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Tapestry: Zehn Tapes für den Frühling

Bald ist der Sommer da. Bevor wir auf die Idee kommen, am Badestrand das Bayern-Handtuch flattern zu lassen, besorgen wir uns lieber Nachschub für die Boombox. Kassetten bieten sich an. Sie sind klein, handlich und funktionieren auch, wenn man sie fünf Stunden in der Sonne brutzeln lässt. Deshalb kurbelt Tapestry an den Spulen und präsentiert zehn Tapes aus Moskau, Hamburg und der schönsten Stadt der Welt.

David Wallraf – Unpleasant Knowns (Self-released)

Herr Doktor Wallraf operiert zwar keine Menschen, seine Sounds haben allerdings das Potenzial, unter die Haut zu gehen. Dabei habe sich der Hamburger Producer-Theorist redlich bemüht, ein „Popalbum” zu produzieren, wie er der GROOVE versichert. Rausgekommen sei dennoch ein Tape mit „Noise-Infektion”. Das passt, schließlich ist der Mann promovierter Krachmacher, kennt sich also in allen Belangen des Noise und seinen widerständlerischen Wirkungen aus.

Unpleasant Knowns hört man deshalb als fünf Scherereien, für die sich die Wreckers der Zivilisation ihre schmutzigen Hände reichen. Weil Wallraf nicht nur ein Meister des Radaus, sondern auch zwei Händchen für das Schöne hat, schwebt man zwischen Drum Machines und Gitarrengejaule trotzdem auf einem fliegenden Teppich in die Nacht. 

Sansibar – Live 2022 (Self-released)

Seien wir froh über jedes Mixtape, DJs machen sie nicht mehr so häufig wie in den Neunzigern! Dass Sansibar, die finnische Techno-Versuchung, eines rausbringt, sorgt deshalb für Jubelstimmung im Lendenbereich. Live 2022 ist, der Namen lässt es vermuten, eine Live-Aufnahme. Sansibar hat sein Set beim New Yorker Festival Sustain-Release mitschneiden lassen. Das war letztes Jahr. Die Energie hat sich auf der Langstrecke noch nicht vertschüsst.

Über 60 Minuten und zwei Bandscheiben nutzt der Producer-DJ alle verfügbaren Gänge der Bangschaltung. Aufs spritsparende Fahren verzichtet er. In die Eisen steigt er höchstens, um mit quietschenden Reifen durchzuheizen.

Rent – As Cold As Sunlight (Wilhelm Show Me The Major Label)

Rent produziert Krach für Menschen, die keinen Krach, sondern Noise hören. Manche dekonstruieren dazu auch gerne den Club, meistens bleibt davon nichts übrig. Auf As Cold As Sunlight, das auf dem österreichischen Label mit dem langen Namen erscheint, kriecht der Distinktionsgewinn jedenfalls unter dem Atonal-Shirt hervor. Während ihr Vordenker Ben Frost einsame Tränen durchs Fuzz-Pedal weint, zieht Katrin Euler an den akademischen Kabeln und lötet ein Tape zusammen, für das die Sonne vom Kraftwerkhimmel fällt.

Wer weiß, was passierte, würde man die komplette Auflage dieses Albums zur selben Zeit abspielen. Wahrscheinlich wäre die Klimakrise gelöst. Oder wir schlitterten in eine neue Eiszeit. Ausprobieren sollten wir es!

Mausimental – Schonzeit (Kame House)

Eine der ausgiebigsten Ausgrabungsstätten Deutschlands, Kame House, sorgt wieder für einen Überraschungsfund. Mausimental ist eine Band, von der manche Expert:innen annehmen, dass sie in den Achtzigern verloren ging. Alle Geolog:innen nicken artig. Die Überreste der Band haben die Zeit schließlich im sauren Vulkangestein des Halleschen Porphyrkomplex gut überstanden.

Jetzt ist die Schonzeit vorbei. Kame House hebt den Fund. Wir träumen in Gaga-Lyrics vom „Ambientklo der Zukunft” und lauschen genau hin. Womöglich haben sich die Expert:innen vertan – und Mausimental ist das Debüt der Neuzeit!

Drug Searching Dogs – s/t (Free Christian Ringtones)

Sitz! Platz! Komm! Wer diese drei abgerichteten Wauzis von der Leine lässt, radikalisiert sich schneller gegen die beschissene Gesamtsituation, als man nach Ohrstöpseln vor dem Tinnitus fragen kann. Nicht umsonst ziehen die Drug Searching Dogs, ein Dreiergespann aus Wien, nach drei Konzerten eine treue Gassi-, äh, Gabber-Gefolgschaft hinter sich her. Manch Berserker nannte sie bereits die Neue Wiener Radikale, weil: So radikahlschlagend war in der Ösi-Hauptstadt schon länger keine Hundestaffel unterwegs.

Dabei geht’s nicht mal um die Sturmhauben mit ihren Sportsockerllauschern – ein modisches Statement auf dem Catwalk. Drug Searching Dogs bellen eher über einen Sound, der die Zähne fletscht und einen anspringt – full on, ohne Maulkorb, direkt auf die Goschn!

Lord Jalapeños – Handshaking (International Chrome)

Die Berliner Aussies von International Chrome tüfteln weiter an der Broken-Window-Theorie von Electro-Mukke. Mit Lord Jalapeños schütteln sie einem kompetenten Komplizen die Hand. Wer hinter dem Typen steckt? Googelt selbst. Jedenfalls zielt er gut. Jedes Fenster, das er anvisiert, trifft er. Nicht zwingend mit Steinen, dafür mit Kicks und Bässen, die das Schmalz aus den Lauschern fischen.

Keine Frage: Lord Jalapeños ist ein Krawallbruder. Mit ihm gibt es Stress-Sound ohne Ghetto-Grund. Am Ende steht alles in „Ruins”, aber wie hat schon unser destruktiver Charakter-Kumpel Walter Benjamin gesagt: „Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt!” Halleluja!

Isabassi – Speaking Things (Super Hexagon)

Super Hexagon ist die britische Label-Insel einiger der besten Defibrillator-Platten der jüngeren Vergangenheit. Christoph De Babalon rüttelte letztes Jahr am Blutdruckgerät, Lårry verpasste uns eine kauzige Druckmassage. Und Isabassi, die Berliner Brasilianerin, schießt 2023 das reanimierendste Album des Jahres raus, sofern nicht noch eines um Planet Mu kreiselt. Wem das seltene Vergnügen widerfährt, Speaking Things auf einer Clubanlage zu gschpian, wie der Schluchtenscheißer zu sagen pflegt, sollte nicht auf Vorkehrungsmaßnahmen gegen unvorhergesehenen Druckabfall vergessen.

Ganz wichtig: keine schweren Mahlzeiten vor dem Bad im Bass. Den führt Isabassi nämlich schon im Perso an.

Susu Laroche – closer to the thing that fled (Accidental Meetings)

Susu Laroche behandelt den Bass, wie sie ihre Bilder malt. Mit groben Zügen und scharfen Konturen, als hätte sich jemand in frisch gegossenem Beton verewigt. Für die Qualitätsschmiede Accidental Meetings gießt sie glücklicherweise nicht nur das Fundament. Sie haucht auch – über Perc’sche Grundrisse oder Recondite’sche Gerüstbauten. Wer sich die letzten Jahre hinter der dunklen Seite des elektronischen Monds versteckt hat, kennt den Schmäh schon. Spaß macht es trotzdem, weil Laroche aus Hexenbesen-Beats und Scheiterhaufen-Singsang ein Tape zusammenstöpselt, die den Bass nur noch bässer macht!

Morast / Michiu – Morast split Michiu (Beach Buddies Records)

Ihr glaubt, Jimi Hendrix war ein Rebell, weil er an seiner Elektrischen rumgezündelt hat? Ihr kennt Moritz Morast noch nicht. Der Wiener Lausbub unter den Experimentalisten fackelt nicht lange rum und schickt seine Saiten ohne Brandbeschleuniger ins Nirwana. Das Ergebnis sind fünf Hornhautraspeln, die als Äquivalent eines zweiwöchigen Aufenthaltes auf Guantanamo durchgehen.

Wer den Merzbow gerne überspannt, haut sich hier freiwillig auf die Streckbank. Dan Michiu, der seit einigen Jahren mit Beach Buddies eines der besten Weirdo-Labels aus Rumänien betreibt, kontert mit einem dronigen Mittelstreckenflug. Egal, wo man landet, das Zeug geht deep!

horses·waves + KP Transmission – transpointable migrations (Mabui Music)

Käse schließt den Magen, Ambient den Kopf. Bei Mabui Music aus Berlin weiß man, was man bekommt: handverlesene Klänge für Gourmets und Conaisseur:innen der sanften Sorte zwischen Schlafwandlung und Seelenreise. KP Transmission, eine Producerin aus Moskau, betreibt dafür mit horses·waves gemeinsames Geträume. Ihr Album schlenkert in die Seitengassen, wo der Trubel nur nachhallt, nie hinreicht.

Dort spürt man Sicherheit. Man will hier nicht weg. Deshalb bleibt man und schließt die Augen, ganz fest, und verliert jedes Gefühl für Raum und Zeit, fällt tief und tiefer in die Geräusche, die einen umhüllen. Sie füllen einen aus, werden eins mit deinem Körper – bis die Play-Taste deines Walkmans einrastet. Und du das Tape wechseln musst.

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