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Motherboard: Dezember 2024

Geht es um nach vorne denkenden Ambient, der doch das Genre bedient, darf Lorenzo Bracaloni alias Fallen nicht fehlen. Mit Fragments (Móatún 7, 8. September) hat er zum wiederholten Mal seinen Sound sorgfältig überdacht und vorsichtig erneuert, ohne die Wiedererkennbarkeit, dieses in Ambient so rare Gut, zu verlieren. Verweilen wir kurz in Tálknafjörður. Das isländische Label bietet nicht nur regelmäßig eine Plattform für den Ambient von Fallen. Árni Grétars tolles Label haut ebenso regelmäßig tolle Acid- und Techno-EPs raus wie Freiform-Elektronik wie die von Bakis Sirros alias Parallel Worlds, der wiederum auf Impressions (Móatún 7, 10. Oktober) zeigt, was an unerwarteten Sounds aus den guten alten Analog-Synthesizern von Buchla oder Korg rauszuholen ist.

Was sich mit einem Cello und einer E-Gitarre so alles anstellen lässt, zeigen die fantastisch diversen und doch geschlossen sich perfekt in eins fügenden Stücke von Forever Stories of Moving Parties (Earshift Music, 15. November) von Peggy Lee & Cole Schmidt. Das Duo aus Vancouver erweitert sich auf dem Album um diverse Musiker:innen aus Kanadas Jazz- und Improv-Szene. Entstanden sind so konzentrierte, ruhige Klänge, die gerade noch merkbar vom Jazz herkommen, dessen moderne und modale Standards und Klischees aber weit hinter sich lassen. Wenn experimentelle „Neue” Musik so hörbar unangestrengt daherkommt, überträgt sich das eben auf die Hörerschaft. Lässig ist das.

Der kanadische Kunstprofessor, Musiktheoretiker und Autor mit dem neoromantischen Alias Eldritch Priest fokussiert sich in seinen raren, aber zunehmend häufigeren Solowerken auf den Klang der elektrisch verstärkten Gitarre. Seit kurzem liegt sein Fokus auf der Praxis der verstärkten E-Gitarre, so spielen die Stücke auf seiner in 35 Jahren erst dritten LP Dormitive Virtue (Halocline Trance, 11. Oktober) im Freiraum zwischen Komposition und Echtzeit-Improvisation, mit einer spürbaren Liebe zum Klang von Feedback und Hall und einem klar definierten Ausdruck in virtuosem Spiel. Die Stücke spielen mit den Idiomen des Jazz der Fünfziger und Sechziger oder des frühen Rock’n’Roll. Ein leichter psychedelischer Prog-Einfluss ist ebenfalls zu verspüren. Er ist allerdings stets solide verwurzelt in erdigem Free-Folk, der Schnittmenge von John Fahey und Loren Connors. Ein Ankerpunkt, den die Stücke immer wieder verlassen, doch gerne wieder zu ihm zurückkehren.

Der zeitgenössische norwegische Jazz spielt bekanntlich gerne in einem vergleichbaren Spannungsfeld von Folk, Elektronik und Pop, Improvisation und Komposition. In einem deutlich erweiterten Möglichkeitsraum, in dem Jazz nach Ambient, Drone, House oder Neoklassik klingen darf, ohne sich je einem wie auch immer verstandenen Mainstream anbiedern zu müssen. Einer der produktivsten Köpfe dieser kleinen, aber immens kreativen Szene ist seit knapp 15 Jahren Kjetil Husebø. Für seine Emerging Narratives (Optical Substance Productions, 27. September) hat sich der Osloer Keyboarder und Pianist zwei mindestens ebenso umtriebige und noch länger aktive Gäste geholt. Den Gitarristen Eivind Aarset und den Trompeter Arve Henriksen, die ihre jeweils unverkennbare Klanglichkeit in Husebøs elektronische Soundscapes einfließen lassen. Das Album ist introspektiv, soundverliebt, sphärisch, strukturell minimalistisch, klanglich üppig, melancholisch grundiert. Die gängigen Vorstellungen von der norwegischen Jazz-Avantgarde treffen auf Emerging Narratives also durchaus alle zu. Sie sind allerdings so organisch umgesetzt, derart intensiv gelebt, dass sämtliche Klischees und Vorurteile über Husebø und Co. unmittelbar weggeblasen werden.

Jazz als Idee und Praxis kann aber ebenso gut in ganz andere Richtungen expandieren. Quartabê, das brasilianische Fusion-Quartett der in Duisburg lebenden Schlagzeugerin Mariá Portugal, findet zum Beispiel Wege, Jazz mit Bossa Nova, Samba und Tropicalismo zu versöhnen. Oder Ausflüge in Reggae und Dance-Pop zu wagen, ohne den gewissen Anspruch an Experiment und Avantgarde zurückschrauben zu müssen. Das liegt schon in der Besetzung der Sache – vor Portugals Percussion spielen eine Bassklarinette, ein Saxofon und ein Piano. Es hängt aber auch damit zusammen, wie Quartabê ihre Töne beugen und dehnen, federn und quietschen lassen. So ist Repescagem (Fun In The Church, 18. Oktober), obwohl alles so vertraut klingt, ein höchst eigenartiges und eigenwilliges Werk.

Nochmal anders macht sich die Combo des Berliner Kontrabassisten Felix Henkelhausen dran, die üblichen Übereinkünfte des Modern Jazz zu verlassen. Oder vielleicht besser: aus ihnen heraus spielerisch zu etwas Neuem zu gelangen. Das gelingt auf dem sehr passend benannten Debüt Deranged Particles (Fun In The Church, 4. Oktober) einerseits über Intensität und Dichte. Es gibt kaum einen Moment, den Henkelhausens Percussion-intensives Sextett nicht mit Ideen und Sound füllen würde. Es passt sogar ein Gastauftritt von Myka9, dem MC von Freestyle Fellowship hinein. Was dem in Dichte und Partikelzahl den intensivsten Math-Rock-Prog-Bands in nichts nachstehenden Gesamtsound in aller Komplexität der sich stets verschiebenden Muster doch verstehbar und verdaulich macht, ist eine Art Groove über dem Groove. Einfach über kompliziert.

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