Jürgen Laarmann betrieb zwischen 1989 und 1997 mit der Frontpage das einschlägige deutschsprachige Technomagazin. Inhaltlich gelang der Frontpage eine heute unvorstellbare Versöhnung von Kommerz und Anspruch. Die Gestaltung von Alexander Branczyk ist mit dem All-Over-Design, das Text und Bild verfließen ließ, ähnlich einflussreich wie das der i-D.
Auch jenseits der Frontpage kann Laarmann auf eine bewegte Journalistenkarriere zurückblicken, die bald mit einer Buchveröffentlichung gekrönt werden soll, die die Zeit zwischen 1994 und 1997 verhandelt. Nach dem Ende der Frontpage 1997 verfasste er die Kolumne Berlin Mitte Boy im Berliner Stadtmagazin 030. In den 2010ern produzierte er den Podcast 1000 Tage Techno, neuerdings macht er mit dem Projekt Bleep Gigaverse auch Musik.
Wie er die Techno-Revolution in Text und Bild übersetzt hat, welcher Pakt mit dem Teufel am Ende alles zerstörte und warum wir noch ein weiteres Buch über die Neunziger brauchen, hat er Alexis Waltz und Felix Messmer erklärt.
In Gesprächen hast Du immer wieder die alte Fehde zwischen Frontpage und GROOVE erwähnt. Was haben sich Nachgeborene darunter vorzustellen?
Jürgen Laarmann: Das war eine gesunde Rivalität. Frontpage war 1989 das erste Fanzine für elektronische Musik. GROOVE war ja anfangs nur ein Vier- oder Achtseiter, in dem ausschließlich Charts von DJs aus dem Rhein-Main-Gebiet von Disco bis Dark Wave vorgestellt wurden. Insofern haben wir GROOVE null ernst genommen. Wir haben auch dem damaligen Herausgeber [Thomas Koch alias DJ T., Anm. d.Red.] nicht den Respekt gezollt, den wir ihm hätten zollen können. Er hat halt immer Dance-Classics aufgelegt – alles, wogegen Frontpage am Anfang war.
In der ersten Jahren ging es bei der GROOVE tatsächlich stark um das afroamerikanische Musikerbe. Was hat Euch interessiert?
Alles, was neu, hot und fresh klang. Erst später, als sich das Heft zu einem echten Magazin gemausert und uns den ein oder anderen Anzeigenkunden weggeschnappt hatte, haben wir GROOVE respektiert. Die große Zeit der GROOVE kam später, als wir schon weg waren. Insofern finde ich es historisch, dass ich erstmals seit 33 Jahren mit jemandem von der GROOVE spreche – davon abgesehen mit einer Person, die wir dereinst abwerben wollten.
Von heute aus betrachtet: Was kann man sich unter dem, was die Frontpage ausgemacht hat, heute vorstellen?
Wie begehrt und auch einflussreich das Heftchen war, zumindest Anfang der Neunziger. Die für die Leser kostenlos in Plattenläden erhältlichen Hefte waren immer sofort vergriffen, es kam teilweise zu tumultartigen Szenen, wenn die Hefte eintrafen. Frontpage hat die Loveparade 1991 im Alleingang von einer bis dahin rein lokalen Berliner Veranstaltung zum nationalen Großevent gemacht, zu dem erstmals Wägen aus anderen Städten kamen und den Grundstein einer deutschen Technoszene legten. Später wurde Frontpage durch allerlei recht originelle Stunts bekannt, von denen ich mal die Octopussies hervorheben möchte.
Wer waren die Octopussies?
Wir hatten damals Büroräume am Tauentzien, wo heute Uniqlo sitzt, die aber zu groß für uns waren. Deshalb gaben wir den Octopussies, drei Szenefrauen, einen Raum zur freien Gestaltung. Die Octopussies waren Angel, Angela Mettbach, die lange an der Tür der Bar25 gearbeitet hat. Sie ist heute Köchin im Kater Blau. Joy, Deniz Kadem, die dann nach Los Angeles gezogen ist, und Pain, Pia Partenheimer, die eine erfolgreiche Karriere im Sales-Bereich hatte. Angel, Joy und Pain malten die Wände pink an und stellten ein riesiges, rundes rosa Bett hinein – der Raum wurde als das Octopussy-Büro promotet. Sie wurden schnell zum Talk of the Town. Ihre Kernaufgabe bestand darin, Partys aufzumischen und in der Frontpage darüber zu berichten. Später hielt sich dann die ganze After-Hour-Szene der Stadt im Octopussy-Office auf. Für viele in der Redaktion war das too much, Montagmorgen über Schnaps- und E-Leichen zu stapfen.
Das ist alles in Berlin passiert, gegründet habt ihr euch in Frankfurt. Aus welcher Szene oder Clique ist die Frontpage in den späten Achtzigern entstanden?
Die ersten Ausgaben der Frontpage entstanden im Umfeld des Frankfurter Technoclub [der von Talla 2XLC betrieben wurde] und in Zusammenarbeit mit dem Schallplattenvertrieb AMV/ Logic. Einen großen Teil hat dann das Dorian Gray finanziert. Frontpage war ein reines EBM- und Wave-Fanzine.
„Von EBM kamen Beat und Energie, von House kam der Groove – diese Fusion prägte das Zeitalter und war auch der Sound zur Wendezeit.”
EBM und Wave sind düster und auch nur bedingt Tanzmusik. Wie seid ihr auf Techno und House und den damit verbundenen Hedonismus gekommen?
Von EBM kamen Beat und Energie, von House kam der Groove – diese Fusion prägte das Zeitalter und war auch der Sound zur Wendezeit. Als ich nach Berlin ging, fiel die Mauer, und Berlin wurde schnell zur Hauptstadt dieses neuen Sounds. Das wurde in Frankfurt anfangs mit Misstrauen beäugt. Zwei Jahre gab es redaktionsinternen Zwist, niemand in Frankfurt wollte das Heft mehr bezahlen. Irgendwann einigte man sich darauf, dass ich das Heft alleine weiterführe. Dann kamen die großen Zeiten der Frontpage, mit Planet, E-Werk, Walfisch, WMF, dem Tresor der Anfangszeit und natürlich Loveparade und Mayday – Events, die wir maßgeblich mitgestaltet haben.
Der Ex-Frontpage-Musikredakteur und spätere De:Bug-Herausgeber Sascha Kösch nannte die Frontpage mal die Bravo der Technoszene. Ist das zutreffend?
Ich finde diese Aussage dümmlich. Sascha Kösch hat sich bei der Frontpage allerdings gewisse Verdienste erworben, weil er die Geduld hatte, im Monat circa 200 äußerst ähnlich klingende Acid-Platten zu rezensieren. Welche Bravo würde ihre Seiten für so was hergeben? Tatsächlich hat Frontpage ja die Stars gefeaturet, die auch heute, 25 Jahre später, noch eine Rolle spielen: Carl Cox, Moni Kruse, Aphex Twin, The Prodigy, Dave Clarke – und eben nicht U96 oder Scooter wie die Bravo. Deswegen ärgert mich der Bravo-Vergleich auch ein wenig. Vielleicht begreift Sascha Kösch diesen Qualitätsunterschied gar nicht. Für ihn war alles, was erfolgreich war, irgendwie komisch und unheimlich.
Direkt nach Ende der Frontpage gründete er 1997 De:Bug.
Tatsächlich hat Sascha Kösch viel zur Spaltung der Technoszene beigetragen und damit auch zum Niedergang der Frontpage. Der normale Leser wollte seine Rezensionen nicht lesen – es war too much. Die Szene spaltete sich in die, die sich für Partys und Drogen interessiert haben, und die, die sich für Musik interessierten. Nicht mal Letztere konnte Sascha Kösch vollständig bedienen. Erfolgreiche DJs lasen die Rezis auch nicht mehr, sie bildeten nicht das ab, was für ihre Sets interessant war.
Am Ende war es viel Aufwand für circa 1500 Nerds und Köschianer, die ihn für seine Akribie und Detailverliebtheit verehrt haben. Diesen Trend setzte er mit De:Bug fort. Dort konnte er anfangs durch das Ausscheiden der Frontpage auf dem Anzeigenmarkt profitieren. Das Problem, dass das kaum jemand wirklich lesen mochte, gab es aber auch später. Ich kenne bis heute ehemalige De:Bug-Abonnenten, die die letzten Jahre nicht mal mehr in das Heft reingeschaut haben.
Warum ging es bei euch 1997 so abrupt zu Ende?
Ab 1994 wurde Frontpage vom Tabakkonzern Reynolds Tobacco gesponsort, die ihre Marke Camel bewarben. Wir erhielten sechs Millionen Mark für sämtliche Projekte im Zeitraum von drei Jahren und dachten, das würde immer so weitergehen. Der Loveparade hat dieses Engagement zum Beispiel den Kopf gerettet. 1997 hat Camel den Vertrag nicht verlängert und eine halbe Million Vorschuss, den man zuvor großzügig gewährt hatte, zurückgefordert. Das Geld war weg – und der Verlag pleite.
Ab 1992 warst du nicht nur Chefredakteur der Frontpage, sondern auch Besitzer und Geschäftsführer. In der Hochphase hast Du eine Firma mit mehr als 40 Mitarbeiter:innen geführt. Wie war das? Was hast Du daran genossen, was war fordernd?
Aus heutiger Sicht kann man schon sagen: Wir waren klar überbesetzt, das war damals auch ein Szenejoke. Leute fragten, was bestimmte Mitarbeiter bei uns so machen, und wir sagten, er oder sie seien „Uhrableser”, um nichts näher erklären zu müssen. Mitunter fiel’s mir selber schwer, Positionsbeschreibungen zu definieren. Viele Jobs, die wir hatten, würden heute outgesourct. Schön war’s, immer wieder ein neues Portfolio von Leuten zusammenzustellen, die Frontpage waren. Weniger schön war es, auch welche rauszuschmeißen, die nicht oder nicht mehr really Frontpage waren.
„Auf einmal stand ich neben dem rotzdruffen MTV-Moderator Steve Blame, vorher eine ferne Berühmtheit, nun ein Kumpel, der mir in die Arme fiel.”
Gibt es einen Moment, an den du dich besonders gerne zurückerinnerst?
Es gibt wirklich zwei Dutzend Momente, die ich bis zu meinem Ableben nicht vergessen werde. Legendär war die Loveparade 1991 – der German Summer of Love. Hier trafen sich alle, die später eine Rolle spielen sollten. Historisch war, dass MTV von der Parade berichtete, das war eine totale Sensation, weil sie Deutschland davor nicht mit dem Arsch angeguckt hatten. Germany war noch der alte, besiegte, stocksteife Weltkriegs-Loser-Staat.
Und dann?
Auf einmal stand ich neben dem rotzdruffen MTV-Moderator Steve Blame, vorher eine ferne Berühmtheit, nun ein Kumpel, der mir in die Arme fiel. In dem Moment wusste ich, wir hatten etwas angepackt und Deutschland auf die Popweltkarte gezaubert. Ganz groß war auch mal eine Privataudienz bei Mark Spoon, einem DJ mit einer Grandezza, die kein anderer bisher erreicht hat. Er hatte seine Remise im Frankfurter Nordend zu einem indischen Tempel umgebaut und dort ganz groß aufgetischt.
Seit Ende des Magazins ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Wie blickst du auf die letzten 25 Jahre Techno im Vergleich zu denen, die du mit dem Magazin mitgestaltet hast? Was hat die Techno-Szene in den Neunzigern so besonders gemacht? Was unterscheidet sie von heute?
Wir haben sie miterfunden und maßgeblich geprägt. Das ist der Unterschied. Danach ist in dem Genre wenig Stilbildendes passiert, alles hat auf unserem Werk aufgebaut. Heute wird auf dem Klavier, das wir gebaut haben, weitergespielt. Damals war es fresh und hot, heute ist es business as usual und eigentlich immer dasselbe.
Was macht die junge Generation richtig, was macht sie falsch?
Es liegt mir fern, darüber zu urteilen, was jetzt richtig und was falsch läuft. Zuweilen ist für mich persönlich schon enttäuschend, wie wenig diese Generation mich inspiriert, schockiert, entsetzt. Warum haben die kleinen Ärsche nicht endlich mal eine eigene neue Jugendkultur erfunden? Im Ernst: Irgendein 20-Jähriger, der sich heute als „Technofan” bezeichnet – das kann die hellste Kerze auf der Hipness-Torte nicht sein.
2022 ging es mit Rave the Planet oder Tresor 31 viel um Neunziger-Themen. Warum funktionieren gerade die so gut?
Hier muss man gleich auf zwei Weisen differenzieren. Keine der beiden Veranstaltungen würde sich als Neunziger-Thema definieren. Der Tresor ist ein Club, der zwar 1991 gegründet wurde, der aber seine 31-jährige Geschichte im Rahmen einer Ausstellung präsentiert hat. Rave the Planet könnte ein Jahrzehnte übergreifender Dauerbrenner werden, einfach weil die Leute es lieben, zu Techno zu paradieren. Die Musik dort war aktuell, es war kein elendes 90s-Revival wie auf den gleichnamigen Mega-Raves. Davon abgesehen: Für die heutige Jugend sind die Neunziger eine sehr attraktive Epoche. Die Freiheiten, die Locations, die musikalischen Innovationen, die wir hatten – ein Traum!
Was würdest du machen, wenn du heute 20 wärst?
Atomforscher? Nervenarzt? Verteidigungsminister? Maler? Harlekin? Robot? Ballet Dancer? Keine Ahnung. Vermutlich wäre ich wieder Veranstalter, Texter und Promoter – weil ich das ziemlich gut kann. Ich würde mir wahrscheinlich wieder was mit Zukunft aussuchen und hoffentlich auf das richtige Pferd setzen.
Als letztes Thema: Du arbeitest an einem Buch, Glut & Pulver. Warum muss Jürgen Laarmann ein Buch schreiben? Um was geht es da?
Ganz klare Antwort: Meiner Meinung nach gibt noch immer kein gutes Buch über die Geschichte von Techno in Deutschland. Was es gibt, ist so langweilig, wie diese Szene nie war. Halbwegs amtlich ist Der Klang der Familie [von Felix Denk und Sven von Thülen], das behandelt aber nur die frühen Jahre. Mein Buch startet 1994 und endet 1997, es handelt vom Höhepunkt dieser wilden Zeit. Es ist ein Sittengemälde einer Epoche, wie es sie nie wieder geben wird. Die Freiheit und die unbändige Energie der Neunziger, erzählt aus der am Perspektive der Frontpage und ihres Zigarettensponsors.
Warum der Titel Glut & Pulver?
Glut steht einerseits für das Feuer, das wir in uns trugen, aber auch für die Zigarette, deren Geld wir gerne genommen haben, um ein paar unfassbare Jahre zu haben. Pulver auch dafür, wie wir dieses Geld verpulvert haben. Ich verrate den Lesern die letzten Geheimnisse ihrer Jugend. Die junge Generation kann staunen und sich amüsieren, es gibt Sex, Drugs and Crime. Jeder, der heute noch am Nachtleben oder an der Szene Spaß hat, findet diesen Spaß in Glut & Pulver potenziert.
Was erzählst du, was noch nicht erzählt ist?
Ich hatte das Glück, an vielen interessanten Stellen der Technohistorie dabei zu sein, und weiß ein paar Geheimnisse gerade zur Loveparade. Überhaupt strotzt das Buch vor Enthüllungen: Was hatte Frontpage mit dem von Interpol gesuchten Immobilienmogul Dr. Jürgen Schneider zu tun? Wie hätten beinahe Hamburger Reeperbahnzuhälter die Loveparade übernommen? Wie ging die eigens entwickelte Raversprache Raveranto? Und was war die Formula of Fun? Jeder, der bei den Technojahren dabei gewesen ist, wird etwas zum Schmunzeln haben – und zum Kopfschütteln.
Was macht für dich ein gutes Buch über Musik und deren Zusammenhänge aus? Was waren deine Vorbilder beim Schreiben?
Ich mag wilde Storys, Geschichten von Exzessen und Verpeilungen, verblüffende Einblicke und spektakuläre Ups and Downs, davon hatte ich einige. Eins meiner Lieblings-Musikbücher ist The Dirt, die Biografie von Mötley Crüe.