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Loraine James: Nicht immer in der Mitte von allem sein

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Mit ihrem hybriden Sound irgendwo zwischen IDM, Drill, Jazz und R’n’B schaffte Loraine James 2019 ihren Durchbruch.  Seit dieser Zeit bahnt sich die Londonerin als queere schwarze Frau einen Weg durch die vor allem weiße IDM-Szene und schafft es dabei Album für Album, immer wieder neue klangliche und politische Koordinatensysteme zu erschließen. Ihr Mantra: Bloß nicht langweilen.

Mit Gentle Confrontation erschien im September das sechste Album der 27-Jährigen. Vier Alben unter ihrem Klarnamen und ein weiteres unter dem Moniker Whatever The Weather veröffentlichte sie zudem. Als ein Album, das ihr Teenager-Ich gerne geschrieben hätte, bezeichnet sie Gentle Confrontation – eine Fusion aus den musikalischen Einflüssen ihrer Kindheit und Jugend.

GROOVE-Autor Johann Florin sprach mit James über ihr Aufwachsen in einem Nord-Londoner Wohnblock, über prägende Indie-Bands, über ihre Identität als schwarze Person und ihren Weg zum Label Hyperdub.

Loraine James sitzt in ihrer Ostlondoner Wohnung, als sie sich in den Zoom-Call einklinkt. Sie sei gerade beim Packen, murmelt sie in die Kamera. Morgen fährt sie nach Dänemark, nach Aarhus, auf das Alter Festival, wo sie als eine der Headliner:innen spielt. Sie freue sich schon darauf, schließlich ist es ein Vorgeschmack auf die Tour zu ihrem im September erschienen Album.

Im sogenannten Leftfield-Genre ist James seit einigen Jahren gefragt. Mit ihrem von gebrochenen Rhythmen, glitchy Sound-Schnipseln und warmen Samples durchzogenen Signature-Sound hat sie eine Nische gefunden, die irgendwo zwischen Pop-sensiblem R’n’B und friemeligem IDM bis dahin noch unbesetzt war. Als „genrespleißendes Genie der britischen elektronischen Musik” wird Loraine James deshalb von der Zeitung The Guardian bezeichnet. Eine Auszeichnung, der James zurückhaltend gegenübersteht. Denn eigentlich verfolge sie mit ihrer Musik die meiste Zeit gar keinen genauen Plan. Dass sie dabei erfolgreich ist, scheint sie immer noch ein bisschen zu überraschen. Musik sei zwar schon lange sehr wichtig für sie gewesen, aber ernsthaft selbst Musik zu machen, sei ihr die meiste Zeit weit entfernt vorgekommen.

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

James wuchs in einem Wohnblock in Enfield, dem nördlichsten Zipfel Londons auf. Die typischen Sozialbauten aus den Sechzigern, die dort in den Himmel ragen, haben in London schon seit Jahrzehnten den Ruf, vor allem sozial benachteiligte Menschen zu beherbergen. Vom Staat vergessen, vegetieren die Wohntürme am Rande der Stadt vor sich hin. Dabei werden sie besonders von den mit rassistisch-klassistischen Stereotypen um sich schmeißenden Boulevardzeitungen als gefährlich hingestellt. Ein Bild, das laut James nicht im Geringsten der Wirklichkeit entspricht. „Es war sehr ruhig dort. Als Teenager hat mich das teilweise gestört, aber wenn ich mittlerweile zurückblicke, weiß ich sehr zu schätzen, nicht immer in der Mitte von allem gewesen zu sein.”

Auf dem Cover ihres 2019 via Hyperdub veröffentlichten Albums For You and I kann man die besagten Wohnblöcke sehen. In Gelb, Grün, Blau und Rosa strecken sie sich dort am Rande einer Schnellstraße in den grauen Londoner Himmel. Es ist der Ort, an dem sie sich vor ihrer Mutter geoutet hat, der Ort, an dem sie vom Tod ihres Vaters erfuhr. Erinnerungen, die heute stark ihren Zugang zur Musik prägen.

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

Die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit scheint ein Hauptimpuls für James’ Musik zu sein. Die Collage an Einflüssen spiegelt das in ihren Produktionen wider. Von Drill- und R’n’B-Elementen bis zu IDM- und Jazz-Einflüssen – James’ Tracks mäandern wild durch die Genre-Landschaft und schaffen es dabei, die unwahrscheinlichsten Brücken zu schlagen.

„Zu merken, dass ich Musik am Laptop produzieren kann, mich nur mit einem Laptop musikalisch ausdrücken kann, das hat meinen Horizont enorm erweitert.”

Loraine James

Besonders Math-Rock und IDM, aber auch der Calypso-Funk aus der Plattensammlung ihrer Mutter oder die R’n’B- und Hip-Hop-Musik ihrer Freund:innen haben sie geprägt. Auf dem neuen Album Gentle Confrontation hört man das. Mit ihrem sechsten Langspieler kehrt sie zu den Anfängen ihrer musikalischen Prägung zurück. Als „ein Album, das mein Teenager-Ich gerne geschrieben hätte”, bezeichnet James ihre neueste Arbeit. „Das Album ist eine Fusion meiner alten musikalischen Einflüsse”, erzählt James. Der emotionale Sound von Bands wie Toe, American Football, Death Cab for Cutie, aber auch Telefon Tel Aviv und Dntel war der Soundtrack ihrer Schulzeit.

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

„Zu der Zeit fühlte ich mich oft sehr schlecht, hatte mit Selbstzweifeln und Selbsthass zu kämpfen”, erinnert sie sich. „Ganz schön deprimierend”, fügt sie mit schiefem Lächeln hinzu. Tracks wie „Tired of Me” oder „I’m Trying To Love Myself” spiegeln das auf ihrem neuen Album wider. Letzterer bedient sich einiger Samples aus Dntels „Anywhere Anyone”. „Der Song sagt: ‚How can you love me, when you don’t love yourself?’” Als Antwort darauf also darf „I’m trying to love me” gedeutet werden.

Die ersten Berührungspunkte mit der Musikproduktion hatte James auf dem College, als sie ihre erste DAW bekam. Heute sagt sie, damals sei eine komplett neue Welt über sie hereingebrochen. „Das war wirklich ein zentraler Moment für mich. Zu merken, dass ich Musik einfach am Laptop produzieren kann, mich nur mit einem Laptop musikalisch ausdrücken kann, das hat meinen Horizont enorm erweitert.”

Just Do It

Für ihre Musikproduktion ist sie seither bei dem schmalen Setup geblieben. Vom teilweise ausufernden Kabelfetischismus vieler Produzent:innen hält sie wenig. Ihr 2021 erschienenes Album Reflection etwa hat sie nur mit ihrem Laptop und einem kleinen Keyboard produziert. Mitten in der Pandemie ist das Album die meiste Zeit buchstäblich im Schlafzimmer ihrer damaligen Partnerin entstanden. Für aufstrebende Musikproduzent:innen hat sie darum eine klare Message: „Du brauchst das ganze Geld, das ganze Equipment nicht. Just do it!”

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

Wie sie selbst, irgendwann Anfang 20. Damals hat sie sich die metaphorischen Nike-Schuhe angezogen und den Schritt in die Musik gewagt. Dabei war sie davor noch auf dem Weg, eine ganz andere Route einzuschlagen. Denn obwohl sie einen Abschluss in Commercial Music in der Tasche hatte, erhoffte sie sich nach der Universität eigentlich eine Zukunft als Lehrerin. Damals arbeitete sie noch als Assistenzlehrkraft an der Schule ihrer Mutter. „Das mit der Musik habe ich anfangs nur nebenbei gemacht. Erst nach einer Weile habe ich mir dann gesagt: Warum nicht ausprobieren?”

Doch kaum hatte sie den Schritt gewagt, wurde es dunkel auf den Bühnen dieser Welt. Die Stecker waren gezogen – die Pandemie verlangte Stille. Für James erst einmal ein herber Rückschlag. Hatte sie doch gerade alles auf eine Karte gesetzt. Zum Glück habe sie sich aber ein wenig auf dem Erfolg ihres Albums For You And I ausruhen können, das sie kurz zuvor auf Hyperdub herausgebracht hatte.

„Zu hören, wie meine eigene Musik auf vollkommen andere Weise zum Leben erweckt wird, war toll.”

Loraine James

For You And I war das zweite Album von James, das auf einem Label erschien. Zuvor hatte sie ihre Musik über Bandcamp selbst veröffentlicht. Der Kontakt zu Hyperdub sei über einen Umweg zustandegekommen, erzählt James. Nach einer kleinen Record-Release-Party zu ihrem Album Detail sei die DJ object blue auf sie zugekommen. Ein paar Wochen später spielte James in ihrer NTS-Show. Noch währenddessen habe object blue an Hyperdub getweetet: „Ihr braucht Loraine James auf eurem Label.” Danach habe dann eins zum anderen geführt.

„Loraine James’ Vision ist zu groß für den Club”, titelte der Rolling Stone 2021. Seitdem hat James tatsächlich den Schritt aus dem dunklen Club in den karminroten Konzertsaal getan. Zusammen mit dem London Contemporary Orchestra spielte sie letztes Jahr ein Konzert in der Queen Elizabeth Hall. Damit habe sie sich einen Traum erfüllt, von dem sie noch gar nicht wusste, schmunzelt sie. „Das war definitiv eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Zu hören, wie meine eigene Musik auf vollkommen andere Weise zum Leben erweckt wird, war toll.”

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

Neben Stücken aus For You And I spielte James mit dem Orchester auch ihr 2022 erschienenes Album Building Something Beautiful For Me. Eine Hommage an den US-amerikanischen Künstler Julius Eastman, der in den Sechzigern und Siebzigern die Minimal Music prägte. Lange in Vergessenheit geraten, erlebte Eastman vor ein paar Jahren eine Renaissance. Als queerer schwarzer Musiker thematisierte er in seinen Kompositionen schon früh den omnipräsenten Rassismus und die grassierende Homophobie in der Gesellschaft der USA. Ein Unterfangen, das damals vor allem in der notorisch elitistischen E-Musik seinesgleichen suchte.

„Was ich mir wünsche, ist, in vollen Zügen das zu sein, was ich bin – in vollen Zügen schwarz, in vollen Zügen Musiker, in vollen Zügen Homosexueller”, sagte Eastman einmal. Den kürzesten Weg dorthin fand er immer in der Musik. Egal welcher Genres.

So auch James, die immer versuche, ihr Selbst kompromisslos in ihrer Musik umzusetzen. Dass dabei Genregrenzen genauso gepflegt missachtet werden wie sonstige Normen, ist nur folgerichtig. Ihr Zugang sei intuitiv, sagt sie. Tagebuchartig setzt sich in ihrer Musik das fort, was sie erlebt. Das sind Emotionen, das sind aber auch die Erfahrungen, die James in einer noch immer von Rassismus und Homophobie durchsetzten Welt mache. „Ich bin eine schwarze Künstlerin in einer von Weißen dominierten Welt”, sagt sie. „Das wird man immer in meiner Musik finden.”

Loraine James (Foto: Ivor Alice)

Nachdenken müsse sie trotzdem nicht beim Produzieren. Ihr Sound entstehe immer von allein. „Das bin nunmal ich”, sagt sie und schaut achselzuckend in die Kamera. „Wenn man selbst produziert, hat man eine komplett andere Perspektive auf die eigene Musik. Da ist es merkwürdig, von einem Signature-Sound zu sprechen. Ist ja wie gesagt nicht so, als würde ich irgendeinem elaborierten Plan folgen, aber trotzdem scheint meine Musik am Ende immer nach mir zu klingen.”

Was die Leute dann damit anfangen, bleibt ihnen überlassen. Wenn sie Lust haben, das unbedingt einzusortieren, bitte sehr. Sie freue sich einfach, wenn ihre Musik Menschen bewegt. „Merkwürdig sind ja nur Leute, die sagen, sie mögen keine Musik. Hä, wie jetzt?”, James muss lachen. „Musik ist alles!”

„Aphex Twin für Leute, die Sex haben.”

ein Bandcamp-User über Loraine James’ Sound

Für die Zukunft hat James nur lose Pläne. Vielleicht, sich weiter in Richtung Konzertmusik zu bewegen. „Die Zusammenarbeit mit dem Orchester war so toll, das kann ich mir sehr gut für die Zukunft vorstellen”, sagt sie. Auch ein neues Whatever-The-Weather-Album sei im Anmarsch. Mit dem Ambient-Projekt habe sie schließlich gerade erst begonnen. Festlegen wolle sie sich aber für die Zukunft nicht. Sie will sich ja schließlich nicht langweilen.

Eines ist klar, von Konventionen hält James wenig. Wahnsinnig einfallsreich und einfühlsam klingt James Musik, die den Club genauso transzendiert wie feiert. „Aphex Twin, für Leute die Sex haben”, beschreibt ein Bandcamp-User James’ Sound. Wie Klassiker zumindest hören sich ihre Alben schon jetzt an.

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