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Motherboard: Juli 2024

Das US-amerikanische Duo Unstern bedient sich auf dessen Debüt Es Geht Der Tag (Alter, 28. Juni) einem sehr nahe verwandten Konstruktionsprinzip. Der Dark-Ambient-Produzent Arzat Skia entwirft fragile, diffizile, atmosphärisch dunkel glimmende Klangflächen, aus denen immer wieder beinahe erratisch, aber doch wirkungsvoll gesetzte Klaviertupfer des extrem zurückhaltend agierenden Pianisten Leo Svirsky auftauchen, um dann ebenso plötzlich wieder mit dem Hintergrund zu verschwimmen.

Ambient aus Köln, das gibt es auch in jung, jenseits der etablierten abgefeierten bis ausgeleierten Kanäle. Wie etwa von der Produzent:in Hyemin Jung alias Joreng Boi, die auf der Mini-LP Closed Circle (Hundert Records, 14. Juni) eine nicht nur für hiesige Verhältnisse ungewöhnliche Klangästhetik pflegt, die das Wissen der elektroakustischen Komposition nimmt, um Ambient und Electronica von Clubmusik zu abstrahieren ohne sie abzutrennen, was in ungeahnten Klangräumen, Soundscapes im Wortsinn, mündet.

Jede Zehntelsekunde eine Entscheidung, jede Entscheidung eine Vermittlung zwischen dem Moment und dem größeren zeitlichen Zusammenhang, dem Flow zwischen gerade Vergangenem und dem unmittelbar Kommendem. Freie Soloimprovisation ist eine Kunst des vergehenden Augenblicks und ein Handwerk der extremen Konzentration. Der in Berlin lebende japanische Schlagzeuger Chikara Aoshima hat in dieser radikalen Form in der vergangenen Dekade durchaus extreme Fertigkeiten entwickelt, die er nun zunehmend in den Dienst anderer Formen von Musik stellt, etwa dem naheliegenden Math-Rock oder Kraut-Prog. Der also ähnlich Valentina Magaletti oder Eli Keszler die angeeigneten Skills zu etwas umleitet, das eventuell näher an populären Formen spielt. Wobei die Arbeiten von Aoshimas Peers allerdings selten ganz weg möchten (oder können) von der freien Schlagzeug-Improvisation. Das ist auf Aoshimas Album Close Down (Chikara Aoshima, 15. Mai) tatsächlich anders. Radikal ist hier, wie super freundlich und songhaft er Electronica aus der Free-Improv-Tradition heraus ausspielt. Es versteht sich, dass Percussion und Gamelan-artige Gongs und Bimmeln eine wichtige Rolle spielen. Sie stehen aber durchweg im Dienst einer verspielt leichten Art von Ambient. Aoshima kann und ist bereit dazu, seine Könnerschaft und Performance-Präzision ganz und gar unterzuordnen, das Drummer-Ego einfach mal schweigen zu lassen zugunsten warm flächiger Soundstreams.  

Das Bristoler Label mit dem Suchmaschinen trotzenden Namen TBC Editions hat in den wenigen Jahren seit der Pandemie ein erstaunliches Portfolio an konzeptuell arbeitenden, experimentellen Künstler:innen versammelt und neu entdeckt. Künstler:innen, deren Klänge trotz aller kontextuellen Kopfschwere beachtlich zugänglich und emotional verständlich bleiben. Also genau die Art von konkreter Abstraktion, die in dieser Kolumne schon immer hoch geschätzt wurde. Wie unterschiedlich sich das anhören darf, demonstrieren gleich zwei neue Veröffentlichungen aus den vergangenen Monaten. Da wären einmal die Twittering Machines (TBC Editions, 31. Mai) der hiesigen bildenden Künstlerin und Sound-Art-Komponistin Kathy Hinde. Ihre zwitschernden Maschinen sind allerdings gerade nicht mechanische Musikapparate, fiepende Modularsynthesizer-Sequenzen oder algorithmische Text-Codierungen, sondern Subbässe, Vogelstimmenimitatoren und Morsecode. Ein Klanghörspiel aus prozessierten Field Recordings an der Schnittstelle von Natur und Industriegeräusch. Das ebenfalls in Bristol ansässige Duo Copper Sounds macht auf Sequenced Ceramics (TBC Editions, 21. Juni) dagegen ganz exakt, was der Titel verspricht: In minimalistisch groovende Loops sequenziertes Geklöppel selbstgetöpferter Instrumente, die sogar schon auf Keramikhandwerk-Biennalen gezeigt wurden. Kommt insgesamt sehr lässig rüber, zwischen unangestrengt klappernder Klanginstallation und Jahrtausendwende-IDM à la snd.

Das Schweizer Label Mnemosyne befasst sich konzeptuell mit Erinnerung als soziokulturellem Phänomen. In der altgriechischen Mythologie ist Lethe das Gegenstück zur Mnemosyne, der Fluss des Vergessens, aus dem trinken muss, wer endgültig in das Reich der Toten überwechselt. Als personifizierte Göttin der Selbstaufgabe findet Lethe (Mnemosyne, 6. Juni) einen spezifischen Ausdruck in geisterhaften elektronischen Sounds, die von naheliegend hauntologischer Vapor-Electronica in die zersplitterten Signalfragmente des Dark Ambient führen und in harschem Noise enden können. Zugleich stellt die Compilation wenig etablierte Künstler:innen des Genres vor, von denen der Schweizer Produzent und Labelbetrieber Myalo und der hier mit seinem Shô-Alias vertretene Berliner Florian Sankt wohl noch am bekanntesten sein dürften.

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