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Motherboard: Dezember 2024

Vom improvisierenden Freak-Kollektiv zum Gameboy-Orchester hat das Fan Club Orchestra oder FCO um den belgischen Freidenker Laurent Baudoux schon einiges abgeklopft. Baudoux, der sich als Lawrence Le Doux gerade eine späte Karriere als Producer und House-DJ erspielt, hatte die Combo vorübergehend auf Eis gelegt, nun aber noch mal ganz anders neu belebt. Die jüngste Inkarnation als Trio mit Gitarristin Ann Appermans und dem jungen Trompeter Zéphyr Zijlstra spielt mit Jazz, Krautsynthesizern und Drone, mit Spoken-Word-Einspielungen und noch einigem mehr. VL_Stay (12th Isle, 22. November) ist wie alles von FCO: Wundertüte und Überraschungsei zugleich, verspielt und ergebnisoffen. Dennoch ist alles neu und anders, denn so milde, zart und schwebend waren die Klänge des FCO noch nie.

Ein ganzes Album von Versionen eines einzigen, eher leisen und ziemlich dezenten Ambient-Stücks zu ziehen, das ist mal ein Statement. Aber Clémence Quélennec alias AJA, langjährige Keyboarderin und Sängerin der französischen Art-Psych-Rocker La Femme hat sowohl das Selbstbewusstsein wie die Mittel, so etwas durchzuziehen. Vor allem hat Quélennec die richtigen musikalischen Freunde, die ihre Soloproduktionen auf eine andere Ebene heben können. In diesem Fall eben nur das eine Stück „Absolune” von Ajasphère Vol. II, das auf Variations sur Absolune (Grand Musique Management, 18. Oktober) zu einigem werden kann. Etwa naheliegend zu einer Orgeldrone, aber genauso schön zu einem freien Trompeten-Improv-Solo oder zu knarzendem Bass. Die meisten akustischen oder nur leicht elektronisch akzentuierten Bearbeitungen oder Coverversionen setzen sich deutlich vom Loop-schweren Analog-Synthesizer-Sound des Originals ab. Diese Variationen sind definitiv kein Beifang, kein beliebiges Remixalbum. Sondern ein hochinteressantes, ganz für sich stehendes Werk.

Die VĪS Reinterpretations (99CHANTS, 24. November) des letztjährigen Großwerks VĪS des in Italien lebenden Pianisten und Komponisten David August kommen mit ähnlichem Swagger wie die Ajas. An exzellenten Partner:innen für die Neuinterpretationen mangelt es ebenfalls nicht. Quasi alles, was aktuell mit avanciertem Sounddesign am experimentellen Pol von Ambient oder Post-Club-Elektronik aktiv ist, trägt hier bei. Dadurch, dass die einzelnen Beteiligten nicht einzelne Stücke remixen, sondern Ausschnitte des Albums oft deutlich umarrangieren, neu zusammenstellen und anders akzentuieren, gewinnen diese Versionen an Eigenheit. Sie fügen sich in ihrem meist scharf schrapnelligen, digitalen Sounddesign zu einem eigenen Ganzen. August ist so den unüblichen, umgekehrten Weg gegangen. Statt einem Techno-Album mit Orchesterarrangement zu neuem Pomp zu verhelfen, baut er ein ursprünglich bereits großes, neoklassisches Piano-plus-Streicher-Werk elektronisch auseinander. Dass dabei die Stimmung des Originals keineswegs verloren geht, ist der eigentliche Coup.

Zehn Jahre ist es her, dass Bernd Jestram und Ronald Lippok ihre Zweimann-Band Tarwater das letzte Mal aktivierten. Nun erinnert Nuts of Ay (Morr, 22. November) daran, wie frappierend eigenwillig diese elektronischen Postrocker aus den Ruinen der DDR-Avantgarde von Ornament und Verbrechen doch immer waren – und noch immer sind. Sie bauen ihre Songs wieder auf minimal-pluckernde Electronica auf, dazwischen, im weiten, weitgehend leeren Raum, den diese Grundierung ausmisst, sehr scharf akzentuiert eine grummelnd-knöternde Gesangstimme und einzelne kristalline Sounds. Das Spannende ist, wie Tarwater in diesem strengen und extrem klar ausformulierten klanglichen Setting doch Songs spielen, die einen gewissen krautigen, beinahe psychedelischen Charakter haben. Obwohl überhaupt nichts an diesem Sound verschwommen oder verwaschen ist.

Wie schön, dass es noch funktioniert, als Musiker:in aus der Fremde (Italien, Australien) in die große Stadt (na ja, Berlin) zu ziehen. Um sich dort auf unerwartete Begegnungen und interessante künstlerische Konstellationen einzulassen. Im Fall von Andrea Belfi und Julia Reidy hat das bereits erste erfreuliche kreative Folge gefunden: dessus oben alto up (Marionette, 8. November), bestehend aus vier luftwurzelwuchernden Improv-Stücken, viermal auf der Höhe dessen, was in zeitgenössischer freier Improvisation spieltechnisch und an Ideenreichtum so geht. An Freiheit im Sound ebenso interessiert wie an Struktur und Harmonie. Satt an ungewohnter Harmonie, wie sie etwa die reine Stimmung von Reidys Gitarre hervorbringt, ein schillerndes, obertonreiches Klangbild mit glitzernden Kanten, was für von westlicher Klassik oder Pop imprägnierte Ohren immer besonders klingt. Im Zusammenspiel mit blubbernden Analogsynthesizern und Belfis beinahe arrhythmischer, unterschwellig doch immer groovender Schlagzeug-Arbeit.

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