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Massimiliano Pagliara: „Ich muss meinen Körper spüren”

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Als Teil der Ostgut-Familie, mit zahlreichen Veröffentlichungen auf Live At Robert Johnson und als Resident in der Panorama Bar ist Massimiliano Pagliara eine Schlüsselfigur im aktuellen House-Geschehen. Sein Ansatz ist dabei alles andere als offensichtlich und hat sowohl mit der Pflege des Disco-Erbes als auch mit einem modernen, dekonstruktivistischen Klangverständnis zu tun.

Pagliara zerlegt ein breites Spektrum historischer Disco- und House-Sounds in ihre Einzelteile, um daraus einen entgrenzten Feierentwurf zu entwickeln. Einen, der kein Ende kennt, weil die einzelnen Klangelemente nicht aufhören, neue Konstellationen heraufzubeschwören – und sich im ausschweifenden Feiern der Tänzer:innen spiegeln.

Anlässlich Pagliaras neuem Album See You In Paradise hat unsere Autorin Celeste Lea Dittberner den Musiker in seinem Heimstudio im Berliner Stadtteil Friedrichshain besucht. Inmitten seiner Drum Machines und Synthesizer erklärte ihr Pagliara unter anderem, warum ihm die Stadt Berlin bei seinem ersten Besuch gleichermaßen Angst eingeflößt und ihn inspiriert hat.

GROOVE: Dein neues Album heißt See You In Paradise. Was für ein Paradies ist das und was passiert da?

Massimiliano Pagliara: Der Name See You in Paradise entstammt dem Tagebuch von Patrick Cowley, das ich während der Lockdown-Zeit gelesen habe. Cowley ist einer meiner Helden. Er war Ende der Siebziger ein Produzent in San Francisco und hat den High-Energy-Disco-Sound geprägt. Unter anderen hat er auch mit Leuten wie Disco-Ikone Sylvester James zusammengearbeitet. Cowleys Platten sind für mich auf jeden Fall sehr inspirierend und haben auch meinen eigenen Sound beeinflusst. Leider starb er viel zu jung an Aids. Das Label Dark Entries aus San Francisco hat in den letzten Jahren viel unveröffentlichtes Material von ihm veröffentlicht. Zur letzten Platte, Mechanical Fantasy Box, auch Cowleys Tagebuch. Eigentlich beinhaltet es nur Geschichten und Erzählungen über sein Sexleben und seine diversen Liebhaber.

Wie hat dich das zu dem Albumtitel inspiriert? 

An einer Stelle schreibt Cowley von einem Typen, mit dem er etwas hatte. Der letzte Satz, den er an ihn richtet, bevor er ihn verlässt, ist: „See you in paradise”. Das fand ich als Albumtitel einfach schön. Außerdem produzierte ich das Album während der Lockdown- und Corona-Zeit. Man wusste nicht genau, wie und wann es weitergeht, also habe ich mir mit meinen Maschinen ein eigenes Paradies vorgestellt, in dem die Menschen wieder zusammen sein können. Das erkennt man auch im Titelstück, auf dem man meine Freundin Vanessa hört: „Where there is no more pain, just love all the way.” Genau so etwas stelle ich mir vor, wenn ich an das Paradies denke.

Massimiliano Pagliara (Foto: Victor Luque)

Dein neues Album wirkt poppiger als seine Vorgänger. Du arbeitest stärker mit Stimmen. Wie kam es zu dieser Neuausrichtung?

Ich habe schon immer mit Sänger:innen zusammengearbeitet, dieses Mal vielleicht etwas mehr – aber ohne Absicht. Ich hatte einfach Lust auf mehr Vocals. Trotz Corona habe ich mich also in meinem Studio mit den Leuten getroffen. Das waren One-to-One-Meetings, Studio-Dates – für mich ein Weg, mit jemandem zusammen zu sein und etwas zu machen, als das eher verboten und schwierig war. Man wusste ja nie genau: Soll ich jetzt meine Freund:innen treffen oder ist das nicht gut?

Kannst du von einer Kollaboration erzählen?

Für das Stück „Mitate” haben wir zum Beispiel ein richtiges Klavier aufgenommen. Ein Freund und Arbeitskollege von mir, Matthieu, hat mir geholfen, die Mikrofone zu besorgen, das Setup aufzubauen und die Pianoklänge aufzunehmen. Das war für mich etwas Neues – davor hatte ich keine Ahnung, wie so was funktioniert.

Gab es ein bestimmtes Konzept für das Album?

Ich habe einfach begonnen, Songs zu produzieren. Irgendwann habe ich mir die Tracks als Album vorgestellt und versucht, damit eine Geschichte zu erzählen. Langsam hat das Ganze immer mehr Sinn ergeben und ich konnte eine Verbindung finden. Am Ende habe ich zusammen mit Permanent Vacation die finale Auswahl getroffen. Das war gar nicht einfach, es gab sehr viele Kandidaten. (lacht)

Massimiliano Pagliara (Foto: Victor Luque)

See You In Paradise erscheint als erstes deiner Alben nicht auf Live at Robert Johnson, sondern bei Permanent Vacation. Warum?

Auf PermVac hatte ich schon mal eine Single rausgebracht. Da gab es gleich eine gewisse Verbindung. Außerdem wollte ich etwas Neues ausprobieren.

Du hast die Zeit des Lockdown schon angeschnitten. Wie sah dein Leben zu der Zeit aus? Fiel es dir schwer, so viel Zeit alleine und nicht in Clubs zu verbringen?

Anfangs war es natürlich schockierend und beängstigend. Ich hatte aber genau in dieser Zeit diese Wohnung gekauft. Das war gutes Timing, weil ich genug Zeit hatte, um sie zu renovieren, das Studio einzurichten und an dem Album zu arbeiten. Eigentlich hatte ich mir so eine Pause sogar richtig gewünscht, um runterkommen zu können. Gleichzeitig habe ich mir aber Fragen gestellt, die viele in der Szene hatten: Was passiert jetzt? Wie lange wird das so bleiben? Wird es das Nachtleben überhaupt wieder geben? Irgendwann habe ich glücklicherweise einen Job gefunden – seit damals arbeite ich bei Ableton im Kundenservice und kümmere mich um Artists Relations. Dadurch sind meine finanziellen Sorgen weniger geworden.

Ich hatte immer den Wunsch, so zu sein, wie ich möchte, ohne Angst haben zu müssen.

Du lebst seit 21 Jahren in Berlin und hast der Stadt eine Hommage in Form eines Instagram-Posts gewidmet. Was bedeutet dir Berlin?

Vor allem Freiheit. Ich komme aus einem kleinen konservativen Dorf in Süditalien. Dort als schwuler Mann aufzuwachsen, war nicht toll. Ich hatte immer den Wunsch, so zu sein, wie ich möchte, ohne Angst haben zu müssen.

Wie bist du deiner Heimat entkommen? 

Ich bin nach der Schule nach Mailand gezogen. Dort habe ich Tanz studiert. Mailand war für mich eine Verbesserung und die erste Großstadt, in der ich gelebt habe. Es war aber immer noch Italien und konservativ. Als ich 2000 zum ersten Mal nach Berlin kam, ich habe hier zur Weihnachtszeit Urlaub gemacht und einen Freund besucht, hat mich die Stadt sofort fasziniert. Dabei sah Berlin vor 22 Jahren noch sehr anders aus als heute – spooky und dunkel. Ich kann mich erinnern, dass der Freund von mir damals in der Kastanienallee gewohnt hat, was ja sehr zentral ist, aber selbst da war nichts los. Viele Häuser waren leer, niemand hat dort gewohnt.

Was hat das in dir ausgelöst?

Ich dachte mir: „Wow, was ist das für eine Stadt? So leer, so dunkel!” Irgendwie machte mir das Angst, aber gleichzeitig war es auch faszinierend. Man hat auch nicht so viele Leute auf der Straße gesehen, aber dann geht man das erste Mal in einen Club und das ist wie eine andere Welt. Alles ist so geil, die Leute fühlen sich frei und die Musik ist super. Davon abgesehen ist Berlin sehr kulturorientiert, es gibt Ausstellungen, Tanz und Theater. Diese Liebe zur Kunst habe ich stark gefühlt.

Massimiliano Pagliara (Foto: Victor Luque)

Du hast zu der Zeit noch in Mailand gelebt. Wie hast du dich von Italien gelöst?

Ich habe mein Studium in Mailand, so schnell es ging, beendet und bin nach Berlin gezogen. Das ist jetzt über 21 Jahre her.

Es war also eine bewusste Entscheidung, nach Berlin zu kommen?

Auf jeden Fall. Erfahrungen im Ausland wollte ich schon davor machen. Ich war mir aber unsicher, wohin es mich ziehen würde. Nach meinem ersten Besuch in Berlin wusste ich: Hier muss ich es versuchen. Ich bin damals an einem Samstag nach Berlin gekommen. Meine Freunde haben gesagt: „Okay, Massi, heute Abend gehen wir alle in einen Club.” An meinem ersten Wochenende bin ich dann direkt im OstGut – dem alten Berghain – gelandet. Dort traute ich meinen Augen nicht. Es war genau das, was ich mir immer gewünscht habe. Ein Ort, wo alle gleich waren und es keine Unterschiede mehr gab zwischen schwul oder hetero, alt oder jung und Mann oder Frau. Alle waren gleich, willkommen und haben sich respektiert. Außerdem war die Musik natürlich mega! (lacht)

Am Wochenende bin ich ins OstGut und habe dort viele DJs kennengelernt – vor allem bei den Locals war ich oft zu Hause. Alle hatten Plattenspieler und haben aufgelegt.

Diese Erfahrung hat dich dazu inspiriert, selbst Musik zu machen?

Das kam nach und nach. Ich habe noch viel mit Tanz und Theater gemacht. Schließlich war ich 22 Jahre alt, jung und voller Energie. (lacht) Ich bin fast jede Nacht ausgegangen und tagsüber habe ich immer wie verrückt trainiert. Am Wochenende bin ich ins OstGut und habe dort viele DJs kennengelernt – vor allem bei den Locals war ich oft zu Hause. Alle hatten Plattenspieler und haben aufgelegt. Ich habe zugeschaut. Das hat mich so sehr fasziniert, dass ich gesagt habe: „Ich will das auch versuchen!”.

Und dann hat es Klick gemacht?

Nein, im ersten Moment dachte ich bloß: „Ne, ich kann es überhaupt nicht.” (lacht) Aber nach einer Weile konnte ich es doch. Irgendwann habe ich meine eigenen Plattenspieler und Platten gekauft und dann jeden Tag super viel gemixt, bis ich meine ersten Gigs in Berlin spielte – damals noch in kleinen Bars oder Kneipen. 2006, nachdem ich fünf Jahre in Berlin gelebt hatte, war ich überzeugt, dass aus der ganzen Musikgeschichte noch mehr werden könnte, wenn ich anfange, selbst Musik zu produzieren.

Wie hast du damit angefangen? 

In meiner ersten Wohnung, direkt neben meiner jetzigen, habe ich langsam mein eigenes Studio aufgebaut. Ich muss allerdings sagen: Ich hatte null Ahnung von nichts, wusste nicht, was eine Note oder ein Akkord, eine Drum Machine oder ein Synthesizer ist. Das Wissen darüber habe ich mir alles selbst beigebracht. Natürlich habe ich auch viel von Freunden gelernt, die schon länger Musik gemacht haben. Sie haben mir erklärt, wie Ableton funktioniert und was ich damit machen kann. Daniel Wang ist zum Beispiel einer meiner Mentoren gewesen. Oder mein bester Kumpel Jules Etienne, mit dem ich oft Jam-Sessions veranstaltet habe. Außerdem habe ich YouTube-Tutorials angeschaut und zwei Jahre lang Klavierunterricht genommen, damit ich wenigstens weiß, welche Noten gut zusammenpassen. (lacht) Wenig später, 2008, kam meine erste EP raus.

Massimiliano Pagliara (Foto: Victor Luque)

Wie war die berufliche Umorientierung vom Choreografen zum Musiker für dich?

Das war eine schwierige Entscheidung. Ich wollte zuerst nicht mit Tanz aufhören, weil ich so viel Arbeit und Zeit investiert habe. Es war eher eine Art Übergang, was man auch in dem Instagram-Post sehen kann. Die Tanzvideos zeigen genau die Phase zwischen Tanz und Musik, in der ich versucht habe, beide Welten zu kombinieren. Dafür habe ich viel mit dem Medium Film experimentiert, meine ersten Stücke und Soundtracks produziert und sie in Ausstellungen gezeigt. Dazu habe ich aufgelegt. Das waren sozusagen Installationen.

Warum war dieses Crossover kein gangbarer Weg?

Ich hatte das Gefühl, dass ich zu viele Dinge gleichzeitig mache und es besser wäre, mich auf einen Weg zu konzentrieren – also entschied ich mich dazu, die Musik auf professioneller Ebene und den Tanz als Hobby zu betreiben. Übrigens: Ich trainiere immer noch. Nicht so viel wie damals, weil ich inzwischen ein anderes Ziel verfolge, aber es ist mir immer noch wichtig, fit zu sein. Deshalb beginnt ein idealer Studiotag für mich mit Training. Es inspiriert mich und ist das, was in mir die notwendige Spannung erzeugt. Ich muss meinen Körper spüren. Deswegen habe ich auch so viele Geräte und Maschinen, weil ich ein sehr physischer Mensch bin. Außerdem möchte ich mich in meinem Studio bewegen und Sachen anfassen. Wenn ich alles nur mit der Computermaus machen würde, wäre es zu steif.

Meine ersten Freunde hier waren alle Deutsche. Jetzt kenne ich hunderte Italiener:innen, Spanier:innen oder Franzosen und Französinnen in meinem Umfeld.

Wie würdest du das gegenwärtige Berlin charakterisieren?

Berlin ist inzwischen viel formaler und offizieller, wodurch es voller geworden ist. Das finde ich aber nicht unbedingt schlecht. Vor 20 Jahren war es zum Beispiel unmöglich, einen Job zu finden. Außerdem war es super schwierig, in Berlin gut zu essen. Als Italiener, der gutes Essen schätzt, ist das aber sehr wichtig. (lacht) Der Vibe hat sich einfach verändert. Und, abgesehen von den zwei Corona-Jahren, gibt es hier eine tolle neue Party- und Clubszene, die in ganz viele verschiedene Richtungen geht.

Wie hat es sich angefühlt, nach den zwei Jahren wieder ausgehen zu können?

Ich hätte gedacht, dass es viel komplizierter werden würde, wieder in einem Club zu sein. Man hat schließlich viel darüber geredet und sich gefragt, ob es anders sein wird. Tatsächlich hatte ich, als wir nach über einem Jahr wieder in einem Raum zusammen und uns nah sein konnten, zunächst etwas Paranoia, Menschen zu berühren – aber das hat sich schnell gelegt. Alle haben es gebraucht, die Nähe und Wärme wieder zu spüren, mit Menschen zu sein und reisen zu können.

Fährst du häufig nach Italien, um deine Familie und Freund:innen zu besuchen?

Meine Familie besuche ich meist zweimal im Jahr. Im Sommer habe ich außerdem ein paar Mal in Italien aufgelegt – demnächst werde ich wieder zu Weihnachten dort sein.

Massimiliano Pagliara (Foto: Victor Luque)

Wie hätte sich dein Leben entwickelt, wärst du damals in Lecce oder Mailand geblieben? Kreativ warst du schon immer, aber hättest du dich auch der Musik zugewandt, wärst du nicht nach Berlin gekommen?

Haha! Ich bin mir fast sicher, dass Berlin der Grund ist, dass ich jetzt DJ bin und Musik mache. Wenn ich in Mailand geblieben wäre, hätte ich wahrscheinlich weiter getanzt, wäre aber nicht bei der Musik gelandet.

Hast du jemals darüber nachgedacht, zurück nach Italien zu ziehen?

Nicht wirklich. Manchmal denke ich darüber nach, dass ich schon lange in Berlin lebe und mal woanders hinziehen sollte. Ich vermisse zum Beispiel das Meer und den Strand. Schließlich komme ich aus Apulien, einer Region direkt an der Mittelmeerküste. Ich war wirklich immer am Strand und liebe das sehr. Jedes Mal, wenn ich irgendwo am Meer bin, tut es mir gut. Wenn ich dann wieder zurück nach Berlin komme, denke ich mir: „Oh nein!” Aber man kann leider nicht alles haben. In Berlin habe ich meine Wohnung und mein Heimstudio. Das in anderen Städten zu finden, wäre nicht einfach und viel zu teuer. Außerdem bilden mein Zuhause in Berlin und das ständige Unterwegssein eine gute Balance. Trotzdem: Ich werde älter (lacht), das heißt, dass ich in zehn Jahren – oder wenn ich in Rente gehe – Berlin vielleicht doch verlassen und irgendwo am Strand leben werde. Vielleicht in Italien – oder woanders.

Das klingt so, als wärst du auch dieses Jahr schon viel gereist.

Nachdem alles wieder geöffnet hat, war ich jede Woche woanders. Eine intensive Zeit, die mich dieses Jahr schon dreimal in die USA und zweimal nach Mexiko geführt hat. Mit der Album-Tour stehen auch viele Termine in verschiedenen Städten an.

Es gibt auch offizielle Album-Release-Partys. 

Die Erste und Wichtigste fand am 22. Oktober in der Panorama Bar statt – fast alle Künstler:innen, die Teil dieses Albums sind, waren da. INIT spielten live, ich hatte Snax und einen Saxofonisten für zwei Tracks eingeladen. Sie haben live Keyboard und Saxophon gespielt, während ich auflegte. Die letzte Stunde haben wir sogar alle gemeinsam gejammt – das war unglaublich!

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