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HHV: Vinyl als Wurzel

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In diesem Jahr feiert der Online-Vinylhändler HHV seinen 20. Geburtstag. Gründer Thomas Ulrich erzählt, wie aus dem Plattentauschen auf dem Schulhof einer der größten digitalen Plattenläden Europas wurde.

Für HHV-Gründer Thomas Ulrich fing alles mit einer New-York-Reise in den Neunzigern an, da war er 18 Jahre alt. „Davor besaß ich 20 Platten, danach 60”, erinnert er sich an seinen Erweckungsmoment. „Ich habe mein gesamtes Taschengeld ausgegeben. Meine CDs habe ich danach verkauft.” Sein Hobby finanzierte er sich durch das Tauschen von Platten. „Ich habe gemerkt, dass das ganz gut funktioniert. Mir lag der An- und Verkauf, und ich habe schnell viele Sammler:innen und DJs kennengelernt.”

Heute sind mehr als 120.000 verschiedene Platten im HHV-Lager in Berlin-Marzahn verfügbar, Bestellungen werden täglich in die ganze Welt versendet. Flankiert wird das Vinylgeschäft über das Netz von einem Streetwear-Angebot und einem Ladengeschäft in Berlin-Friedrichshain.

„Wir haben jede Platte einzeln gescannt.”

Schon Ende der Neunziger arbeitete Tom über das Internet, mit E-Mails. „Ich habe Excel-Listen verschickt. Irgendwann bot mir ein Freund an, mir eine Website zu bauen.” Ab der Jahrtausendwende erreichten Kund:innen auf www.hip-hop-vinyl.de eine statische Seite, von der sie sich die Excel-Liste herunterladen konnten. 200 bis 300 Second-Hand-Platten waren auf ihr zu finden, sie wurde mehrmals am Tag aktualisiert. Das funktionierte so gut, dass Tom sich entschied, das anvisierte BWL-Studium nach einer kaufmännischen Ausbildung doch nicht anzutreten. Stattdessen ließ er sich einen Gewerbeschein ausstellen.

Mit dem Gewerbeschein konnte er fortan auch Neuheiten von Plattenvertrieben kaufen, und sein Informatik-Freund programmierte ihm eine Website mit Shop. „Auch das war eine Menge händischer Aufwand”, erinnert sich Tom. „Wir haben jede Platte einzeln gescannt.” Es sollte sich auszahlen: Nach drei Monaten war in seinem Wohnzimmer kein Platz mehr für weitere Palettenkartons.

Handarbeit in der Nische

Als Vorbilder für den Mailorder dienten US-amerikanische Online-Händler wie Hiphopsite oder Sandbox, aber auch deutsche Versandhändler wie EMP oder Lost & Found. „Lost & Found hatten eine gute Auswahl im Hip-Hop-Bereich, aber auch viel Hardcore und Punk. Als Teenager haben wir dort Sammelbestellungen aufgegeben. Hinten im Katalog gab es eine Seite, wo man händisch die Bestellung eintragen musste. Bis vor zehn Jahren hatten wir bei HHV auch noch Bestellungen, die per Fax eingegangen sind”, erinnert sich Tom.

Der erste HHV-Ableger in der Niederbarnimstraße (Foto: Presse)

Er brauchte mehr Platz und wollte seiner Kundschaft wie in seinen Anfangstagen auf Plattenbörsen wieder ins Gesicht schauen können. Deshalb eröffnete er den ersten HHV-Laden in der Niederbarnimstraße in Berlin-Friedrichshain. Zuerst machte er alles allein, später halfen Freund:innen stundenweise aus. Nach sechs Monaten stellte er seinen ersten festen Mitarbeiter ein. Der stand im Store, während Tom die Bestellungen abarbeitete.

In den frühen Nullerjahren gab es kaum Mailorder für ambitionierten Hip-Hop. „Diese Nische haben wir abgedeckt”, erklärt Tom den schnellen Erfolg von www.hip-hop-vinyl.de. Das gute Sortiment, die fairen Preise und die Nähe zur Musik erledigten den Rest. „Zum Teil gab es dann auch – wir waren ja selbst Fans – nischige Platten aus Japan oder Kalifornien, die wir selbst importierten, weil die Themen noch kein Vertrieb in Deutschland auf dem Schirm hatte. Das war aufwändig. Aber wenn man Lust darauf hat, macht man es. Manchmal war uns sogar egal, ob wir damit Geld verdienten oder nicht.”

Ob Friedrichshain…

Das kam nicht nur online gut an: Der Laden in der Niederbarnimstraße war schon nach anderthalb Jahren zu klein. Im Jahr 2003 mietete Tom eine 500 Quadratmeter große Fläche in einem Gewerbehof in der Grünberger Straße, und aus www.hip-hop-vinyl.de wurde HHV. „Das war für uns ein großer Schritt. Wir wussten, wie wir uns entwickelt hatten, und sind davon ausgegangen, dass wir auch in Zukunft weiter wachsen. Das ist dann auch so gekommen”, lächelt er. Dass sich der Laden von da an in der vierten Etage in einem Hinterhof befand, war für die Kundschaft offenbar kein Problem.

HHV auf 500 Quadratmeter in der Grünberger Straße (Foto: Presse)

Das HHV-Team habe mal erwogen, den Laden in den zentralen Bezirk Mitte zu verlegen, erzählt Tom. Das aber habe sich falsch angefühlt. „Friedrichshain ist unsere Wurzel, genau wie Vinyl unsere Wurzel ist.” Die trieb auch nach dem Umzug beständig neue Knospen: Nur zwei Jahre später musste die Ladenfläche halbiert werden, weil mehr Platz für das Lager benötigt wurde. Im Jahr 2008 dann öffnete der erste lagerunabhängige Laden in der Revaler Straße, diesmal direkt an der Straße. Der nächste Einschnitt, der HHV zum weltweit aktiven Player im Vinyl-Versandhandel machen sollte, folgte nur sechs Jahre später.

…oder Marzahn: Hauptsache Berlin

Zum einen zog das Ladengeschäft im Jahr 2014 zum vierten Mal um: Von der Revaler in die Grünberger Straße, diesmal ins Erdgeschoss direkt an der Straße. Zum anderen teilte der Vermieter mit, dass ein US-amerikanischer Konzern bereit war, für die Lagerfläche mehr als die doppelte Miete zu zahlen. Tom begann, neue Räume zu suchen, und wurde in Marzahn fündig.

So sieht’s im Lager von HHV in Marzahn aus (Foto: Presse)

Ein Grundstück wurde gekauft und mit einem Architekten aus dem Bekanntenkreis eine Lagerhalle entworfen, die heute mehr als 250.000 Schallplatten beherbergt – eines der größten Plattenlager weltweit. „Wir wollten von Vermieter:innen unabhängig sein”, erklärt er diesen drastischen Schritt. „Schon damals war nicht klar, wie es mit dem Berliner Immobilienmarkt weitergeht.”

Manche in Berlin ansässige Versandhändler betreiben Logistikzentren in anderen Regionen Deutschlands. Für Tom aber war das keine Option. „Unsere Mitarbeiter:innen leben in Berlin”, erklärt er. „Wir hätten denen nicht sagen können: ‚Ihr zieht jetzt nach Sachsen.’” 130 Menschen arbeiten mittlerweile für den Mann, der als Teenager auf dem Schulhof mit anderen Platten tauschte.

„Wenn du ein Jahr lang auf eine Single wartest, ist sie nicht mehr aktuell.”

Auch wenn das Geschäft groß geworden ist, blieb Tom der Idealismus erhalten. Zwar gab es Angebote von potenziellen Teilhaber:innen, erzählt er, ein solches Geschäft hätte aber die Kultur von HHV kaputtgemacht. „Projekte, mit denen wir nichts verdienen, wären dann nicht mehr möglich gewesen”, ist er sich sicher.

Treu durch die Krise

Mittlerweile bestellen etwa 50 Prozent der Kund:innen aus dem Ausland, HHV wird global wahrgenommen und an jedem Wochentag werden 100 bis 200 neue Schallplatten in den Shop aufgenommen. Das Thema Vinylkrise geht trotzdem nicht am Unternehmen vorbei. „Wenn du ein Jahr lang auf eine Single wartest, ist sie nicht mehr aktuell”, sagt Tom hinsichtlich langer Wartezeiten in den Presswerken. Deshalb verlagere sich das Geschäft aktuell von den Maxis weg hin zu den Alben.

So sieht’s bei HHV aktuell aus (Foto: Presse)

Auch die Folgen von Inflation und Energiekrise bei den Kund:innen spürbar. Die ältere Kundschaft mit festem Einkommen kann sich auch in Krisenzeiten das Hobby Vinyl leisten. Jüngere Leute fänden Schallplatten zwar cool, verfügten aber manchmal nicht mehr über das entsprechende Budget. „Ein Kendrick-Lamar-Album ohne Gatefold-Doppel-Vinyl kostet im Verkauf über 40 Euro – da ist verständlich, dass ein 17- oder 18-Jähriger schauen muss”, erklärt Tom.

In 20 Jahren HHV hat sich viel getan – auch in innenarchitektonisch (Foto: Presse)

Grund zur Sorge sei das aber nicht. Bislang wächst der Vinylmarkt weiterhin. HHV hat sich ohnehin schon vor 15 Jahren, als die Plattenverkäufe in den Nullerjahren die Talsohle erreicht hatten, mit Mode und Sneakern ein zweites Standbein geschaffen. Dieser Bereich macht heute 40 Prozent des Umsatzes aus. Mittlerweile produziert HHV sogar eigene Kollaborationen mit Künstler:innen und Illustrator:innen. Die Impulse dafür kommen aus dem gesamten Team, aus Einkauf, Marketing und vom Store-Team.

Geschmack statt Nachfrage

Im Rahmen des 20. Geburtstags stehen neben speziellen Vinyl-Editionen 13 Kollaborationen mit Marken wie UDG oder Edwin an. Letztere arbeiten mit dem japanischen Street-Artist Toshifumi Kiuchi zusammen. „Das macht den Mitarbeiter:innen Spaß, und es ist interessant für die Kund:innen, Dinge zu entdecken, die es woanders nicht gibt. Händler zu sein, der einfach nur kauft und verkauft, ist ja langweilig. Wir wollen über besondere Produkte die Geschichten der Künstler:innen interessant machen.” Wichtig sei es aber genauso, im Shop nicht nur erfolgreiche Themen zu präsentieren. 40 Prozent der auf der Seite vorgestellten Platten werden nach Geschmack ausgewählt, nicht nach Nachfrage.

„Qualität entsteht durch die Themen, die wir nicht machen.”

Immer wieder spricht Tom von der Kultur, von der sein Mailorder getragen wird. In die investiert HHV auch, etwa mit dem HHV Mag – mittlerweile eines der stärksten musikjournalistischen Angebote im deutschsprachigen Raum. „Mit Sebastian Hinz haben wir einen Chefredakteur, der dort seit Jahren aktiv ist und sich ein Team von Autor:innen aufgebaut hat, das man so nirgendwo findet. Das macht Spaß, weil man da keine Scheuklappen hat, weil man da wirklich alles findet. Entscheidend ist, wie im Laden auch, nein sagen zu können. Qualität entsteht auch durch die Themen, die wir nicht machen.”

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