrie. Entsprechend wohl sortiert, lange durchdacht, sorgfältig abgehangen und fein poliert fühlen sich die Stücke auf Flower Bullet (Sonar Library Records, 7. November) an. Etwas mehr auf der Ambient-Seite als zuvor, feinstofflich, fließend und warm. Es ist die durchdringende klangliche Wärme, die seine Stücke so edel und besonders macht.
Langsamkeit in ihre abstrakten Extreme zu treiben und dabei die Emotionen mitnehmen, das gehört zu den schwereren Übungen der avancierten Beatwissenschaft. Producer:innen wie Jlin oder Loraine James gelingt das regelmäßig mit abstrakter Bass Music wie Juke und Footwork. Der Brite Guy Brewer kommt allerdings aus Deep Techno (mit seinem bekanntesten Alias Shifted) und Breakbeats (als Commix) und verlegt als Carrier die geraden bis halbgeraden Beats in dunkle, höhlenartige Hallräume von einer Intensität, die nicht einmal Dub je ausleuchten konnte. Nach drei EPs auf verschiedenen Labeln erscheint das Langdebüt Rhythm Immortal (Modern Love, 24. Oktober) auf exakt der breitenwirksamen Plattform, die sein radikal verlangsamter Hybrid aus Dub Techno und Drum’n’Bass verdient. Allzu viele Vorbilder gibt es dazu nicht. Mitte der Neunziger hat Photek ähnliche minimalistische Soundcapes aus abstrahiert runtergepitchtem Drum’n’Bass geschaffen, etwa die EP Ni Ten Ichi Ryu, bevor er mit seinem ersten Hit-Album den relativen Drum’n’Bass-Mainstream erschloss. Es wird spannend, zu sehen, wie es Carrier in der Hinsicht ergehen wird.
Liegt so etwas wie ein Millennium-Electronica-Revival in der Luft? Nach zehn Jahren Stille hat der japanische Elektroakustik-Innovator und Electronica-Miterfinder Nobukazu Takemura ein musikalisches Statement ausgegeben, das weder in Umfang noch Innovationskraft Fragen oder Wünsche offen lässt. Knot of Meanings (Thrill Jockey, 26. September) zieht Inspiration aus vielerlei Quellen – den Schriften des mittelalterlichen Philosophen und Mystikers Meister Eckhart, der Psychoanalyse Ferenczi Sándors, der Sprachen der Tiere, biblischen Themen, bis hin zu kleinen Impressionen von Takemuras zahlreichen Reisen durch Europa und den Rest der Welt, die kritisch-affirmative Auseinandersetzung mit Katholizismus und Algorithmen in minimalistisch computerisierter Produktionstechnik ganz alter Schule inklusive. Besondere Akzente setzt die extreme Intonation der Gastvokalistin Doro. Takemura ist offenbar einer, der nie stehen bleiben kann, der Komplexität verinnerlicht hat und Neues wie nebenbei erschafft.
Das letzte ausführliche Lebenszeichen der The-Notwist-und-mehr-Tausendsassas Cico Beck und Nicolas Sierig alias Joasihno ist ebenfalls beinahe eine Dekade her. Ihr aktuelles Album Spots (Alien Transistor, 31. Oktober) ist ebenfalls ziemlich ausladend, und es schließt emotional und charakterlich beinahe nahtlos an Nobukazu Takemuras aktuelles Großwerk an. Mit einem Sound, in dem elektronische und akustische Elemente organisch zusammenfließen, ist Spots etwas geradliniger und melancholischer, klingt etwas mehr nach Weilheimer Indie-Pop. Die angenehm herausfordernde Hibbeligkeit macht aber auch hier den entscheidenden Unterschied aus. Ein hintergründig-blubbernder Fluss freundlich zugänglicher Pling-Plong-Sounds muss nicht in Beliebigkeit oder Belanglosigkeit enden. Dafür steht dieses erfreuliche Mini-Revival jederzeit ein.
War eigentlich schon Piano Day? Egal, im Motherboard braucht das Instrument keine zusätzliche Werbung, hier ist jeder Monat Piano Month. Denn irgendwie ist in der Schwemme neoromantischer Neoklassik auf dem Klavier doch immer etwas richtig Gutes und Interessantes zu finden. Zum Beispiel von der finnischen Schwedin Iiris Viljanen. Sie praktiziert das Solo-Piano seit fast 20 Jahren, scheint nun aber auf dem Sprung zu Höherem. Ein ganzes Album voll kurzer impressionistischer Solostücke, allerhöchstens von ein bisschen Vocals oder auf Lackiertholz geklopftem Geklapper begleitet, kommt So Much Of You Was Sleeping (Sing A Song Fighter, 3. Oktober) als blaugolden-schimmernde Fusion von Jazz und Improv nach Art von Keith Jarrett (The Köln Concert, eh klar), Neoklassik der Pop-affinen, aber doch etwas wagemutigeren Art, wie von Hania Rani oder Carlos Cipa, und in manchen Momenten und des klaviergetriebenen Ambient von Ryūichi Sakamoto oder Harold Budd daher. Die entscheidende Differenz zu all den Namedropping-Referenzen liegt in der lyrischen Konzentration. Viljanen spielt nicht auf Dauer, bleibt dennoch in einem verbindlichen Flow. Und das mit einer Ideendichte, die in jedem der bespielten Genres selten wäre.