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Motherboard: März 2025

Wenn es ein einzelnes Stück gibt, das nicht nur das popkulturelle Brat-Jahr 2024 in seiner Essenz widerspiegelt, nicht von Charli ist, und darüber hinaus in kluger Melancholie und härtest-bouncender Dringlichkeit ganz ohne Beats auskommt – in anderen Worten ein absolutes Motherboard-Lieblingslied des vergangenen Jahres – dann ist das „Family & Friends” der Französin Marylou Mayniel alias Oklou. Das lange, wirklich lange erwartete Album Choke Enough (True Panther, 7. Februar), überhaupt erst ihr zweites in über zehn Jahren, verkompliziert diese post-jugendlichen Emo-Wirrungen in der tatsächlich noch immer weitgehend unbelegten Zwischenwelt, die sich von Hyperpop zu Folktronica auftut. Fraglos ein Album des Jahres, vielleicht sogar des Jahrzehnts.

Die beiden Vielfachmusiker:innen More Eaze & Claire Rousay aus gegenüberliegenden Ecken der USA haben unauffällig, doch hartnäckig und höchst produktiv einen immensen Korpus an Soloarbeiten und Kollaborationen geschaffen, der stilistisch und inhaltlich immer wieder zu überraschen wusste. Ihr musikalisch-ästhetischer Forschergeist führte zu Noise-Collagen, Field Recordings, vergrübeltem Trap, digitalem Folk oder glamourösem Hyperpop, jeweils kreuz und quer (queer) arrangiert, mit Streichquartett oder Sample-Glitch. Dass sie dabei jeweils höchst konsistent interessant blieben, dass noch jede ungeahnte musikalische Abzweigung, die sie nahmen, es wert war, verfolgt zu werden, macht sie zu Influencer:innen im tiefsten Wortsinn.

Da war beinahe schon klar, dass sie zusammen nach dem hedonistischen tanzbaren Album Never Stop Texting Me auf Orange Milk, etwas ganz anderes machen würden. Das Mini-Album No Floor (Thrill Jockey, 21. März) kommt tatsächlich ohne Vocals und Beats aus, ist dennoch keine Rückkehr zu etwas wie Ambient. Als Beschreibung mag es zwar grob passen, doch die Produktion und Struktur der Stücke unterscheidet sich wiederum von allem, was sie bisher gemacht haben, nimmt doch viele Elemente ihrer vergangenen Arbeiten auf und stellt sie in neue Umgebungen, etwa Rousays jüngste Liebe zu ausgefeilten Streicher-Arrangements, die in den kurzen, stillen Stücken auf No Floor eine ganz neue Bedeutung bekommen. Mauri Maurice und Claire Rousay ist also unbedingt und immer zu folgen.

Sind die koreanischen Instrumente Yanggeum und Piri die neuen Pads? Ist All Living Things (tak:til/Glitterbeat, 14. Februar) der neue Acid House aus organischen Materialien? Die seit ungefähr zehn Jahren und vier Alben noch immer komplett unvergleichlichen Sounds der koreanischen Ausnahmekünstlerin Park Jiha holen jedenfalls aus dem Hackbrett und der Flöte konsequent untraditionelle, eigenartige, obertonreiche, am harmonischen Spektrum zerrende, hirnerweichende wie körperbetont immersive Sounds, die in minimalistisch-repetitiven Strukturen und hochtönigen Drones sofort wiedererkennbar einzigartig sind. Ganz Neue Musik, die unmittelbar in Kopf und Beine geht.

Producerin Jennifer Lee aus Los Angeles war in der US-amerikanischen Dance- und Club-Szene dies- wie jenseits von EDM schon immer eine Ausnahme. Ihr Sound ist ein überaus optimistischer Vorschlag, dass elektronische Tanzmusik keine Abgrenzungen braucht, dass Techno und House, klassische Disco, City Pop, Diva-eske Vocals, R’n’B und Trap organisch und natürlich hineingehören. Ihr Hauptprojekt TOKiMONSTA verfolgt diese Idee seit über 15 Jahren mit großem Erfolg. Seit Lee eine Gehirnoperation wegen einer angeborenen Krankheit nur knapp überlebte und in der Folge ihren Produktionsprozess noch einmal von Grund auf neu lernen und überdenken musste, hat ihre Musik einen qualitativen und emotionalen Sprung gemacht. Eine Entwicklung, von der ihr jüngstes Album Eternal Reverie (Young Art, 7. März) erzählt. Es ist musikalisch noch diverser als zuvor, doch in sich konsistenter. Was nicht zuletzt an dem offenbaren Optimismus, einer existenziellen Lebensfreude und Weltumarmung ihrer fast durchweg kollaborativen Tracks liegt.

Diskurs-Pop, allein der Begriff klingt ein wenig angeschimmelt. Musikalisch geht das in Frisch und Zeitgemäß, jedenfalls von der Berliner Australierin Eilis Frawley. Vielleicht einfach, weil sich ihr Solodebüt Fall Forward (Sinnbus, 07. März) musikalisch und inhaltlich mehr zutraut als der große Rest da draußen, sich einfach hinstellt und catchy Tunes mit coolem Sprechgesang und feministischen Inhalten (zum Weiterdenken) in der verallgemeinerten Attitüde einer kunsthochschulstudierten Ausprobier-Avantgarde kombiniert. Frawley ist ansonsten Schlagzeugerin in Indie-Zusammenhängen, etwa für die nicht nur im Motherboard innig geliebte Anika, und gerne noch in global-Berliner Post-Punk- oder Kraut-Wave-Outfits wie Kara Delik oder Restless. Ihr Album ist nichts davon allein, doch trägt es von allem etwas in sich.

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