Schon seit etwa 2018 gehen die BPM-Zahlen hoch. Schranz, Gabba, Trance und Hardcore sind zurück. DJ-Sets scheinen immer öfter auf maximalen Exzess statt auf narrative Spannungsbögen ausgelegt zu sein. In der Pandemie und besonders 2022 wurde eine weitere Eskalationsstufe erreicht: Kein Technofloor war mehr vor Trance-Remixen von 2000er-Popsongs sicher. Nahezu jeder Nelly-Furtado-, Lady-Gaga- oder Rihanna-Song wurde gesamplet, geflippt und durch den Hard-Trance-Fleischwolf gedreht, um für einen kurzen Hands-Up-Moment auf dem Dancefloor zu sorgen.
Diese Verschiebung manövriert DJs mit einem puristischen Verständnis von Techno, House oder Breakbeats in ein Dilemma, denn ihr Sound kann oft nicht mit dem Pop-Feuerwerk mithalten. GROOVE-Autor Till Kanis ist zur Feldforschung auf Festivalgelände und Clubfloors ausgezogen, um die postpandemische Euphorie zu verstehen. Was ist von dem Phänomen zu halten? Was bedeutet es, dass die Mauer zwischen Underground und Mainstream eingerissen wird? Wird der altehrwürdige Technofloor zur Abiparty vertrasht? Oder steckt in der Öffnung der Clubmusik für Pop ein Innovationspotenzial, wie wir es aus den Achtzigern kennen?
Beginnen wir mit einer kleinen Zeitreise: Corona-Sommer 2020, ein Skatepark in Köln-Süd nach Sonnenuntergang. In Ermangelung an Alternativen wegen der andauernden Corona-Maßnahmen sucht sich alles, was jung und rauschorientiert ist, alternative Plätze und macht dann eben im Skatepark die Nacht zum Tag. Die Szenerie ist durchaus absurd: Ein paar vereinzelte Skater versuchen sich ihren Weg zwischen den Menschenmassen zu bahnen, überall liegen Scherben. Nahezu jede Gruppe hat ihre eigene Soundboks dabei und spielt mit den anderen Lärmkrieg. Zu den Deutschrap-Fans im Trainingsanzug gesellt sich eine Gruppe 16- bis 19-Jähriger, die aussehen, als könnten sie bei Matrix mitspielen. Gewandet in Ledermäntel und ausufernden Schmuck aus dem Baumarkt beeindrucken sie alle Anwesenden mit der dicksten mobilen Bluetooth-Box von allen. Ihr Soundtrack: The Mamas & The Papas – California Dreamin’ (VCL Edit). Wäre man für diese Absurdität von einem Hard-Trance-Remix noch vor ein paar Jahren äußerst geringschätzig beäugt worden, ist der Track an diesem Abend ein echter Gassenhauer. Wieder und wieder wird auf die Replay-Taste gehämmert, bis auch ich mich der aberwitzigen Magie, die von dieser ungewöhnlichen Kombination ausgeht, nicht mehr entziehen kann.
Szenenwechsel auf die Fusion 2022. Die Sonne geht bereits auf und auf der Seebühne droppen DJ Heartstring, die größten Trance-Exportschlager seit Darude, ihren Closing-Track: Ciaras „1, 2 Step” im hauseigenen Edit. Die Menge tobt, die Hände gehen hoch und zum großen Finale singen alle noch einmal aus vollem Halse mit. Entscheidend dabei: DJ Heartstring spielen nicht nur einen Remix zum krönenden Abschluss, sondern jeder zweite oder dritte Song samplet irgendeinen Radio-Smasher. Deswegen singen die Leute die ganze Zeit mit, deswegen entsteht eine andere Art von Euphorie.
Selekteur:innen, die sich dem Trend verweigern, bekommen es mit der Angst vor der schleichenden Irrelevanz zu tun.
Nun könnte man argumentieren, dass die erste Festivalsaison seit Beginn der Pandemie nach besonders ausgefuchsten Kunstgriffen verlangt, doch damit lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. Denn schon seit der Wiedereröffnung der Clubs und seit der Veröffentlichung der ersten RAW Summer Hits im Sommer 2020 bringen an jedem Wochenende schnelle Trance-Remixe von 2000er-Pop-Klassikern die Tanzflächen in ganz Europa zum Beben. Die Remixe werden teils millionenfach geklickt und auf TikTok von sogenannten Techno-Influencer:innen als Dancefloor-Killer präsentiert.
Selbst in eigentlich betont ernsthaften Clubs wie dem Berghain ist man mittlerweile bereit, zum Closing doch mal in die sonst verbotene Pop-Kiste zu greifen. Soll heißen: nicht nur verhältnismäßige Newcomer:innen wie Narciss oder das Kollektiv Sachsentrance wissen die Ekstase, die ein solcher Track kreieren kann, für sich zu nutzen, sondern auch etablierte, für kaltblütigen Technosound bekannte DJs springen auf den immer schneller werdenden Zug auf.
So spielte beispielsweise SPFDJ in ihrem letzten Boiler Room einen Cristian-Collodoro-Remix von Sean Pauls „Temperature” – und gefühlt jede:r zweite DJ legte im letzten Jahr den „Day ‘N’ Night”-Remix von Marlon Hoffstadt alias DJ Daddy Trance auf. Parallel dazu bekommen es Selekteur:innen, die sich dem Trend verweigern, mit der Angst vor der schleichenden Irrelevanz zu tun.
Doch wie wirkt sich diese neue Neigung zum Pop in der elektronischen Clubmusik auf die Szene aus? Wenn es nach ein paar Gralshüter:innen geht, ist jedes weitere Madonna-Sample, das auf eine 145-BPM-Bassline gelegt wird, ein Verrat am hart erarbeiteten Szene-Status, und wer sich herablässt, so etwas zu spielen, sollte mit lebenslangem Clubverbot belohnt werden. Und auch wenn diese Leute vielleicht in der Hinsicht richtig liegen, dass klassischer Techno musikalisch anspruchsvoller ist und die Remixe längst überhandgenommen haben, so verschließen sie doch die Augen vor der Tatsache, dass sich jegliche Form von Kunst weiterentwickelt. Nun könnten jene Pharisäer antworten, dass das aber keine Weiterentwicklung sei und Vocal-Trance bereits zur Jahrtausendwende Hochkonjunktur genoss, nur um nach einer kurzen Hochphase wieder ganz weit in der Versenkung zu verschwinden. Doch diese Antwort wäre zu kurz gedacht.
Auf dem Gebiet der ungeraden Beats erfreuen sich Remixe von populären Songs immer größerer Beliebtheit und knüpfen damit an alte Breakbeat-Traditionen an.
Denn einhergehend mit dem Aufstieg der Soundcloud-Edits und Hard-Trance-Remixe begann eine Entwicklung, die zwar eng mit diesem verzahnt, jedoch wesentlich tiefgreifender und wegweisender ist. Die Pop-Remixe stießen die Tür für Künstler:innen auf, die damit begannen, poppige Elemente in aktuelle Clubmusik einzuarbeiten, ohne dabei anbiedernd oder kommerziell zu wirken. Der angestaubte und bierernste Sound wurde aufgebrochen und gab auf einmal Musiker:innen wie Eliza Rose, CAIVA oder DJ Gigola und dem Ex-FJAAK-Mitglied Kev Koko Raum, neue Wege zu bestreiten, andere Einflüsse einzuarbeiten und einen poppigen, aber zu keiner Zeit anspruchslosen Sound zu kreieren. So veröffentlichten die beiden Letzteren gemeinsam mit Perra Inmunda Anfang des Jahres ihre EP No Es Amor, die eindrucksvoll unter Beweis stellte, wie gut sich zeitgenössische Clubmusik und Pop-Vocals ergänzen können. Passend dazu feiert auch der eben bereits angesprochene Vocal-Trance ein kleines Comeback und Tracks von DJ Traytex, Part Time Killer oder Oprofessionell generieren immer wieder kleine Internet-Hypes, die irgendwo zwischen Pop-Remix und Musik gewordener Dancefloor-Nostalgie stattfinden.
Und auch aus der schieren Masse der Remixe, die jeden Tag in die Soundcloud gespült werden, stechen immer wieder wahre Highlights heraus, die neben dem simplen Meme-Potenzial wirklich gute Tanzmusik bieten. So sei an dieser Stelle zum Beispiel auf Charlottenburschs Benny-B-Bassline-Edit von Timbalands und Justin Timberlakes „Carry Out” und auf OTONs „Frozen”-Remix verwiesen. Wobei letzterer Dank seines gebrochenen Beats noch ein ganz anderes Fass aufmacht.
Denn auch auf dem Gebiet der ungeraden Takte erfreuen sich Remixe populärer Songs immer größerer Beliebtheit und knüpfen damit an alte Breakbeat-Traditionen an. Dabei treten an die Stelle des Jungle-MCs heute Samples von Pop Smoke, Eazy E oder Nicki Minaj und sorgen für einen wahren Ghettotech-Hype auf Soundcloud. Künstler:innen wie DJ Fuckoff, P.Vanillaboy oder MCR-T nehmen diese Einflüsse auf und verarbeiten sie zu Musik, die nicht stärker am Puls der Zeit sein könnte. Selbst in der aktuellen Deutschrap-Landschaft ist elektronische Musik mittlerweile angekommen und Viko63 oder Pashanim rappen über extrem tanzbare Tracks, die jedes Wochenende in den einschlägigen Clubs erklingen.
Vielleicht sind die 2000er-Remixe schon mehr oder weniger durchgespielt und in ein paar Monaten von der Bildfläche verschwunden. Trotzdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sie insofern extremen Einfluss auf die Szene haben, dass sie für frischen Wind sorgen und auch den Weg für neue Crossover-Trends ebnen, die die Musik mittelfristig nach vorne bringen.
Außerdem dienen sie für junge Raver:innen als einfacher Zugang zu einer Musikrichtung, die sich mitunter ziemlich verkopft und unübersichtlich gestaltet. Während man vor ein paar Jahren vielleicht mit „Your Mind” von Adam Beyer und Bart Skills oder „Sehnsucht” von Charlotte de Witte anfing, um später bei Niki Istrefi anzukommen, steigt man heute mit DJ Bruh und DJ Mischkonsum ein, um seine Hörgewohnheiten von dort aus weiterzuentwickeln. Es bringt jedenfalls nichts, nur in der Ecke zu stehen und griesgrämig dreinzublicken, während alle anderen gemeinsam mit J-Lo „Tonight, we gon’ be it on the floor” grölen. Zumal Tanzmusik am Ende in erster Linie Spaß machen soll – und das machen die Remixe, behutsam dosiert, auf jeden Fall.
Die am kommenden Dienstag erscheinende neue Ausgabe von Kristoffer Cornils’ Kolumne konkrit nähert sich dem Phänomen aus einer kritischen Perspektive.