Als Eventplattform und Label für eine ganze Reihe an herausragenden Acts hat sich Dekmantel einen Namen gemacht. Wer heute unter der Marke sein künstlerisches Schaffen präsentiert, zählt zum großen Ganzen. Und alle Musikfanatiker:innen, die es bis jetzt noch auf keine Veranstaltung der Amsterdamer Crew geschafft haben, sind zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach schon über Aufnahmen davon gestolpert, die regelmäßig durch zahlreiche Feeds schwirren.
Aber was steckt hinter dem Hype um die niederländische Crew? Dieser Frage ist unser Autor Leonard Zipper im Rahmen seines Besuchs des diesjährigen Dekmantel Festival vom 2. bis 6. August in und um Amsterdam auf den Grund gegangen.
In der Regel beginnen Sommerfestivals damit, dass man sich bei 36 Grad mit seiner Campingausrüstung herumschlägt. Danach folgt häufig der pausenlose Exzess. Und dann ist plötzlich Montag. Man sitzt eingestaubt und sonnenverbrannt im Bassliner, hat drei Kilo weniger auf den Rippen und erwischt sich dabei, wie man seine Stunden im Zelt an zwei Händen abzählt. Nun, auf dem Dekmantel Festival läuft das alles etwas anders, so viel sei an dieser Stelle bereits verraten.
Schon der Einstieg der fünftägigen Zusammenkunft gestaltet sich deutlich gediegener als bei anderen langwierigen Sausen. Dieser spielt sich am Mittwoch und Donnerstag an verschiedenen, teils äußerst schicken Locations in Amsterdam ab. Hier sitzen die Leute meist noch artig auf festen Plätzen, während es Konzerte und Live-Sets zu bestaunen gibt. Techno meets Hochkultur.
Am ersten Abend sind es gerade mal einige Hundert Gäste, die sich für ein Konzert mit Jeff Mills aus Detroit und dem Tablaspieler Prabhu Edouard im imposanten Muziekgebouw nahe dem Hauptbahnhof eingefunden haben. Gemeinsam mit der Flötistin Rasheeda Ali und dem Keyboarder Jean-Phi Dary spielen die Vier gut zwei Stunden. „Tomorrow Comes The Harvest” nennt sich ihr Projekt, mit dem sie Grenzen zwischen Club und Klassik auflösen. Ihre Synthese aus Jazz, elektronischer Musik und klanglichen Einflüssen aus aller Welt ist zunächst einnehmend, droht sich aber aufgrund des Improvisationscharakters immer wieder in der Monotonie zu verlieren. Jedesmal, bevor es so weit kommen kann, gelingt es den Musiker:innen jedoch, mit eindrucksvollen solistischen Passagen das Ruder doch noch herumzureißen. Dabei zieht besonders Prabhu Edouard, dessen absurd flinke Hände und Füße zahlreiche Schlaginstrumente bedienen, die Crowd in den Bann.
Donnerstagabend merkt man vielen Besucher:innen des Muziekgebouws die Vorfreude auf die morgige Eröffnung der Dancefloors bereits an. Besonders als Lucrecia Dalt mit ihrem Partner Alex Lázaro die Bühne unsicher macht. Lázaro sitzt überdreht am Schlagzeug, ebenso unruhig wie das hibbelige Publikum, während seine bessere Hälfte betörend mit ihrem Mic flirtet. Dabei verarbeitet die kolumbianische Künstlerin traditionelle lateinamerikanische Genres wie Bolero und Son und setzt deren charakteristische Elemente mit metallischen Synthesizern und esoterischen Beats neu zusammen. Klares Highlight!
Freitag beginnt dann das eigentliche avantgardistische Gelage, für das das Dekmantel so bekannt ist. Dafür wird die feine Kluft gegen regendichte Kleidung getauscht. Schließlich wird es der Wettergott die kommenden Tage nicht gut mit uns meinen. Woodstock 1969 lässt grüßen! Wir machen uns auf zum Hauptgelände in den Amsterdamse Bos, einer großen öffentlichen Parkanlage am Rande der Stadt. Das Naherholungsgebiet liegt gut 15 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt und bildet eine grüne Pufferzone zwischen dem Flughafen Schiphol und der Metropole. Hier werden bis Sonntag über 25.000 Besucher:innen täglich bis 23 Uhr ins Schwitzen gebracht – ganz genau, durchgefeiert wird hier nicht, so läuft das meistens auf niederländischen Festivals.
Trotz des angekündigten Sauwetters ist das Festival restlos ausverkauft. Auch auf Ticketbörsen gibt es für so gut wie nichts mehr zu holen. Wer hinterher war und ein Ticket ergattert hat, steht nun vor der Qual der Wahl: Mit einigen herausragenden Acts wie Omar S, Woody92, Helena Hauff, Donato Dozzy, Objekt oder Shanti Celeste hat man eine ganze Armada an etablierten Hochkarätern für das Wochenende ins Unterholz bestellt. Wovon sich viele angesichts der aufgeschlossenen Grundatmosphäre, die von der Crowd ausgeht, an den Decks besonders austoben werden. Das gilt auch für zahlreiche herausragende Newcomer:innen wie Kia, French II, ISAbella oder Mad Miran, die elektronische Musik derzeit resolut nach vorne treiben.
Neben einigen britischen und deutschen Musiknerds – die Label-T-Shirts verraten sie – schlagen hier viele Raver:innen mit ihren Drahteseln aus dem Umland auf. Das Publikum kommt unprätentiös, gesprächig und bunter als jede Berghain-Schlange daher. Was fehlt, ist die LGBTQI+-Community, denn das Dekmantel findet diesmal und bereits die letzten vier Ausgaben parallel zum Amsterdamer CSD-Wochenende statt. Klarer Stimmungskiller!
Für die neunte Festivalausgabe hat die Dekmantel-Crew jeweils vier Out- und Indoor-Bühnen auf dem sehr kompakten Gelände eng nebeneinander geparkt. Und der Großteil davon kann sich wirklich sehen lassen. Nicht zuletzt die eindrucksvolle Loop Stage, deren monströse LED-Wand den weitläufigen Dancefloor umschmiegt, ist eine Anreise wert. Diese wirkt vor allem mit dem Einbruch der Dunkelheit, von dem man hier allerdings nur gut zwei Stunden was hat. Dann macht das Areal dicht.
Wer mit der Schließung des Geländes noch nicht die Äuglein schließen kann, darf in einem der zahlreichen herausragenden Clubs Amsterdams weitermachen. Wer nicht reinkommt, landet im Bett. In beiden Fällen muss man dafür mit einem Shuttle oder Taxi zurück in die City düsen. Tatsächlich kommt aufgrund dieser Zwangspausen keine klassische Sommerfestival-Stimmung auf, die sich erfahrungsgemäß erst im Laufe einer pausenlosen mehrtägigen Party entwickelt. Das Miteinander, der Austausch mit neuen Menschen wird dadurch gehemmt. Etwas, das in diesem Jahr ohnehin schwierig war, weil der Dauerregen kaum zuließ, auf dem Gelände abzuhängen, denn: Anständige Bereiche zum Runterkommen gibt es jenseits der Wiesen und Tische am Food Court nicht.
Auch bei Tageslicht ist die Loop Stage einen Abstecher wert. Vor allem als Blawan am Samstag mit seinem Maschinenfuhrparks ein Live-Set zum Besten gibt, das es in sich hat. Während sich ein gutes Dutzend populärer DJs breitgrinsend mit ihren Smartphones hinter dem Briten versammelt haben, ist dieser unbeirrt damit beschäftigt, die Grenzen von Techno neu zu verhandeln. Die Darbietung klingt archaisch und gleichzeitig ziemlich vorwärtsgewandt. Das sorgt mit allerhand entrückten arrhythmischen Passagen zwar nicht für wackelnde Beine, aber besonders große Augen.
DJ Stingray sticht am Wochenende ebenfalls hervor. Denn während seines Auftritts im Ufo I läuft ausnahmsweise nicht „Professor X”, sondern allerhand Eigenproduktionen, die das Electro-Schwergewicht aus Detroit in ein Live-Set gegossen hat. Das klingt ziemlich roh und lädt die Menge zum Zappeln ein. Wenn man sie lassen würde: Stellenweise ist der Floor ziemlich uneben, nicht nur hier. Und nein, das liegt nicht am Keta, oftmals sind es Tanzflächenelemente, die lückenhaft auf den Böden verteilt sind. Ein Umstand, der im Laufe des Wochenendes löblicherweise erkannt und zumindest teilweise behoben wurde. Ja, kaum zu glauben, aber in der Nacht von Samstag auf Sonntag wurde auf dem Floor The Nest mit allerhand Einsatz sogar ein neuer Holzboden verlegt. Die Belohnung: Am letzten Tag kam die Crowd dort durch das mitreißende, perkussive Geballer des Italieners TSVI richtig in Fahrt!
Was diesmal fehlt, sind Boiler Rooms. Diese hatten sich in den Vorjahren in einem kleinen Hangar auf dem Gelände eingenistet, um Sets in die weite Welt zu senden, wovon viele viral gingen. Aber keine Angst! Trotz der Abwesenheit wird DJs und kameraffinen Gästen auch bei dieser Ausgabe eine digitale Bühne geboten. Mit HÖR ist stattdessen das Team aus dem bekanntesten Badezimmer Berlins am Start. Das hat sich für seinen Besuch was ganz Besonderes einfallen lassen: ein große, von Baugerüsten umgegebene Streaming-Plattform. Und mittendrin: die DJ Booth. Somit werden die Acts innerhalb dieser architektonischen Sehenswürdigkeit nicht nur vors Objektiv, sondern auch in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Das funktioniert 1A!
Am Sonntag heißt es dann nochmal anschnallen, besonders beim Closing des Greenhouses. Ben UFO hat nämlich einen richtig guten Tag und unterstreicht mit seinem treibenden UK-Sound abermals, wofür das Dekmantel steht. Der Hessle-Audio-Boss stellt sich in die Booth, zockt zwei, drei Tracks, und schon ist der Funke übersprungen. Die Musik sitzt, und die offenherzige Crowd hat Bock, wie meist an diesem Wochenende. Wem das inklusive der sehenswerten Floors reicht, der ist auf dem Dekmantel auf jeden Fall richtig aufgehoben. Besonders dann, wenn man seinen Besuch mit einer Erkundungstour durch das idyllische Amsterdam verbinden will. Wer sich hingegen nach der 360-Grad-Festivalerfahrung sehnt, sollte lieber nochmal in die Recherche gehen. Schlechten Schlaf auf einer durchgelegenen Isomatte, nächtliche Erkundungstouren jenseits des Dancefloors und tiefsinnige Gespräche mit Wildfremden auf dem Ambient Floor: All das darf man auf dem Dekmantel nicht erwarten.