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Kaum jemandem gelingt es wie Call Super, aus Abenteuerlust ein experimentelles Terrain abseits der traditionellen Dancefloor-Musik zu erschließen. Anfang Oktober erschien das vierte Studioalbum Eulo Cramps von Joseph Richmond Seaton auf Can You Feel The Sun, dem Label, das Call Super zusammen mit Kollege Parris betreibt.
Eulo Cramps hat mehr mit Seatons Lebensgeschichte zu tun als die drei Vorgängeralben. Die Verarbeitung von Krisen, die er als Teenager hatte, lassen es organisch und ruhig erscheinen. Inspiriert von Jazz und Improvisation, mit Seatons Vater am Saxofon, unterlegt mit Broken Beats, ätherischen Stimmen und der technischen Innovation einer E-Harfe, kreist das Album um die Aufarbeitung der Traumata aus Seatons Teenagerzeit.
GROOVE-Autorin Ameera Lumb erreichte Call Super an einem Mittwochmorgen während einer Tourpause in Kalifornien. Dort war er mit seinem langjährigen Weggefährten und guten Freund Objekt unterwegs und sammelte Kraft für das anstehende Wochenende.
GROOVE: Joseph, dein Sommer war vollgepackt mit Auftritten. Gerade hast du dein Studioalbum Eulo Cramps veröffentlicht, das du als deine bisher persönlichste Arbeit ansiehst. Wie geht es dir?
Call Super: Dieses Jahr fühlt sich machbarer an als das letzte. Da hatte ich das Gefühl, kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Nach der Pandemie war es sehr schwierig, von einer introspektiven Zeit wieder in einen fordernden Zeitplan überzugehen. Inzwischen achte ich darauf, dass ich mir Zeit für mich nehme.
Was ist Eulo Cramps für dich?
Im Gegensatz zu den früheren Alben spiegelt Eulo Cramps mich selbst wider. Das wird auch in seiner Präsentation deutlich und in dem, wie wir, Dwayne Parris und ich, uns das Album vorgestellt haben. Außerdem habe ich mich dazu entschieden, mehr über die Musik zu sprechen. Beim letzten Album habe ich kaum etwas dazu gesagt. Ich habe das Gefühl, dass ich loslasse und viele Dinge abschüttele, die sehr lange in meinem Kopf gelebt haben. Gemessen daran, was gerade passiert, geht es mir ziemlich gut.
Aus welchem Impuls heraus ist Eulo Cramps entstanden?
Das Album handelt von einem besonderen Abschnitt in meinem Leben, über den ich viel nachgedacht habe. Ich habe mein Kunststudium in London abgebrochen, weil ich mit der Kunstwelt nichts anfangen konnte. Ich bin nach Schottland und später nach Berlin gezogen, wo ich jahrelang versucht habe, über die Runden zu kommen. Langsam habe ich meine Musikkarriere begonnen, die plötzlich ziemlich intensiv wurde. Als 2020 alles stillstand, hatte ich viel Zeit für Reflexionsarbeit, die mir zuvor gefehlt hatte. In den vergangenen Jahren gab es viele schmerzhafte Dinge, traumatische Erfahrungen, die ich als Teenager gemacht habe. Ich musste zu ihnen zurückkehren, um zu verstehen, wer ich war und was sie mir angetan hatten. Inzwischen habe ich eine Art entwickelt, mein Leben zu verstehen.
Wie sieht du dein Leben jetzt?
Zu keinem Zeitpunkt sind wir ausdefinierte Personen. Wir durchlaufen vielmehr viele Versionen unserer selbst – alle sind vollkommen wahr, gültig und authentisch. Das heißt auch: Die Menschen, die wir noch nicht geworden sind, sind bereits in uns. Und die Menschen, die wir früher einmal waren, sind immer noch in uns. Sie mögen vielleicht verblasst oder fast nicht mehr vorhanden sein, aber Spuren sind noch spürbar.
Wie meinst du das?
Wir sind nicht nur eine:r, wir sind viele. Aus dieser Idee entwickelte sich das Album. Ich habe zuerst eine visuelle Darstellung dieses Gedankens produziert und Gedichte geschrieben, um die Idee noch ein bisschen besser zum Ausdruck zu bringen. Von dort aus entwickelte ich eine klangliche Sprache für diese Themen und eine Art und Weise, wie ich sie musikalisch ausdrücken wollte.
Wann hast du begonnen, an Eulo Cramps zu arbeiten?
Anfang 2019 habe ich den ersten Track produziert. In meinem Kopf sind immer viele Ideen für verschiedene Projekte. Manchmal konzentriere ich mich auf eine Sache, manchmal arbeite ich an vielen verschiedenen Dingen. An Eulo habe ich monatelang intensiv gearbeitet und dann wieder Pausen eingelegt, bis ich es irgendwann im Jahr 2022 fertigstellte.
Fällt es dir schwer, etwas fertigzustellen?
Manchen Menschen fällt es schwer, anderen leicht – ich bewege mich da irgendwo in der Mitte. Das liegt in der Natur meiner Arbeit. Sie wirkt stilisiert und abgeschlossen – und doch unvollendet.
Bist du Perfektionist?
Ich arbeite und arbeite, irgendwann sage ich: „Stopp, das ist es”. Dafür braucht man eine klare Vorstellung davon, was das Album werden soll.
Wann wurde deine Biografie das Thema des Albums?
Das kam ziemlich früh im Prozess. Ich wusste, dass ich meine Erfahrungen als Teenager mit einbeziehen wollte. Dazu kam die Gitarre, ein Instrument, auf dem ich viel geübt habe, und das Klavier. Ich wollte außerdem eine Art fiktives Instrument schaffen, das irgendwo zwischen den beiden lag. Daraus entstand ein Sound, der ein bisschen wie eine Gitarre mit starken Saiten klingt.
Du meinst die E-Harfe, die du erfunden hast?
Genau, das war die Idee dafür.
Was steckt hinter dem Namen Eulo Cramps?
Eines meiner Alben heißt Suzi Ecto. Ecto ist für mich ein Zustand der Glückseligkeit, als eine Abkürzung des Wortes „Ecstasy”. Das nächste Album hieß Arpo, eine Art indirekte Anspielung auf Harpo Marx, den vergessenen Bruder der Marx Brothers [Komiker aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, d.Red.]. Eulo Cramps nimmt dieses Schema wieder auf. Cramps, Krämpfe, entstehen, wenn der Körper an seine Grenze geht oder wenn ein bestimmter Muskel nicht mehr genügend Sauerstoff bekommt, um ihn am Laufen zu halten. Krämpfe sind ein Stadium, das wir erreichen, wenn die Grenze einer Erfahrung überschreiten. Und Eulo meint nur: „You are low.” Wenn man etwas älter wird und die Gelegenheit hat, über die die vergangene Lebenszeit und frühere Erfahrungen nachzudenken, die einen geformt haben, wird deutlich: Man kann kein starker Mensch sein und die Dinge, mit denen einen das Leben konfrontiert, bewältigen, ohne viel durchzumachen. Das soll nicht depressiv klingen, das ist einfach wichtig.
Der Titel enthält also mehrere Ebenen.
Man kann ihn auf bestimmte Arten interpretieren. Ich wollte aber auch, dass es einfach ein Name ist. Man muss die Bedeutung einer Sache nicht kennen, um sie zu schätzen. Wenn man sie wirklich schätzt und noch ein bisschen tiefer schürfen möchte, findet man aber die Gelegenheit dazu.
„Ich mag, dass alles ein verschwommenes Durcheinander ist.”
Call Super
Wie ist das mit Call Super?
(lacht) Ich hasse diesen Namen, aber er blieb irgendwie hängen. Die Idee kam von meinem Freund TJ [Hertz, d.Red.], sein Künstlername ist Objekt. Es begann mit einem dummen Scherz. Er hatte eine Platte gemacht und wusste nicht, wie er sie nennen sollte. Also stempelte er einfach „Objekt” darauf. Und alle dachten, es wäre sein Alias. Das blieb hängen.
Und dein Name?
Beim Programmieren gibt es sogenannte Anti-Patterns. Sie lösen den Nutzen deiner Arbeit auf. Du musst also herausfinden, was im Code falsch ist. Das wird „Call Super” genannt. Auf Wikipedia findest du sicherlich eine viel bessere Erklärung. Aber das ist die ursprüngliche Entstehungsgeschichte des Alias.
Eulo Cramps, Suzi Ecto und Elmo Crumb: Diese Namen existieren, weil ich Call Super hasse. Mir ist schon klar, dass der Hauptname wichtig ist. Ich mag es aber, mit meiner Identität herumzuspielen.
Du hast für das Album mit verschiedenen Sängerinnen gearbeitet. Wie hat sich das ergeben?
Elke Wardlaw und ich haben uns vor zehn Jahren kennengelernt, weil wir Nachbarn waren und ich ihre Stimme liebe. Außerdem kommt sie aus Baltimore und hat einen sehr schönen Akzent. Von Julia Holter bin ich Fan, ich liebe ihre Musik. Also habe ich sie kontaktiert. Und Eden Samara habe ich über gemeinsame Freund:innen in London kennengelernt. Sie hat eine kraftvolle Stimme – ganz anders als der sanfte Crooner-Gesangsstil, den heute viele Sänger:innen bevorzugen. Ich wollte mit ihnen verschiedene Dinge umsetzen und nicht mit bekannten Sänger:innen zusammenarbeiten. Es sollte persönlich sein. Hoffentlich wird das deutlich. Manchmal ist die Ökonomie des Anspruchs alles, was man braucht.
Bei deiner Suche nach einem Selbst scheint die Natur eine Rolle zu spielen. Was siehst du in der Natur?
Das weiß ich nicht. Ich bin in der Stadt aufgewachsen und habe nie in der Natur gelebt. Allerdings habe ich das Gefühl, dass ich sie schon immer gebraucht habe. Gleichzeitig will ich, dass meine Musik eine Erweiterung meines Selbst ist. Um diese Qualität zu haben, muss sie sehr menschlich sein. Und menschliche Qualitäten sind eng mit der Natur verbunden. Wir wachsen und sind organische Wesen, die aus Zellen bestehen. Es fällt mir aber schwer zu sagen, warum meine Musik so klingt, wie sie klingt. Ich weiß nur, dass es etwas mit dieser Verbindung zu tun hat – zur Natur, dazu, ein lebender Organismus zu sein, wie alles andere auf diesem Planeten.
Kannst du dich in der Natur erholen und neue Kreativität aus ihr schöpfen?
Nein. Ich liebe es war, Zeit in der Natur verbringen. Aber Urlaub zu machen, fällt mir schwer, ebenso, die Stadt zu verlassen. Wenn ich ein Wochenende frei habe, bin ich eher mit einem Freund in einer Bar als am See. Ich denke, die Antwort auf all diese Fragen ist, dass ich immer will, dass der Klang mich tatsächlich widerspiegelt. Manche Leute setzen sich hin und sagen „Ich möchte einen Electro-Track schreiben” oder „Ich möchte, dass die Musik futuristisch klingt”. So denke ich nicht. Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, wer ich als Person bin, und diese kleine Welt erschaffen, die ich bin.
„Ich habe jahrelang nichts veröffentlicht. Es ist so wichtig, eine Zeit im Leben zu haben, in der man keine großen Ambitionen hat. Du bist einfach DJ, weil du es liebst. Das geht oft verloren, weil sich viele Leute zu viel vornehmen.”
Call Super
Kannst du das ausführen?
Wenn man Maler:in oder Illustrator:in ist, liegt die Art, wie man Farbe auf das Papier bringt, ganz bei dir – die Arbeit ist nur eine Erweiterung von dem, wer man ist. So nähere ich mich meiner Musik. Mein Prozess im Studio ist darauf ausgelegt, den Klang der Umgebung an mich heranzulassen. Am liebsten höre ich also der Welt um mich herum zu. Ich verbringe längere Zeit im Studio, verlasse es und möchte zum Ausgleich längere Zeit überhaupt nichts hören. Bis ich dann wieder mehr Zeit im Club verbringe. Das ist sehr bereichernd.
Wie findest du den Ausgleich zwischen Club und Stille?
Ich habe früh mit der Musik angefangen, sah sie aber als Hobby, weil ich etwas anderes im Leben machen wollte. Im Laufe der Jahre begann sich aber eine Musikkarriere zu entwickeln. Einige Jahre waren hart, und ich hatte mit dem Druck zu kämpfen. Ich wusste aber immer, wer ich war. Das ist die Hauptsache. Heute sehe ich Menschen, die jung in die Musikszene einsteigen, aber nach ein paar Jahren eine Identitätskrise erleben, weil sie das Erwachsenwerden, das wir alle durchleben müssen, außerhalb der Öffentlichkeit nicht geschafft haben.
Wann kam bei dir der Zeitpunkt, an dem du dich ausschließlich auf die Musik konzentriert hast?
Ich habe in einem Callcenter in Berlin gearbeitet und hatte die Nase voll. Ich beschloss, einen besseren Job zu finden. Also habe ich mich für ein BBC-Programm beworben. Zur gleichen Zeit diskutierte ich über einen Deal mit Houndstooth und dachte: Entweder ich probiere es einfach aus und widme mich ganz der Musik oder ich mache eine Ausbildung. Also habe ich es mit der Musik probiert. Ich war etwa 24.
Gehen wir ein paar Schritte zurück. Wie kamst du erstmals mit Musik in Kontakt?
Wahrscheinlich durch die Instrumente meines Vaters. Im Auto haben wir auch manchmal gehört. Ich erinnere mich an Tracy Chapman und den Jazz, den mein Vater hörte: Künstler:innen wie Sammy Rimington und Ken Colyer, Louis Armstrong oder auch Bob Dylan.
Und deine eigene, persönliche Begegnung mit Musik?
Das ist schwer zu sagen, weil ich mit fünf Jahren angefangen habe, Gitarre zu spielen. Mit acht kamen dann erste Konzerte dazu. Mein erstes Album hat mir jedenfalls mein Onkel zu Weihnachten geschenkt, das White Album von den Beatles. Die erste Platte, die ich tatsächlich gekauft habe, war wahrscheinlich von Leaper oder Suede, eine dieser Neunziger-Jahre-Bands. Auch von Pulp war ich begeistert. Ich habe aber das Gefühl, dass meine eigene Reise in die Musik vor allem dadurch erfolgte, dass ich sie spielte, nicht weil ich sie hörte.
Wie bist du das erste Mal mit elektronischer Musik und Clubkultur in Kontakt gekommen?
Ich begann mit etwa zehn Jahren in Bands zu spielen. Meine Freund:innen hörten englische Indie-Bands, die von Tanzmusik beeinflusst waren. Der ältere Bruder meines besten Freundes stand außerdem auf harten Techno und Trance, also liehen wir uns Kassetten und CDs von ihm aus. Ich fühlte mich mit dieser Musik tief verbunden. Mir gefiel auch, dass man sie alleine machen kann. In Bands zu sein, macht zwar Spaß, ist aber auch frustrierend, wenn man selbst viele Ideen hat. Man kann auch alles mit Maschinen erledigen. Das zu wissen, war befreiend.
Wann hast du mit dem Auflegen angefangen?
Ich habe mir meine ersten Decks zu meinem 15. Geburtstag gekauft. Mein Patenonkel hatte mir 500 Pfund geschenkt. Das reichte aus, um sehr Günstige zu bekommen.
Erinnerst du dich noch an deinen ersten Auftritt?
Zwei Freunde und ich hosteten einen kleinen Abend in einem Lokal namens Cafe 1001 in der Brick Lane in London. Vorne war ein Eiscafé und hinten ein Club. Wir waren 18 oder so, also war das fast legal. Später arbeitete ich hinter einer Bar mit eingebauten Decks. Wenn ich meine Schicht beendet hatte, ließen sie mich bis 2 Uhr morgens Platten auflegen. Als ich in Schottland studierte, kam ich dann zu richtigen Auftritten in Clubs und bei studentischen Radiosendern.
Du hast also aufgelegt, bevor du produziert hast?
Ich habe jahrelang nichts veröffentlicht. Es ist so wichtig, eine Zeit im Leben zu haben, in der man keine großen Ambitionen hat. Du bist einfach DJ, weil du es liebst. Das geht oft verloren, weil sich viele Leute zu viel vornehmen.
„Ich bin ein Romantiker und denke, dass es immer einen Platz für Geduldige geben wird.”
Call Super
Was ist der härteste Ort, um aufzulegen?
Am schwierigsten ist es, wenn man an einem belebten Ort spielt und niemand an der Musik interessiert zu sein scheint. Da hinterfragst du dich ständig selbst.
Wo fühlst Du dich am wohlsten?
Am einfachsten ist es, wenn sofort eine Verbindung zwischen dir und dem Publikum entsteht und man am Ende eins ist mit allen. Mein Gig beim Houghton Festival dieses Jahr fühlte sich so an.
Du bist bekannt dafür, die Grenzen moderner Clubmusik zu überschreiten. Hat dich irgendwas am Clubsound so genervt, dass du es ändern musstest?
Wenn man sich irgendeine Art von Kultur anschaut, sei es Clubmusik, Theater, Ballett oder Kino, wird man eine Menge entdecken, das man nicht mag, mit dem man sich nicht identifizieren kann, was man für Unsinn hält. Wenn ich professionell Musik mache, schaffe ich Raum für die Dinge, die ich mag. Ich schaue nicht umher und denke mir: „Ich mag diese Musik nicht, sie wird mich dazu inspirieren, etwas anderes zu machen.”
Aber?
Je länger man dabei ist, desto öfter sieht man Leute, die etwas Eigenes gemacht und dann damit aufgehört haben, um zu verfolgen, was gerade im Trend liegt. Damit habe ich mich nie identifizieren können – auch weil ich denke, dass die Musik, die dabei herauskommt, nicht sehr gut ist.
„Tanzmusik ist voller billiger Tricks und sich wiederholender Ideen. Manchmal machen sie Spaß, manchmal nerven sie gewaltig.”
Call Super
Macht es dich traurig, dass die Mehrheit solche Sachen gut findet?
Die Mehrheit der Leute steht meiner Meinung nach nicht auf das Beste. Ich sehe das aber so, weil ich verschiedene Dinge mag und mich nicht festlegen möchte. Schließlich will ich mich als Künstler:in weiterentwickeln. Ich bin aber vorsichtig, denn ich will auch kein großes Publikum anziehen, sondern eines, das sich mit meinen Ideen verbunden fühlt. Es ist also meine Aufgabe, rauszugehen und die Dinge zu finden, die mich inspirieren. Was mich nervt, ignoriere ich oder lass’ es sein. Deshalb sage ich: Such’ weiter. Es gibt jede Menge tolle Leute da draußen, die gute Sachen machen, konzentrier’ dich auf sie.
Die gibt es auf jeden Fall. Wer inspiriert dich denn?
Wenn ich im Studio bin, höre ich viel Musik, die ich als DJ auflegen will. Wenn ich zuhause bin, höre ich viel Musik, die nicht auf Tanzen ausgerichtet ist. Das alles fließt in die Musik ein, die ich komponiere. Ich liebe zum Beispiel das Album von James Holden, das Anfang des Jahres herauskam. Ich habe zuletzt aber auch viel Folk von Michael James und Terry Reid gehört. Das interessante an der Folk-Szene der Sechziger und Siebziger ist, dass sie eine ganz queere Seite hatte – insbesondere bei den lesbischen Folk-Künstlerinnen in den USA. Vieles davon war mit handfester Arbeit in der Community verbunden. Joan Baez hat in einem politischen Sinn eine ganze Gemeinschaft aufgebaut. So entstanden einige der ersten explizit queeren Gemeinschaftsräume.
Welches Album hast du zuletzt auf Bandcamp gekauft?
Christina Vantzou, Michael Harrison & John Also Bennett, eine von Raga inspirierte Komposition.
Gibt es Newcomer:innen, die du im Blick hast?
Katiusha, aus Berlin. Hauptsächlich wegen ihrer DJ-Sets. Sie hat aber auch einen Track auf der letzten Peach-Compilation veröffentlicht, den ich toll fand.
Wie würdest du heutzutage eine Musikkarriere angehen?
Sei immer am Start und suche ständig nach Ideen. Sobald du dich für eine Idee entschieden hast, musst du die Türen für andere Ideen verschließen und dich darauf konzentrieren, denn: Nirgendwo auf diesem Weg darf es ein Hindernis geben, es muss einfach fließen. Das ist etwas, das sich nicht geändert hat. Die Dinge, die sich geändert haben, sind die Kommunikationsmethoden und die Medien.
Vorhin hast du erwähnt, dass du nicht Teil der Kunstwelt sein möchtest. Zu deinem Album stellst du aber auch Kunstwerke und Text in einer Kirche in London aus. Bist du also doch Teil der Kunstwelt?
Herauszufinden, wie man Kunst auf eine Weise präsentieren kann, die nicht an Galerien oder Geld gebunden ist, war eine schöne Aufgabe. Ich beschloss, es in einer Kirche zu versuchen. Der Pfarrer der St. Mary’s Church ist ein alter Freund von mir, dort findet die Ausstellung statt. Die andere Entscheidung war: Das einzige Verkaufsobjekt wird ein kleines Buch sein, es kostet 20 Euro. Das ist erschwinglich und nicht spekulativ – genau das Gegenteil der Kunstwelt.
Hat die Ausstellung einen religiösen Hintergedanken?
Nein, ich bin nicht religiös, auch wenn ich bis zu meinem elften Lebensjahr jede Woche zur Kirche ging. Ich habe aber keine besonders negative Sicht auf Religion wie viele andere Menschen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die in die Kirche gehen, entwickeln dadurch ein Gemeinschaftsgefühl. Letztendlich gehen die Leute aus demselben Grund am Sonntag Bowls essen oder mit ihren Freunden Karten spielen. Die meisten Diskussionen über Religion konzentrieren sich auf fundamentalistische Dinge, aber ich denke, dass es sich tatsächlich um eine ziemlich harmlose Kraft handelt.
Hast du denn generell einen Rat?
Hör immer zu. Sei jemand, der rausgeht und Erfahrungen mit Musik macht. Du willst schließlich nicht mit Erfolg konfrontiert sein, bevor du weißt, wie du auf ihn reagieren sollst. Dann weißt du auch, wie du den Moment richtig nutzen kannst – wenn er denn kommt.
Was war dein Moment?
Ich wusste es zu der Zeit nicht, aber rückblickend war es mein Set bei Dekmantel Selectors [von 2016, d. Red.]. Danach fühlte sich alles anders an.