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Januar 2022: Die essenziellen Alben (Teil 2)

Harmonious Thelonious – Cheapo Sounds (Bureau B)

Die Dichte in den unteren Frequenzen ist für die Klangästhetik und den Groove eines Tracks essenziell. Und die Sounds des Titeltracks dieses Albums klingen allzu billig, steril, eindimensional und nach unfetter DAW. Die andere Seite der Medaille erklingt, wenn „Afterhour” links-rechts gepant in den unteren und mittleren Frequenzen äußerst rund daherschwingt. Dann dämmert, dass Stefan Schwander alias Harmonious Thelonious seit circa 30 Jahren produziert und meilenweit entfernt ist vom 30-jährigen Newcomer-Wannabe-Digital-Dienstleister-Produzenten, komplex im Raum wabert und sehr genau weiß, was er warum im Studio macht.

„Soft Opening Machine” clasht Africaine 808 im Jahr 2013 überkomprimiert mit Kraftwerk und UK-AKAI-MPC-Acid-Keys kaputt. Daraus entlässt „Liquid Sound Waves” mit klassischer Moroder-Electronic-Disco in endlose, selbstvergessene Tänze. „Limitations” kontert wieder mit dem roh-düster-lieblichen Düsseldorf-Peitschen-Schlangen-Groove, der auf Throbbing-Gristle-Industrial draufhaut. Als nächstes schleicht sich „M and A” per Carl-Graig-Landcruiser-Basslauf heimlich in Richtung Detroit. „Gummi Twist & Crawl (Die Koffer sind leer)” klingt wie Italo Disco und Kompakt aus den Neunzigern, als wäre „From Disco To Disco” als Deep-Shuffle-Instrumental neu auferstanden. „Sunglasses” verheiratet den sturen bayerischen Sechzehntel-Siebziger-Basslauf mit rheinländischen, verwunschenen Dreamsynths, bis sie der nächtliche Tod scheidet. Restlos polyrhythmisch-kosmisch wird es in „Orion Stars”. Und dann kommt der letzte Track: „The Primitive Galaxy”. Ein göttlich-stringentes, historisch-inhaltliches und teils auch soundästhetisch tolles Album der tatsächlich teureren Klänge. Mirko Hecktor

John Beltran – Ten Days of Blue: Live at Dekmantel (All Good Music)

Live-Alben, besonders im elektronischen Bereich, sind gelinde gesagt nicht immer eine künstlerische Meisterleistung, geschweige denn ein zufriedenstellendes Hörerlebnis. Ten Days Of Blue von John Beltran, 1996 auf Peacefrog erschienen und seitdem einige Male unter zweifelhaften Umständen wiederveröffentlicht, scheint mit seiner Mischung aus zarten, organischen Ambientpassagen und rapiden Techno-Etappen wie gemacht für eine Live-Version. Der Beweis: Beltrans Liveset auf dem Dekmantel 2022.

Unruhiges Gebrabbel zu Beginn, das in Meeresrauschen und Möwengekreische übergeht, dann „Collage Of Dreams”, kristallklar im Mix und, so wie jeder Track, fürs Liveset abgewandelt, in diesem Fall mit veränderten, dunkleren Chords. Später kommen fürs Spektakel noch Streicher hinzu, die dem Auftritt eine szenische Komponente hinzufügen. Auch andere Klassiker wie „Gutaris Breeze (6000km to Amsterdam)” oder das aufgekratzte „Flex” haben Ergänzungen spendiert bekommen. Die belaufen sich nicht nur auf orchestrale, sondern auch auf spirituelle und säurehaltige Klänge: „Flex” etwa nimmt das Motiv von 808 States „Pacific State” auf und tränkt es in Acid. Das Tracklisting folgt einer schlüssigen Dramaturgie, die abrupten Übergänge zwischen den Nummern geben dem Live-Album einen Studiocharakter, in den Tracks selbst gibt es einiges Neues zu entdecken – Arbeit wurde investiert, sie hat sich ausgezahlt. Maximilian Fritz

Kinzua – None Of The Above (Offen Music)

Offen Music ist Gegenpol, ein Label der Entschleunigung. Wohl auch deshalb, weil sich Vladimir Ivkovic wie kaum ein anderer in seinen Veröffentlichungen spiegelt. Offen folgt keinem Reiseführer, es geht viel lieber seinen eigenen Weg. Auf den Komponisten Ihor Tsymbrovski, dessen sakrale Musik göttlicher nicht sein könnte, folgte beispielsweise nassfeuchte Düsseldorfer Tribal-Rhythmik von Toresch, dann wurden nonchalant Songs des verstorbenen serbischen Produzenten Suba ausgegraben. Diese Reihung ergibt per se keinen Sinn. Sie steht für sich, ist formvollendete Authentizität. Denn Offen ist eine Antithese, ein zutiefst menschliches Label. Während sich auf irgendeinem Dancefloor ein postmodernes Sodom und Gomorra abspielt, meditiert der Wahlkrefelder Ivkovic hinter dem DJ-Pult. Er atmet ruhig ein und noch ruhiger aus, schwebt davon und bleibt doch auf dem Boden. So legt Ivkovic typischerweise Musik auf. Ein aristokratischer Dirigent, das Orchester stets unter Kontrolle, die Rezipient:innen im Blick.

Man kann sich gut vorstellen, dass auch Werke aus Kinzuas Album None Of The Above in einem solchen Setting auf ihren Spiritualitätsfaktor getestet wurden. Die Entscheidung zur Veröffentlichung ist da bei Vladimir Ivkovic aber wohl schon längst gefallen. Denn Offen ist seefest. Der Wind muss keinen Sturm fürchten. None Of The Above spannt sich über imposante 17 Tracks.

Die wissen Kinzua, also Lucas Brell und Marvin Uhde, aber mühelos zu füllen. Das Album ist hörbare Mystik. Als wären Morphosis und Manuel Göttsching im Studio aufeinandergetroffen. Es schürft nach psychedelischen Sounderfahrungen, verwebt diese so lange in flüssige Krautrockrhythmen, bis Kinzua darauf scheinbar keine Lust mehr haben. Dann werden Oszillatoren aufgerissen, Drums donnern, Effektpedale verzögern Sägezahn-Bässe und tiefenverstärkte Kicks, die Elemente bauen Druck auf, dann fällt ganz plötzlich alles in sich zusammen. Ein Debüt, das hoffentlich nur der Anfang war. Andreas Cevatli

Marcello Giordani – Advanced Process (Slow Motion)

Bereits das Rumoren der LinnDrums auf „Morning News” beamt entsprechend Sozialisierte sofort ins Jahr 1983 zurück. Italo-Gralshüter Marcello Giordani belässt es auch auf seinem dritten Album nicht bei Andeutungen: Die zehn Tracks auf Advanced Process sind eine hymnische Feier der Italo-Disco-Ära und decken das gesamte Spektrum des Genres ab. Die Produktion schwelgt in analogen Synthesizer- Sounds, Detroit Techno und Electro markieren die Außengrenzen. Die vielen Referenzen und Verbeugungen der Arrangements erinnern auch daran, dass Giordani (der Guy von Marvin & Guy) über enzyklopädisches Wissen in diesem Bereich verfügt und die Produktion von Edits zum Komponieren gekommen ist.

Regelrecht nostalgisch klingt aber eigentlich nur „Mysterious Calls (In The Night)” mit Vocals von Italo-Disco-Legende Fred Ventura. Ebenfalls ein Song ist „Fase Rem”, auf dem die ukrainische Producerin Olya Dibrova alias Ready In LED singt. Die meisten Nummern sind indes Arpeggio-getriebene Tracks mit markanten Basslines zur Untermalung langer Fahrten auf nächtlichen Autobahnen. Slow Motion verteilt Giordanis Advanced Process auf zwei Vinyls – ein überaus souveränes Album, das hält, was sein Titel verspricht. Harry Schmidt

Michael J. Blood – As Is (Blood)

Scheiß auf Harry! Michael J. Blood ist der britische Traumprinz. Statt Chakra-Beats zum Healen und Feelen schnappt sich der Typ die Skyline von Chicago, stellt den Wecker auf Detroit und rotzt in der nordenglischen Nacht gegen den Wind. Schließlich steht MJ für Mäntschester. Dort weht ein anderes Lüftchen als hinterm Teich, wo Frankie knuckelt, Larry heard und Jack traxt! Dass MJ nicht aus der Phuture kommt und trotzdem ins Laptop-Café steuert, macht nix. Er spricht dieselbe Sprache. Er hat den Soul! Deshalb lustwerkelt sich As Is im Sexy-Sportclip-Modus durch die Nacht.

Eine Hand bleibt in der Hose, die andere greift zum Lenkrad – die Mukke macht Bock, mit 230 Sachen über leere Autobahnen zu ballern. Am besten mit geschlossenen Augen, während die Musk’sche Elektrokarre pilotiert. For real! Stanzt man sich erstmal „FRKYSHT” auf die Nummerntafel, kurbelt man zu „EAZUN” die Lehne nach hinten und powernappt so lange, bis Parkdeck-Bänger wie „JB6” zünden. Zwei Nummern später explodiert der Auspuff: Boomkat! Wer auch immer du bist, MJ: Hör niemals auf, Mukke für Sundowner und Lichthupenkonzerte zu produzieren! Christoph Benkeser

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