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Speedy J & Surgeon: „Sich darauf vorbereiten, unvorbereitet zu sein”

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Ohne Zweifel gehören Jochem Paap und Anthony Child zu den festen Größen der Technoszene. Paap prägte sie als Speedy J seit Anfang der Neunziger mit komplexen, psychedelischen Tracks, die die initiale Euphorie der Musik einfingen. Child brachte als Surgeon eine rohe, experimentelle, am Punk geschulte Energie in den Clubkontext.

Seit 2017 treten die beiden mit ihrem Improvisationsprojekt Multiples gemeinsam auf. Was ihre Dynamik ausmacht, wie ihr gemeinsames Debütalbum entstanden ist und wie in der Improvisation spirituelle Erfahrungen möglich werden, erklären sie im Gespräch mit Julian Fischer und Alexis Waltz.

GROOVE: Der erste öffentliche Auftritt eures gemeinsamen Projekts Multiples war ein Live-Jam auf dem ADE 2017. Wie kam der zustande?

Jochem Paap: Wir haben uns damals in meinem Studio in Rotterdam getroffen. Ich weiß nicht mehr, ob wir für die Show geprobt haben oder nur etwas aufnehmen wollten.

Anthony Child: Ich erinnere mich, dass wir diese Show zusammen spielen wollten. Jochem hatte Lust, sich vorher kennenzulernen und zu improvisieren.

Wieso?

Anthony: Wenn man mit einer anderen Person improvisiert, erschafft man gemeinsam einen eigenen Sound. Wir wollten herausfinden, wie wir miteinander klingen.

Jochem: Wir hatten zuvor noch nicht zusammen gespielt und wollten auf Nummer sicher gehen, weil wir in einem recht großen Raum auftreten sollten. Es ging aber weniger darum, ein bestimmtes Set oder fixe Parameter vorzubereiten. Wir wollten uns gegenseitig kennenlernen. Es ging darum, sich darauf vorzubereiten, unvorbereitet zu sein.

Surgeon und Speedy J lernen sich gegenseitig kennen (Foto: Sander Voets)

Wie habt ihr euer gemeinsames Set-up entwickelt?

Anthony: Viele stellen sich das komplizierter vor, als es eigentlich ist. Wir wählen einige Geräte aus, mit denen wir uns sicher fühlen – ein vollständiges Set-up mit Drums und Synthesizern, das die Performance auch alleine tragen könnte. So spielt es fast keine Rolle, welche Instrumente Jochem benutzt.

Gibt es einen finalen Mix?

Jochem: Nein, was wir in den Mixer geben, ist unsere individuelle Verantwortung. Wenn man so zusammenspielt, also ausschließlich improvisiert, ist Vertrauen wesentlich. Man trägt zu gleichen Anteilen zum Gesamten bei.

Anthony: Ich vertraue Jochem, dass er nichts Schlechtes spielt. Was auch immer sein Beitrag ist, es wird gut sein. Andersherum wird es ihm wahrscheinlich genauso gehen.

Könnt ihr euch noch an eure erste Show im Jahr 2017 erinnern?

Jochem: Nicht wirklich. Es gab jedoch ein paar Momente, in denen wir beide von dem verwirrt waren, was wir spielten. Gute Überraschungen sind aber wichtig. Außerdem haben wir immer eine Antwort darauf gefunden und konnten weitermachen.

Anthony: Egal, was auftritt, wir integrieren es in unsere Performance. Wenn ich an unsere erste Show zurückdenke, wird mir klar, wie stark unsere Beziehung seitdem gewachsen ist.

Beziehungsprofi Surgeon (Foto: Sander Voets)

Wie hat sich eure Beziehung entwickelt?

Anthony: Wir vertrauen uns mehr und sind mutiger geworden. Beim Improvisieren ist es so, als ob wir gemeinsam eine Welt oder eine Landschaft erkunden. Durch die Fortsetzung unseres Projekts konnten wir diese Welten weitaus tiefer erkunden als am Anfang.

Ich meine, das in eurem neuen Album hören zu können.

Anthony: Die Session fürs Album ist ein Teil dieser Entwicklung. Wir haben die musikalischen Bereiche viel weiter und tiefer erkundet als zuvor.

Jochem: Dem kann ich nur zustimmen. Es liegt aber auch am Umfeld des Studios.  

Wie meinst du das?

Jochem: Das Studio bietet ein Umfeld mit weitaus weniger Grenzen als die Bühne. Wenn wir auf der Bühne vor hunderten Leuten spielen, müssen wir bestimmte Anforderungen im Auge behalten, damit jeder im Raum unsere Sprache versteht. Im Studio dagegen gibt es solche Anforderungen nicht. Wir können uns von der Musik treiben lassen, egal wohin. Wir waren überrascht, wie weit wir gehen konnten.

„Auch die Erfahrungen unserer 30-jährigen Karrieren flossen mit ein.”

Surgeon

Ihr habt das Album in zwei Tagen produziert. Wie war diese Zeit?

Anthony: Intensiv! (lacht) Direkt bevor wir nach Holland in Jochems Studio reisten, spielten wir eine Show im Zenner in Berlin. Der Gig war ein guter Start, und wir haben uns bereits dort in andere musikalische Bereiche vorgewagt.

Jochem: Der Gig hat uns gut auf die Album-Session vorbereitet. Wir haben insgesamt vier Sessions aufgenommen. Jede dauerte ungefähr zwei Stunden. Start drücken, die Sounds in Bewegung bringen, bis ein Equilibrium erreicht ist – ein Zustand, in dem alles klickt. Etwas taucht auf, verändert sich, geht in eine andere Richtung, und dann entsteht in Echtzeit ein neuer Track.

Anthony: Zwei Tage klingen zwar nach wenig Zeit, aber sie waren ein Zusammenströmen all der Performances, die wir vorher gespielt hatten. Auch die Erfahrungen unserer 30-jährigen Karrieren flossen mit ein.

60 Jahre Technokarriere in einem Foto (Foto: Sander Voets)

Wie sah der Bearbeitungsprozess eurer Sessions für das Album aus?

Jochem: Das war relativ einfach. Wir suchten die Stellen aus, die uns gefielen. Man hat schon während der Session das Gefühl, dass etwas entsteht. Diese Momente bleiben nach der Session hängen. Es gab keine Streitigkeiten darüber, wir waren uns schnell einig.

Wie steht ihr euch als Begriffspersonen gegenüber? Jochem war von Beginn an ein Star der Technoszene, du, Tony, wurdest erst ein paar Jahre später bekannt und warst im Underground aktiv.

Anthony: Personen von außerhalb schauen anders auf unsere Karrieren, als wir sie innerlich erleben. Ich folge nur meiner Leidenschaft für die Musik und schaue, wo sie mich hinführt.

Jochem: Karriereplanung ist in jeder Hinsicht schwierig, aber im Musikbereich ist es unmöglich, weil man nie weiß, wie die Musik ankommen wird. Von außen gesehen kann man Dinge vielleicht in eine Chronologie oder eine kulturelle Landschaft einordnen und ihre Wichtigkeit bemessen. Aber wir folgen unserer Intuition und sehen, wo wir rauskommen.

Wie habt ihr euch früher gegenseitig wahrgenommen?

Anthony: Ich kannte Jochems Musik und mochte vor allem seine frühen Tracks auf der Artificial IntelligenceReihe von Warp. Persönlich kennengelernt haben wir uns aber erst später, als Jochem mich zu einer Podcast-Serie eingeladen hatte. 

Jochem: Wir beide kennen noch eine Zeit ohne Internet. Heutzutage ist es einfach, viele Informationen über eine:n Künstler:in herauszufinden. Früher ist man über Musik gestolpert und machte sich ein eigenes Bild von dieser Person und deren Musik. So ging es mir mit Tony. Persönlich haben wir uns mal im Flugzeug oder am Flughafen getroffen. Wir kannten uns also vorher, hatten aber nie ein gemeinsames Projekt geplant.

Speedy J spürt Verantwortung, er will es nicht vermasseln (Foto: Sander Voets)

Eure Hintergründe sind sehr verschieden. Tony hat in Bands gespielt, Jochem kam aus dem Hip-Hop-Bereich der Achtziger. Wie beeinflusst eure musikalische Herkunft das Improvisieren?

Jochem: Egal welches Genre, mein Ansatz blieb immer derselbe. Ich interessierte mich schon im Hip-Hop-Bereich für das Produzieren von Rhythmen mit zwei Schallplatten und einem kleinen Mixer. Bevor ich mir eine Drummachine leisten konnte, bevor House und Techno überhaupt existierten – es ging immer darum, Hand anzulegen und Beats im laufenden Betrieb zu bauen. Der Ansatz und die Ästhetik blieben gleich, auch wenn ich die Hip-Hop-Szene hinter mir gelassen habe. Das Genre spielt dabei keine Rolle.

Anthony: Ich stimme dem zu. Beim Musikmachen gibt es tiefere Ebenen, die ein Genre transzendieren können.

Wie würdet ihr eure Dynamik im Studio beschreiben? 

Anthony: Es geht um vollständiges Vertrauen. Beim Improvisieren öffnet man sich und macht sich in vielerlei Hinsicht verletzlich. Vertrauen ist lebenswichtig in solchen Situationen.

Jochem: Außerdem gibt es ein tiefes Gefühl der Verantwortung gegenüber dem anderen, es nicht komplett zu vermasseln. Man betreibt den Aufwand zu gleichen Teilen für sich selbst und den anderen. Wenn wir improvisieren, können sich zu jedem Zeitpunkt unsere Rollen ändern. Deshalb ist es wichtig, sich auch zurückzunehmen und die andere Person machen zu lassen. Zuhören ist wichtig.

„In einem solchen Zustand trifft man keine bewussten Entscheidungen.”

Speedy J

Wie fühlt sich für euch der Moment an, wenn ihr zusammen improvisiert? 

Anthony: Am besten kann man es mit einem Flow-Zustand beschreiben. Es ist dieser Bewusstseinszustand, den ich beim Improvisieren erreichen möchte. Er ist sehr tief, rein und meditativ. Es fühlt sich so an, als ob mein Verstand nicht im Weg ist und die Musik durch mich hindurchfließt. Man könnte es fast als spirituell bezeichnen.

Jochem: Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen. Es gibt Momente, in denen es sich nicht anfühlt, als würde man seinen Körper bewusst steuern. In einem solchen Zustand trifft man keine bewussten Entscheidungen, es läuft alles automatisch. Man erfährt die Musik im selben Moment, in dem man sie erschafft, ohne zu wissen, was als Nächstes kommt. Der Abstand zwischen Zukunft und Vergangenheit wird so eng, dass man immer im Hier und Jetzt ist. Als ob alles durch einen hindurchfließt und man kein Teil davon ist. Das macht es spirituell. Man verliert sein Ego und den Kontext, in dem das Ganze stattfindet. Es ist eine reine Erfahrung im Hier und Jetzt, ohne Worte, ohne Beschreibungen.

Anthony: Ich fühle mich außerdem stark mit dem Publikum verbunden. Es ist das Gefühl, dass wir alle den gegenwärtigen Moment in einer sehr mächtigen Weise erleben. 

Flow-Zustand zwischen Mensch und Maschine (Foto: Sander Voets)

Kommt es auch vor, dass ihr blockiert seid? Oder ist dieser Zustand für euch einfach zu erreichen?

Jochem: Beim Musikmachen fällt es mir leicht, in diesen Zustand zu kommen. Ich kann das auf Knopfdruck. In meinem persönlichen Leben fällt es mir dagegen schwerer. (lacht)

Anthony: Die langjährige Erfahrung mit Musik macht es uns leicht, diesen Zustand zu erlangen. Ich selbst habe damit auch kein Problem. Es macht mir einfach Spaß.

Habt ihr jemals in Erwägung gezogen, mit jemandem zu improvisieren, der:die nicht aus dem Bereich der elektronischen Musik kommt? Zum Beispiel mit einer Gitarre oder Violine?

Anthony: Das wäre ganz einfach. Vorausgesetzt, die Person kann improvisieren und zuhören. Solange die Person sich mit ihrem Instrument ausdrücken kann, spielt es eigentlich keine Rolle, was sie spielt.

Jochem: Ja, solange eine Verbindung zwischen den Personen existiert, ist es möglich, mit jedem Instrument zusammenzuspielen. Das Gleiche gilt für mein eigenes Set-up. Die Geräte verändern sich von Zeit zu Zeit, aber es bleibt im Ganzen ein Instrument, das ich gründlich kenne und beherrsche und auf dem ich mich ausdrücken kann. Auf dieser Ebene gibt es keine Unterscheidung zwischen den Instrumenten.

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