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Juli 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Autobot-1000 – 3 Dimensions Of Space (Inherent Futurism) [Reissue] 

Jedem Ding wohnt Futurismus inne, scheint der Name dieses neuen, von Morten Kamper in Dänemark ins Leben gerufenen Labels Inherent Futurism rufen zu wollen. Könnte man diskutieren, doch beim Hören dieser Wiederveröffentlichung auch bleiben lassen und den Robot Man, das AI Girl oder den Headspin aufs Parkett bringen.

3 Dimensions Of Space von Autobot-1000 ist nämlich jede Sekunde Electro wert, jedes Fitzelchen Kraftwerk-Bewunderung („Cosmic Techno”), jede Verschiebung dieser Bewunderung auf Afrika Bambaataa („Electro”) oder auf die mystischen Digi-Codes von Drexciya („First Contact”).

Trügen die Titel weniger Erinnerung, Verbeugung und Fantum auf vergangene Zeiten in sich (es flirren außerdem über den Screen: „Access Denied”, „Internet” sowie das wie eine Verulkung anmutende Titestück), läge die Vermutung nahe, es hier mit Produktionen aus 1992 oder 1989 zu tun zu haben. Doch James B. Boggs aus North Carolina, der auch das Label Hoodwink Records betrieb, brachte 3 Dimensions Of Space erst im Jahr 2001 heraus. Es war sein Debüt. So kommt Hoffnung auf: Mögen uns viele weitere Entdeckungen aus seinem Schaffen bevorstehen. Christoph Braun

DJ Fett Burger & Dama – Emotional Tripper (Sex Tags UFO)

Der Norweger Peter Mitterer alias DJ Fett Burger ist mit seinem Label Sex Tags seit den frühen Nullern am Start. Im Allgemeinen könnte man seinen Sound vielleicht am besten zwischen elektronischem Global-Underground, Ambient-UK-Breaks-IDM und NYC-UK-90s-Underground-Tribal-House-Garage ansiedeln. Letzteres Genre war der Sound, der damals auf dem ursprünglichen Sex Mania herauskam und in der Sound Factory von Junior Vasquez oder auch der Ballroom-Szene gespielt wurde.

Die Einfilterung der Deep-House-Synth-Layer gelingt Fett Burger, der Emotional Tripper zusammen mit Dama produziert hat, ganz gut. Allerdings tuckerten die 90s-Produktionen damals nicht so entspannt über die Tanzfläche („Arkalia Sun (Unconscious State)”). „Sanza Paura” kommt als Mischung zwischen depressiv-retrofuturistischer England-Detroit-80s-Euro-Industrial-Disco und der Spät-90s-Den-Haag-Munich-Connection mit Upbeat-Pumpen-Basslauf daher. „Disco Storia (Fizz Trance)” erklärt den neuen Techno-Kindern zumindest per Titel die ästhetische Nähe zwischen Trance und Disco. Und erinnert durch die sich psychedelisch ins Gehirn schraubenden Synth-Loops entfernt an die „Knights of the Jaguar”-Remixe aus dem Jahr 2000. Während „N9 (Arte Rumero 7 Version)” die Breakbeat-Sample-House-Electro-Grenze in Richtung Hallraum- und Deepness-Verwirrung noch einmal spannend neu auslotet. Mirko Hecktor

Hörbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.

DJ MELL G – Issues (Juicy Gang)

Electro hat mit seiner nervösen Maschinenzackigkeit gern etwas Angespanntes. Der trocken verkantete Funk erzeugt dabei Fliehkräfte, die bis zum Zerreißen hin und her zu ziehen scheinen. Für die Hamburger Produzentin DJ MELL G ein passendes Vokabular, um sich mit dem Thema Borderline-Störung aus der Sicht einer Betroffenen zu beschäftigen.

Wüsste man das nicht, bliebe vermutlich unverständlich, warum sie im Intro mit verfremdeter Stimme davon spricht, dass man sich selbst „zerstört”. So hingegen bekommt das alles, in Kombination mit Titeln wie „Disturbed Mind”, „What I Fear” und, ganz explizit, „Borderline”, eine zusätzliche Dringlichkeit. Die hätte die Musik auf ihrem Debütalbum Issues aber auch so schon. Sechs Tracks und 26 Minuten Spielzeit benötigt sie, um zum Punkt zu kommen. Hart synkopiert, mit leicht fräsenden Sounds dazu, die in ihrer Künstlichkeit wie kalt ausgeleuchtet wirken. Danach ist erst einmal alles gesagt, vorhandene Ängste wurden im Zweifel bis auf Weiteres umgewandelt in Bewegungsenergie. Die setzt die Platte mühelos frei. Tim Caspar Boehme

Florian Kupfer – Lifetrax II (Ediciones Capablanca)

Lifetrax erschien 2013. Darauf bezieht sich „Lifetrax II” zehn Jahre später. Hugo Capablanca vom Berliner Label Ediciones Capablanca (früher Discos Capablanca) schnappt sich das neue Album. Die mittlerweile gut ausgefeilten Tracks von Kupfer passen zu den einstigen Low-Fi-Acid-Ansätzen von Capablanca.

Auf einigen Tracks steht noch analoges, weißes Low-Fi-Elektronik-Rauschen im Vordergrund. Das dubbige „Feel”-Vocal in „CSII” macht genau deshalb druff Spaß. Als wäre Francois Ks New Yorker Deep-Space-Clubnacht vom Deep-Jazz-Ansatz befreit und gallant-großzügig im Chitinpanzer in die beinamputierte, hinkende Decon-Crackhöhle ausgeführt worden. „Proxima” und „CRS” tragen als Interludes mit Pseudo-Kapitalismuskritik dick auf. Die Antwort „Dereliction” nervt als Revolte mit shiftendem Drone-Bass-Electro schnell. Und „Desintegration” spielt die kapitalistische TR-808 ohne Rauschen laut ein, ohne danach den Input-Gain hochzuziehen. Ästhetik als Pose? Ist das nicht die mieseste und schönste Form von Kapitalismus? „Black Cat” liefert tanzorientiert Aprop-Indigenen-Industrial-Techno. Kann was! „Nabemba” kann das nicht. Der Track versagt metrisch als Bedroom-Studio-Abklatsch trotz Drohnung, die Kupfer kann. „Stress Test” macht als flotter Acid-Chugg mit Industrial-Hallraum den Zeitgeist klar. Aber! Woher kommt die neue Massenfixierung auf die Liebesdroge „Oxytocin”? Jede zweite Party und jeder fünfte Track nennt sich seit Monaten so. Ist Liebe jetzt Spring-Reverb-Peitschen-Snare-IDM-Layer?

Das Album gibt es auf Kassette und digital. Davor kommt aber noch „About You” als Albumteaser 12-Inch. An diesem kaufbaren Ort trifft Deep-Detroit-Touch mit eingefilterten UK-Bigbeats auf UK-Garage-Deep-House-Vocals. Mirko Hecktor

Galcher Lustwerk – Lustwerk II (Ghostly)

2013 war Galcher Lustwerk plötzlich überall. Sein Mixtape 100% Galcher katapultierte den New Yorker Hip-House-Produzenten aus dem Untergrund auf die globale Bildfläche. Dem Vinyl-Reissue von 100% im vergangenen Jahr folgt nun eine Veröffentlichung mit Edits und Material aus der gleichen, frühen Schaffensphase.

Dem „Hit Neva Seen” wurde ein trippiger Remix von Workshops Willow verpasst, daneben gibt es zwei Tracks aus einem frühen Resident-Advisor-Mix, die mit ihren Assoziativ-Reim-Ketten und dem Spoken-Word-Swag genau den coolen Vibe verkörpern, mit dem Lustwerk heute wie damals hausieren geht. Den bereits bekannten instrumentalen Ohrwurm „Outside The Club” gibt es hier als R’n’B-Autotune-Vocal-Version zu hören, und die letzten drei Stücke bekam man bislang nur auf Vinyl. Auch wenn diese Platte also nichts wirklich Neues zum Lustwerk-Kanon hinzufügt, so ist sie doch ein schönes Addendum zum Katalog für allergrößte Fans. Leopold Hutter

Gooooose – Rudiments (SVBKVLT)

Breakbeats mit einer gewissen Verwandtschaft zu Bass Music, Dubstep und Jungle bilden das Gerüst dieses Albums. Aber eigentlich sollten die genannten Genres schnellstmöglich wieder vergessen werden, denn Gooooose bedient sich dieser nur als stilistische Startrampen.

Nach dem sympathisch nach Brian Eno klingenden Intro geht es ohne Stimmungsüberleitung in einen recht harten Breakbeat-Track über, dem man auch abkaufen würde, ein Remix eines Heavy-Metal-Stücks zu sein. Das folgende „Sandbox” beginnt eher sphärisch und mit einem tollen, dezenten Groove, täuscht etwa in der Mitte eine Entwicklung Richtung Electro an, um im letzten Viertel dann fast prog-rockige Dimensionen anzunehmen und sich kurz zu einer sich beeindruckend steigernden Hymne aufzuschwingen. Das folgende „Gin & Broccoli” groovt ebenfalls auf hochkarätig virtuosem Niveau und ähnelt dem Beginn von „Sandbox”, lässt aber die Energie nicht von der Kette und baut so elegant Spannung auf – toller Track. Ungewöhnlich ist auch das kurze „Chips”, das sich erst vergleichbar wie die Vorgänger entwickelt, dann mit harfenartigen Synth-Akkorden einen Stimmungsumschwung erschafft.

An dieser Stelle könnten nun weitere Beispiele für die Besonderheit dieses Albums folgen – und auch die Inspirationsquellen, die Gooooose dafür im Begleittext erwähnt. Heute sollen letztere aber unerwähnt bleiben. Ratet doch einmal, was in Rudiments eingeflossen ist, und schaut dann auf den einschlägigen Seiten nach, die den Pressetext zum Album übernommen haben. Viel Spaß beim Rätseln. Mathias Schaffhäuser

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