Was versteht die schottische Jugend 2024 unter ausgelassenem Feiern zu elektronischer Musik? Unser Nachbericht des Terminal V gibt einen Einblick.
Ein junger Mann, vielleicht 18 oder 19, hält einem Mädchen das lange blonde Haar aus dem Gesicht, während sie sich an der Wand des Floors übergibt. So weit, so oft erlebt auf den ausgelasseneren Partys dieses Planeten.
Zwei Umstände machen dieses Bild unvergesslich: Es ist 15:30, das Terminal V, das größte Indoor-Techno-Festival Schottlands, hat erst vor wenigen Stunden begonnen. Der andere ist das betretene Gesicht des jungen Mannes, peinlich berührt ist er von dieser erbärmlichen Feierleistung der Freundin. Zugleich hält er ihr treu und schicksalsergeben das Haar aus dem Gesicht. Dabei hat die Freundin eigentlich alles richtig gemacht: Dass das Festival gerade erst begonnen hat, hält hier niemanden davon ab, alles zu geben. Pawlowski aus Charlotte de Wittes KNTXT-Stall spielt einen aufgepeitschten Sound ohne Kickdrums, die Acid-Tracks klingen eher manisch als psychedelisch.
Bis auf ein paar Veteran:innen aller Altersklassen ist kaum jemand älter als 22 oder 23. Die Tanzenden reißen ihre Arme in die Luft, die Hooks von Songs werden laut mitgesungen, zum Beispiel „I like the way you kiss me” von Artemas, das sich in verschiedenen Techno-Versionen durch das Festival zieht. Rave-Stimmung herrscht allerdings weniger. Statt sich auf einen gemeinsamen Groove, ein kollektives Tanz- und Feierlebnis einzustimmen, geht es ruppig und ein wenig besinnungslos zu, wie bei einem Punkkonzert auf Stereoiden, doch dazu später.
Dazu passt auch, dass jetzt schon dieselben Peaktime-Banger laufen wie in zehn Stunden. Der überschwängliche Sound dominiert das gesamte Festival, die einzelnen Acts setzen darin eher Akzente zwischen Techno, Industrial, EBM, EDM und wüsten Breakbeats.
Jeder Act könnte mehr oder weniger zu jeder Zeit auf jedem Floor stattfinden. Eine individuelle Sound Signature, die als Vorzeichen für das gesamte Set funktioniert, vermisst man meist. Was keineswegs bedeutet, dass das Gebotene ästhetisch anspruchslos ist. Eher geht es wie im Radio oder bei Playlists darum, eine bestimmte Klangfarbe herauszuarbeiten. Diese Ausrichtung des Terminal V ist dabei neu: Noch vor zwei Jahren war das Festival ganz anders strukturiert.
Wo jetzt erwähnter Pawlowski auflegt und später Oguz oder morgen zum Finale des Festivals Malugi & Marlon Hoffstadt, spielte im letzten Jahr mit Marcel Dettmann, Helena Hauff oder Nina Kraviz noch der Techno-Hochadel, damals eine Herausforderung für das junge schottische Publikum, das traditionell Pop-affin ist und auf zugängliche Sounds steht.
Dennoch wurden von den Festivalkurator:innen 2022 noch Techno und House in fast schulmeisterlicher Manier durchexerziert. Neben dem Floor für Dettmann, Hauff und Kraviz war eine weitere Halle dem poppigen House von Green Velvet, Eats Everything oder Deborah de Luca gewidmet.
Der dritte Floor zelebrierte Ibiza-Tech-House von Tale of Us oder Maceo Plex, der vierte Floor Hipster-Sounds von Octo Octa, Steffi oder Young Marco, Floor fünf Puristen-Techno wie von Luke Slater oder Edinburgh-Veteran Stephen Brown. Auf dem einzigen Outdoor-Floor gaben Kornél Kovács, Cinthie oder Kerri Chandler klassischen, geschmackvollen US-Deep-House zum besten.
Diese Aufteilung beeindruckte nicht nur durch die hochkarätigen Bookings, sie bildete auch die dominierenden Segmente der Clubmusik der vergangenen zwei Jahrzente ab. Auf der diesjährigen Ausgabe war diese ausdifferenzierte Landschaft komplett verschwunden. Zur Begeisterung der Crowd, die das damalige Line-up bisweilen überfordert hatte. Nun geht es schon am Nachmittag rund, zum Teil stehen die jungen Menschen so dicht gedrängt auf dem Floor, dass man meint, bei einem Popkonzert zu sein.
Auch die Stages des Festivals wurden komplett neu gestaltet. 2022 erstreckten sich Lightning-Rigs und Screens in den ganzen Raum und erzeugten so das psychedelische Gefühl, in Licht und Farbe aufzugehen.
Nun erstrahlen die LED-Panele in Rot und Schwarz, die Farben des breitformatigen Techno der maskulinen, rockaffinen Sorte. Auf dem zweitgrößten V2-Floor steht die Bühne wie bei einem Boxkampf in der Mitte des Raums, die LEDs hängen niedrig über den Köpfen der DJs, sodass ein Eindruck von Enge entsteht.
Im Hauptraum gibt es zwar eine traditionelle Bühne, aber die ist ungewöhnlich niedrig. Der gesamte Floor ist mit LED-Streifen abgehängt, so dass hier ebenfalls ein gedrängtes Fight Club-Gefühl entsteht. Dort setzt Charlie Sparks einen ersten Höhepunkt mit einem Industrial-inspirierten Sound, der die riesige Halle entschieden und effektiv dominiert.
999999999 stehen dem Engländer in nichts nach. Bei dem Duo aus Italien ist die Energie stärker nach innen gerichtet. Sie gehören zu den wenigen Acts auf dieser Stage, die gänzlich auf Pop-Zitate verzichten. Die Spannung des hier puristisch wirkenden Sets wird allein von den Wechseln der schranzigen Sequenzen und deren individueller Zerrissenheit getragen.
Dann ist Indira Paganotto an der Reihe, einer der stärksten Acts des gegenwärtigen Hardtechno- bzw. TikTokTechno-Movements. Die Breaks mit den effektvoll in Szene gesetzten Pop-Hooks erinnern an EDM-Zusammenhänge und sind ebenso unoriginell wie Paganottos Lackoutfit, das hier fast jede Künstlerin trägt.
Auch hier geht es weniger um Individualität, sondern darum, den zahlreichen Fans eine ordentliche Abfahrt zu gewähren. Sich zum Sprachrohr dieser Botschaft zu machen, das gelingt der Spanierin ganz und gar. Vollends an Eingemachte geht es dann bei Nico Moreno. Der Franzose spielt lebendigen Techno, der von Sequenzwechseln lebt, dessen Basis ein roh geschmiedeter EBM-Funk à la Front 242 ist. So streng und geschmackssicher die grundsätzliche Ausrichtung gesetzt ist, so frei ist Moreno in der Inszenierung. Hier sind sämtliche theatralischen Mittel erlaubt, auch eine gehörige Portion Punk.
Allerdings agiert man im Moshpit eines Punkkonzerts kollektiv die erlittenen Traumata aus, schafft Gemeinsamkeit, indem man den Schmerz teilt. Auch hier geht es um geteilten Schmerz, der Resonanzraum, um so etwas wie Gemeinschaft entstehen zu lassen, fehlt aber mehr oder weniger. Liebevoller geht es bei DJ Heartstring zu, die mit dem Outdoorfloor vorlieb nehmen müssen. Aber ein paar hundert loyale Fans pilgern trotz Starkregen zu den beiden Berlinern.
Am zweiten Tag spielt Clara Cuvé auf dem Floor, den gestern Nick Moreno dominiert hat, und setzt dabei nicht weniger radikale Mittel ein. Eine freistehende Bassdrum, brutal komprimiert, verheißt nichts Gutes, aus ihr brechen Soundgebilde hervor, die oft nichts mit elektronischer Musik tun haben – am Ende eskaliert das Set in einem Heavy-Metal-Gitarrenkollaps. Hier ist das ein individueller Akzent, den die Crowd auch als solchen goutiert. Später, bei BLK B2B Shlomo, ist dieser eine Drake-Nummer, die durch den Edit-Fleischwolf gedreht wurde.
Auf dem Realkeeper-Floor, auf dem gestern Oldschool-Clubkultur von Ellen Allien, FJAAK und Blawan zelebriert wurde, zeigt jetzt Daria Kolosova, dass auch junge Techno-DJs puristisch ausgerichtet sein können. Auch ihr Sound ist bedingungslos hart – die Komplexität der Grooves lässt diese aber aus sich heraus arbeiten.
Ruppige, noisige, unberechenbare Sounds lassen von Warehouse-Raves in den Neunzigern träumen. Hier wird eine selten erlebte Magie spürbar. Sie liegt darin, dass die ungestümen Trackgebilde in eine Trance versetzen, in der man Raum und Zeit vergisst. Auf ähnlich lange Bögen setzt Dax J, der sich viel Zeit nimmt, ausladende Flächenlandschaften zu entwickeln.
Auf dem Mainfloor kämpft Kobosil derweil damit, seine Beziehung zur Crowd zu finden. Der Funke springt bei Sara Landry sofort über, die brutal komprimierten Sounds füllen die letzte Ecke der Halle aus. Wo Kobosil introvertiert und grüblerisch wirkt, feiern die Schott:innen auf der Tanzfläche, wie Landry hinter den Decks herumtobt. Am Ende des Sets steht sie schweißüberströmt auf der Bühne. Der zweite Höhepunkt dieses Festivaltags kommt von Marlon Hoffstadt alias Daddy Trance im B2B mit Malugi in der Area V2.
Den beiden gelingt die Quadratur des Kreises, indem sie die Achtziger-Brille aufsetzen. Die kurzatmigen Grooves bilden einen elektrisierenden roten Faden, der anderen Acts hier fehlt und jeden Pop-Ausbruch auffängt. Auch wenn die beiden hierzulande eher als Ikonoklasten gesehen werden – ein an Tresor und Berghain geschultes Berliner Techno-Verständnis schwingt bei den beiden dann doch unerwartet stark mit.