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Heart of Noise 2023: Bitte keine Konventionen!

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Programmatischer Anarchismus und radikale Offenheit zeichnen das Heart of Noise in Innsbruck aus, einer der besten Adressen für Fans nicht-standardisierter Musik in Europa und alle, die es werden sollten.

Am letzten Maiwochenende lud es zum 13. Mal in die Alpenkulisse, diesmal mit Singeli aus Dar es Salaam genauso wie mit Harsh Noise aus Wien und verdubbten Trommelrhythmen aus Tbilisi. Obwohl die Auswirkungen der laufenden Festivalkrise sich anscheinend auf die Dimension des Programms niederschlugen, bot es alternativkulturellen Reichtum.

In Innsbruck sind schnelle Brillen noch Gebrauchsgegenstände und keine reinen Mode-Accessoires. Überall in der Stadt dokumentieren Anzeigen, wie viele Fahrräder pro Tag und Jahr an bestimmten Knotenpunkten bereits vorbeigefahren sind, eine verzeichnet bereits über eine Viertelmillion in diesen ersten fünf Monaten des Jahres 2023. Denn die Tiroler Landeshauptstadt ist ein Tourismusmagnet und bietet neben einer berauschenden Aussicht auf die Alpen vor allem eine beeindruckende Bandbreite sportlicher Aktivitäten im Sommer und im Winter. Das hält die Region, eigentlich das gesamte Bundesland, wirtschaftlich am Leben. Die Skianlagen und Mountainbike-Trails sind so gesehen für diese Stadt, was Berghain, Watergate und Tresor für Berlin darstellen.

Der Tourismus hat deshalb auch Vorrang vor anderen Dingen, von denen manche von politischer Seite augenscheinlich nachlässiger gepflegt werden. Noch vor einem halben Jahr kritisierte der Verein p.m.k – plattform mobile kulturinitiativen, ein Zusammenschluss von fast 40 Innsbrucker Kulturinitiativen, die Kulturstrategie Innsbruck 2030 des städtischen Senats: vage, unverbindlich, just nicht strategisch – so lauten die in dem offenen Brief genannten Vorwürfe. Angesichts einer sich verschärfenden Krise in der Festivalbranche gewinnen sie in dieser Saison an Dringlichkeit. Ob das Ausbleiben von privatem Sponsoring oder staatlichen Förderungen, beides trägt im Verbund mit Inflation und steigenden Produktionskosten zu einem giftigen Cocktail bei.

Das Heart of Noise setzt seit 13 Jahren einen krachigen Kontrapunkt unter das Image Innsbrucks als Selbstoptimierungs-Idyll und zieht damit ein ganz anderes Publikum in die Stadt als das wenige Tage später stattfindende Alpine Trailrun Festival und ähnliche Veranstaltungen, wie sie den städtischen Terminkalender von Frühling bis Spätsommer dominieren. Die Besucher:innen sind ebenso festivaltreu wie unangepasst: Jutebeutel mit den Motti und Designs voriger Ausgaben sind häufiger zu sehen, da aber hören die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen schon auf. Beim Heart of Noise mischen sich die Subkulturen, clashen Metalheads mit Noiseniks zu hochgeschwinder afrikanischer Tanzmusik friedlich aufeinander.

Diese kulturelle Durchmischung ist zweifelsfrei der musikalischen Programmierung durch die Festival-Doppelspitze Chris Koubek und Stefan Meister geschuldet. Deren Booking-Philosophie ist anarchisch, den roten Faden liefern weniger musikalische Parameter denn eher die dahinterstehende Attitüde: bitte keine Konventionen!

Nicht herbeidiskutieren, sondern machen

Das Kernprogramm der viertägigen Ausgabe 2023 sorgt schon am Freitagabend für Reibungen zwischen Ben Vinces und Cucinera Poveras ätherischem Zusammenspiel, Hüma Utkus abgründigem Abstrakto-Techno-A/V-Set und dem Vielfraß-Pastiche-Hard-Rock von Boris im Haupt-Venue Treibhaus, bevor es mit der Ndagga Rhythm Force und Italo Brutalo, das heißt erst für eine berauschende Mbalax-Party, dann slick glänzenden Italo Disco in dessen Keller geht.

Und so geht es auch weiter durch die zentralen Programmpunkte dieses Wochenendes, an dem Swans ihren kobaltblauen Unrock auf die Treibhaus-Bühne bringen, auf der einen Tag später Hatis Noit ihren Vokal-Eklektizismus auf der Loopstation zusammenführt, bevor Puce Mary mit Post-Post-Industrial-Techno-Krach die Ohren freispült für das große Finale mit Remutes konfettigeladenem Electroclash, Jay Mittas und Kadilidas schwindelerregendem Singeli-Rave und dem Closing durch die Innsbrucker Szenegröße Barbara B.

Holten das Publikum für Free Hugs auf die Bühne: Die Ndagga Rhythm Force (Foto: Daniel Jarosch)

Kein Set gleicht dem nächsten, konstant bleiben nur Konzentration und Begeisterung eines Publikums, das dieses ästhetische Durcheinander vorbehaltlos wertschätzt. Diese radikale Offenheit zeichnet das Heart of Noise aus und verleiht ihm auch ohne viel begleitendes Diskursprogramm eine soziale Komponente. Konfrontation wird hier nicht herbeidiskutiert, sondern schlicht gemacht. Wo es im positiven Sinne an musikalischen Leitmotiven fehlt, da eröffnen sich dementsprechend einige thematische. Das Heart of Noise lädt etwa seit Jahren regelmäßig Vertreter:innen avancierter Dance Music aus vor allem Zentral- und Ostafrika ein und bringt damit Nachhaltigkeit in einen kulturellen Austausch, der anderswo nicht mehr als einen Hype-Zyklus überlebt. Fulminante Sets wie das von Rian Treanor und Acholi-Künstler Ocen James unterstreichen dann auch, wie viel Party ernsthaft fortschrittliche Tanzmusik lostreten kann.

Avantgarde-Elektronik und Partylaune: Ocen James & Rian Treanor (Foto: Daniel Jarosch)

Auch knüpft die diesjährige Ausgabe nahtlos an die vorherige Beschäftigung mit der weiterhin brummenden Szene für elektronische Musik in Tbilisi an. Nachdem im Jahr 2022 Bassiani-Künstler:innen für eine Performance geladen waren, organisiert das Mutant Radio heuer am Samstag einen Showcase in einem Pavillon im Innsbrucker Hofgarten. Dazu geladen sind der auch aus dem Umfeld des Berliner Labels Intergalactic Research Institute For Sound bekannte Zesknel und die Bassiani-Resident Ninasuspa, das Highlight aber stellt das Quartett Awwwara dar. Es widmet sich der produktiven Auseinandersetzung mit georgischen beziehungsweise kaukasischen Musiktraditionen, die elektronisch gefiltert werden. Zwei Musiker legen auf der Röhrentrommel Doli komplexe Rhythmen vor, die zwei Köpfe des Projekts antworten mit Live-Sampling und Dub-Effekten. Das erinnert konzeptuell an Kollaborationen zwischen Burnt Friedman und Mohammad Reza Mortazavi oder jüngere Platten der Gebrüder Teichmann, bringt aber gänzlich andere Resultate hervor.

Tradition im Mixer: Awwwara (Foto: Daniel Jarosch)

Awwwaras Auftritt wird mit Gejohle quittiert, und das nicht nur vom Festivalpublikum, sondern auch zufällig dazustoßenden Parkbesucher:innen. Die Alternativkultur der Sportstadt setzt auf Niedrigschwelligkeit: Jenseits der Abend- und Nachtveranstaltungen im Treibhaus und dem dazugehörigen Keller wird viel an der frischen Luft und also im öffentlichen Raum veranstaltet. Da schlecken schonmal Kinder mit großen Kulleraugen an ihrem Wassereis, während vor ihnen jemand knuspernden Harsh Noise aus dem Maschinenpark drängen lässt. Ein unvoreingenommeneres Publikum lässt sich ja nicht finden.

Für Einheimische bietet dieser auch buchstäbliche offene Ansatz die Möglichkeit, sich mit den Randgänger:innen aus verschiedenen österreichischen Szenen auseinanderzusetzen. Ihnen wird beim Heart of Noise traditionellerweise viel Raum zugesprochen, so auch dieses Jahr. Am Sonntag ist der Pavillon im Hofgarten fest in Wiener Hand: Isabella Forciniti, Rojin Sharafi und Morast nehmen auf jeweils unterschiedliche Arten das „Noise” im Festivalnamen ernst und machen damit einen Heidenspaß. Ihrer keinesfalls bequemen Musik wird hier genauso aufmerksam zugehört wie den größeren Namen aus dem Hauptprogramm. Sharafi scheint völlig überwältigt von dem ihr entgegen schlagenden Jubel, Moritz „Morast” Haberkorn quittiert ihn grinsend in Metalhead-Manier mit Mani Cornute.

Noise für alle: Rojin Sharafi (Foto: Daniel Jarosch)

Sie haben das – die Aufmerksamkeit und die Begeisterung – genauso verdient wie die während des Festivalzeitraums durchgängig geöffnete Ausstellung mit den Werken Karin Ferraris in einem großen Kubus mit dem schönen Namen Reich für die Insel, der zwischen dem imposanten Haus der Musik und dem Hofgarten platziert ist. Bereits am Donnerstagabend findet sich davor eine bunte Schar von Menschen zusammen, die meisten offensichtlich Locals, einige von ihnen tragen sonderbare Masken – sie sind Teil der Performance geworden.

Zwischen den Altären des Kapitals

Die FREAKY FAIRY FLUX FOUNDATION der in Wien lebenden italienischen Medienkünstlerin bringt schwarz schimmernde Trash-Skulpturen und mystisch anmutende Typografien zusammen. Sie ist wohl als visuelles Pendant zu ihrer gemeinsamen musikalischen Arbeit mit dem italienischen Elektroakustiker Francesco Fonassi zu verstehen, die als elfte Ausgabe der festivaleigenen Veröffentlichungsreihe Heart of Noise Editions erschienen ist. Es ist das erste Release auf Kassette, woran sich wohl ebenfalls zeigt, dass beim Heart of Noise in diesem Jahr etwas sparsamer budgetiert werden muss als noch im Jahr zuvor, als die zehnte Katalognummer mit einem umfassenden, alle bisherigen Veröffentlichungen umfassenden Box-Set gefeiert wurde. Es bleibt zu hoffen, dass FREAKY FAIRY FLUX FOUNDATION nicht nur via Magnet-, sondern auch über das Breitband veröffentlicht wird – es ist eines der schönsten Releases der Serie bisher.

Heart of Noise 2023 Karin Ferrari (Foto: Daniel Jarosch)
Karin Ferraris FREAKY FAIRY FLUX FOUNDATION

Die „Sonic Fiction”, wie die Veröffentlichung in Anlehnung an einen von Kodwo Eshun geprägten Begriff untertitelt ist, klingt nach den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, nach Riddles of the Sphinx und anderen Spoken-Word-Platten, in denen die musikalische Gestaltung eher zur atmosphärischen Unterstreichung von Wortmagie dient. Die Zurückhaltung Fonassis ermöglicht es, Ferraris verbalem Reisebericht konzentriert zu folgen. Mit monotoner Stimme besucht sie eine religiös konnotierte Pilgerstätte nach der nächsten und nutzt sie immer auch als Sprungbrett für Reflexionen. Es geht von Angkor Wat nach Jerusalem und Bali, quer durch alte sumerische Mythen und nicht selten an McDonald’s-Filialen vorbei, immer aber thematisch durch abstrakte Themenfelder hindurch.

Alternativ- vs. Hochkultur bei der Festivaleröffnung (Foto: Daniel Jarosch)

In Ferraris essayistischen Ausführungen kontrastiert sie Tradition und Moderne aus einer zeitgenössischen Position, folgt den historischen Spuren von den Kreuzzügen bis hin zum Kapitalismus und beleuchtet die Parallelen zwischen magischem Denken und einer finanzialisierten Welt, in denen die unsichtbare Hand des Marktes genauso unergründlich würfelt wie die eines Gottes. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese Auseinandersetzung mit den Altären des Kapitals an genau diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt erstmals live präsentiert wird, kostenfrei im öffentlichen Raum.

Denn ringsherum werden bereits Zelte für das nächste Sportfest aufgebaut, das verlässlich Geld in die Kassen der Stadt spülen wird, während in der Bar des Haus der Musik teuer angezogene Menschen nicht minder teuren Champagner schlürfen. Dass all das hier in einer schönen Mainacht gleichzeitig passiert, macht Innsbruck freilich aus. Es ist aber nur zu hoffen, dass die Politik mit den Vertreter:innen der Freien Szene der Stadt in den Dialog geht, um das anarchische Kontrastprogramm von Heart of Noise und anderen Institutionen zu sichern. Der Reichtum, den allein dieses Festival in die Stadt bringt, ist finanziell im Vergleich zum Sporttourismus vermutlich zu vernachlässigen. Auf kultureller Ebene aber sicherlich nicht.

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