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Chlär: „Es ist einfach, das verrückteste Zeug zu machen!”

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Chlär ist derzeit viel beschäftigt. Als Techno-DJ ist der Schweizer weltweit unterwegs. Als Produzent macht er seit einigen Jahren mit Veröffentlichungen auf renommierten Labels wie Mutual Rytm oder Vault Records auf sich aufmerksam. Zudem ist er Teil des Duos Funk Assault und Mitbegründer des Labels Primal Instinct.

Sein eigenwilliger Sound bildete sich dabei nach und nach heraus und ist auf seiner EP Modern Survival für das eigene Label am deutlichsten zu hören. Chlärs Stil zeichnet sich durch groovige Percussions, raffinierte Synth-Lines und einen satten, wilden Sound aus, der trotz seiner Intensität nie überladen wirkt.

Als DJ schafft es der Mittzwanziger, trotz vielschichtiger Layers zugänglich zu bleiben und den Dancefloor mit Energie zu füllen. Er spielt auf angesagten Festivals wie dem ADE oder in den großen Techno-Clubs wie dem Bassiani.

GROOVE-Autor Julian Fischer hat sich mit Chlär in seiner Wahlheimat Berlin getroffen und sprach mit ihm über illegale Raves in der Schweiz, seine Arbeitssucht und die vermeintliche Nutzlosigkeit von Techno.

Für das Gespräch wartet Charles Accaris, bekannt als Chlär, bereits im Hof der Alten Münze. Kürzlich hat er einen Gig mit seinem Jugendidol Dax J in Brüssel gespielt. „Es war das vierte Mal, dass wir zusammen spielten, und das war schon ziemlich gut”, sagt er. Mit Funk-Assault-Partner Alarico, dem Niederländer stranger und Dax J verstehe er sich beim Auflegen wirklich sehr gut. Sie hätten denselben Ansatz, nämlich mit vielen Layern zu improvisieren.

Nicht erst seit gestern im Rampenlicht: Chlär (Foto: Presse)

Vor dem ersten Gig mit Dax J war Charles etwas aufgeregt. „Aber Dax ist super offen und will mit anderen spielen. Er sieht mich nicht als dieses junge Talent, sondern als Kollegen”, sagt Charles. Dass er heute mit Dax J spielt, sei für ihn komplett surreal. Denn vor ungefähr zehn Jahren buchte er den britischen Techno-Star noch für seine eigenen Events in der Schweiz und träumte damals von einem Remix von ihm.

Techno-DJ ohne Umwege

Bereits als Teenager kam Charles mit der illegalen Rave-Szene in der Schweiz in Kontakt. Weil junge Künstler:innen wenig Chancen bekamen, in den Clubs aufzulegen, war diese dort sehr groß. Der erste Rave war für Charles ein Erweckungserlebnis. Damals wusste er sofort, dass er genau diese Musik machen will. Er organisierte daraufhin seine eigenen Partys unter Brücken oder in Wäldern entlang des Genfer Sees.

Mit seinem Freund Jules Auderset, bekannt als The Chronics, veranstaltete er ab 2017 eine Eventreihe mit ihrem Label Bipolar Disorder in Clubs wie dem Zoo in Genf oder dem Folklor in Lausanne. Ungefähr zur selben Zeit veröffentlichte er erstmals Musik unter dem Namen Chlär. Dass noch heute keiner so richtig weiß, wie sein Künstlername ausgesprochen wird, gefällt dem Schweizer.

Wie spricht man eigentlich Chlär aus? (Foto: Orio Reverter)

Die Rave-Kultur in der Schweiz war für Charles allerdings nicht der erste Berührungspunkt mit elektronischer Musik. Sein Vater, ein ausgebildeter Gitarrist, zeigte ihm früh einige Pioniere auf diesem Gebiet, wie die Band Kraftwerk oder Vertreter der Musique concrète. Musik spielte neben Sport und den Bergen eine wichtige Rolle in Charles’ Kindheit.

Mit acht Jahren nahm er Gitarrenunterricht. Mit etwa dreizehn fängt er an, eigene Sachen zu produzieren – gelangweilt davon, auf der Gitarre immer nur die Songs anderer zu spielen. Bis zu seinem Rave-Erlebnis produzierte er alles Mögliche. Einflüsse waren damals Dominik Eulberg, The Prodigy und The Chemical Brothers. In Hip-Hop und Drum’n’Bass probierte er sich ebenfalls.

Berlin, Corona, Arbeitssucht

Bis Charles Ende 2017 nach Berlin zog, um Musikproduktion zu studieren und an seiner DJ-Karriere zu arbeiten, sah er Musik lediglich als Hobby. Eigentlich wollte er Physik studieren. Die Wissenschaften hätten ihn schon immer interessiert. Letztendlich war es sein Vater, der ihn in Richtung Musik schubste. „Er hat mich darauf hingewiesen, dass ich mehr Musik als Physik gemacht habe, und mich ermutigt, es zu probieren”, so Charles.

Ab da gab es für ihn keinen Weg zurück. Im Gegensatz zu anderen Zugezogenen in Berlin verzichtete er aufs Party-Machen und schloss sich förmlich ein: „Als ich mich für eine Karriere als DJ und Produzent entschied, hab’ ich mir gesagt: Bleib’ zu Hause und produziere, bis du ein starkes Release hast.”

„Meine größte Angst war damals, vergessen zu werden.”

Als seine Karriere dann gerade anfing zu wachsen, brach die Corona-Pandemie herein. Für Charles ein schlechter Zeitpunkt und keine schöne Zeit. Während sich einige DJs über den Freiraum zum Produzieren freuten, hatte der Schweizer das Gefühl, bei null anfangen zu müssen. „Meine größte Angst war damals, vergessen zu werden”, so Charles. Um überall sichtbar zu sein, hat er deshalb weiter viel produziert und pro Monat einen Podcast gemacht. Zudem begann er ein Masterstudium in Wirtschaftswissenschaften. Er wollte etwas in der Hand haben, falls das mit dem Auflegen und der Musik doch nicht klappt. Schließlich kam so viel zusammen, dass er einen Burnout erlitt.

Charles nahm sich deshalb eine Auszeit und suchte sich therapeutische Unterstützung – Diagnose: Arbeitssucht. „Das ist ein wirkliches Ding, auch in unserer Szene”, sagt Charles. Im Nachhinein sei er froh darüber, denn er habe viel daraus gelernt. „Arbeitssucht oder Sucht generell rührt ja von einem Problem mit dem Selbstwert. Warum musst du so viel arbeiten und kompensieren?”, sagt er. Mittlerweile kennt er seine Triggerpunkte und weiß, wann er ein bisschen vom Gas muss.

Sinnkrise Techno

Die Corona-Pandemie war für Charles allerdings auch eine schwierige Zeit, weil er sehr extrovertiert sei. „Ich muss mit der Welt verbunden sein, um inspiriert zu bleiben, auch mit der Szene”, sagt er. Von Treffen mit Kollegen wie beispielsweise Alarico hat er viel gelernt. Auch das Auflegen im Club hat ihm gezeigt, welche Musik ihn interessiert und wie er sie produzieren sollte. Dass er nach der Pandemie relativ gut an seine Karriere anknüpfen konnte, lässt ihm diese Zeit heute größtenteils wie eine sinnvolle Pause erscheinen.

Zweifel? Chlär! (Foto: Oriol Reverter)

Doch verstärkten sich bei Charles etwa Zweifel darüber, welchen Nutzen er als DJ und Produzent für die Gesellschaft hat. Dass Techno und die Clubkultur während der Pandemie von dieser wenig unterstützt wurden, hat ihn hart getroffen. „Es ist kein Problem, wenn Clubs schließen, weil für die meisten Leute da einfach eine Gruppe von Junkies hingeht, um Drogen zu nehmen und Party zu machen”, sagt er.

Aber Charles will akzeptiert werden und kein Außenseiter sein, nur weil er Techno macht. Die Frage, ob er als Techno-DJ etwas zur Gesellschaft beiträgt, beschäftigt ihn schon sein ganzes Leben. „Ich fühle mich oft wie ein Clown, der in seinem Zimmer Musik macht, die die Leute nach einer Woche wieder vergessen.”

Gemeinsam tanzen

Für Charles ist es ein Kampf mit sich selbst, wobei es Momente gibt, in denen er sich sinnhaft erfährt – vor allem beim Auflegen. Von Meilensteinen als DJ will er deshalb auch nichts wissen. Wichtig für ihn waren jene Momente, in denen eine Gemeinschaft auf dem Dancefloor entstand, die mehr war als synchrone Blicke hin zur DJ-Booth, so wie bei seinen Funk-Assault-Showcases im Watergate oder bei einigen Gigs im Bassiani.

Ein Auftritt im Radion in Amsterdam bleibt dabei besonders hängen. „Ich habe dort den Track „Hot Spot” von Shared Work gespielt. Die Crowd hat plötzlich nicht mehr mich angeschaut, sondern sich gegenseitig und zusammen getanzt,” erzählt Charles sichtlich emotional. Für ihn war das ein Schlüsselerlebnis – nicht nur persönlich, sondern auch musikalisch.

„Kunst sollte etwas bedeuten.”

Charles beschäftigte sich danach intensiv mit dem Track und wollte herausfinden, was diese Reaktion hervorgerufen hat, tauchte ab ins rabbit hole. Ausgehend von musikalischen Themen wie beispielsweise dem Groove kam er zu sozialen und psychologischen Fragen. Warum mögen wir Techno überhaupt? Warum versammeln wir uns in dunklen, stickigen Räumen und tanzen gemeinsam? 

Für den Schweizer ist es wichtig, von Grund auf zu verstehen, wie bestimmte Sachen funktionieren, so auch Musik. An der Hochschule lernte er nicht nur einen systematischen Zugang zu Sound und Musikproduktion, sondern auch zu recherchieren und Essays zu schreiben. Diese Fähigkeiten nutzte er, um sich den aufgeworfenen Fragen wissenschaftlich zu nähern.

Techno ist crazy

Mittlerweile sei Charles davon überzeugt, dass Techno wichtig ist – auch für die Gesellschaft. „Techno ist so crazy”, sagt er. „Es ist quasi dazu gemacht, Leute zusammenzubringen und einige unserer wichtigsten Bedürfnisse zu erfüllen – nämlich als Gemeinschaft zusammen zu sein.” Diese Erkenntnisse waren für Charles jedoch nicht nur persönlich wichtig, sondern markierten auch einen wichtigen Wendepunkt in seiner musikalischen Entwicklung.

Einerseits verfeinerte er seinen groovigen Stil, andererseits lieferten sie ihm einen konzeptuellen Überbau für sein Label Primal Instinct, das er 2023 gründete. „Bis Primal Instinct hatte ich nicht wirklich eine Message”, sagt Charles. „Du musst nicht das schrägste Zeug machen, aber Kunst sollte etwas bedeuten.”

Foto: Presse

Für Charles bewegt sich Techno dabei in einem Spannungsfeld zwischen Primitivismus und Innovation. Die rhythmischen und treibenden Elemente in der Musik sprechen einfache Bedürfnisse in uns an, wie zusammenzukommen und zu tanzen. Etwas, das Menschen seit Generationen machen, auch wenn es dabei historische und kulturelle Unterschiede gibt.

Gleichzeitig wird die Produktion und Ausübung von Techno durch komplexe Technologie gewährleistet. Das Label Primal Instinct soll diese Dichotomie aufgreifen, indem die ausgefeilten Grooves mittels neuester Technologie erzeugt werden.

Die wichtigste Band

Dabei bleibt für Charles die Zugänglichkeit essenziell. „Es ist einfach, das verrückteste Zeug zu machen”, sagt er. „Schwer ist es, dabei zugänglich zu bleiben.” Etwas, das er an seinen Vorbildern schätzt. Neben Blawan ist für ihn deshalb auch die Band Kraftwerk ein wichtiger Einfluss – für Charles die wichtigste Band der Musikgeschichte. „Sie waren die Ersten, die ein elektronisches Musikstück machten, das zugänglich war. Damit haben sie einen ganz neuen Ast am Baum der Musikgeschichte wachsen lassen”, sagt Charles.

Chlär stellt gerne große Fragen (Foto: Oriol Reverter)

Wo er sich heutzutage selbst in der Techno-Szene verorten würde, weiß er nicht. Vielleicht will er es auch nicht. Er sieht den aktuellen Deutungskampf um Techno eher problematisch. „Die größte Herausforderung für unsere Szene heute ist die Popularisierung. Was ist Techno? Was bedeutet es?”

Darauf gebe es keine klare Antwort, deshalb kämpfe jeder darum, so Charles. „Ich versuche, mein Bestes zu machen, und hatte viel Glück, den Sound machen zu können, den ich mag.”

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