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Dekmantel 2022: Morgen ist die Antwort

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Die zweijährige Verschnaufpause hatte ein Ende: Am südlichen Ende des Amsterdamse Bos eröffnete das Dekmantel Festival seine Pforten für Raver:innen aus allen Teilen der Welt. Obwohl die Crew zwischenzeitlich mit durch die Pandemie bedingten finanziellen Problemen zu kämpfen hatte, wurde mit vereinten Kräften erneut ein quasi makellos organisiertes Spektakel elektronischer Musik inmitten einer der größten Parkanlagen Europas realisiert – und das vielleicht abgefahrenste Line-up der noch jungen Festivalgeschichte gebucht.

Donnerstagabend, 21 Uhr. Ankunft am Flughafen Schiphol in einem völlig überteuerten Hotel, dessen Name hier bewusst verschwiegen wird. In einer Stunde spielt John Beltran seinen Ambient-Techno-Klassiker Ten Days Of Blue von 1996 in voller Länge am anderen Ende der Stadt, fast schon versteckt am Hafengelände in einem Club namens Shelter. Nur ein Highlight unter vielen, die wie jedes Jahr von Freitag bis Sonntag im Amsterdamse Bos, mittwochs und donnerstags aber auch in diversen Venues zu sehen sind. Wer nur einen Bruchteil des Line-ups sehen will, wird jeden Tag vor neue organisatorische Herausforderungen gestellt: Alleine am Donnerstag spielen über die Stadt verteilt in kurzen Abständen Jameszoo‘s Blind Group, Laurel Halo & Oliver Coates, John Beltran, Alberta Balsam, Space Afrika und Squarepusher, um nur ein paar zu nennen. Unmöglich, bei dieser Fülle an etablierten wie frischen Namen alles mitzunehmen.

So beginnt der Freitag bei angenehmen 25 Grad mit Kopfzerbrechen, was wie wo unterzubringen ist, und mit einem Live-Set, das in typischer Dekmantel-Tradition die Frage aufwirft: Der spielt also noch live? Dass Mick Harris die Originalität seiner postindustriellen Soundscapes erst 2021 erneut unter Beweis stellte, ist zwar hinlänglich bekannt. Den Ex-Drummer der ikonischen Grindcore-Band Napalm Death aber unter seinem Alias Scorn noch mal irgendwo in Fleisch und Blut auf einer Bühne zu sehen – das ließe sich so bestenfalls auf einer Handvoll Festivals überhaupt erhoffen.

Bufiman, Lucas Croon und ein heiterer Haze (Foto: Nils Schlechtriemen)

Seinen von Illbient und Druckluft-Dubstep durchzogenen Stil lässt er im UFO II mit noisiger Improvisation kollidieren und bringt es tatsächlich zustande, dass die Evo-Speaker der Funktion One schon um kurz vor 4 Uhr nachmittags warmgelaufen sind. Bei sommerlichen Temperaturen war ein kurzer Sprint zum Greenhouse notwendig, um nicht alles vom b2b-Liveset von Bufiman & Lucas Croon zu verpassen. Exotische House-Spielereien und ein heiterer Haze erfüllen die Luft mit guter Laune, während das Sonnenlicht durch die teilweise geöffnete Decke des Gewächshauses bricht und den mit Palmen gesäumten Tanzflur erhellt. Manchmal laufen Remixes von Bufimans letzter Platte, an anderer Stelle gibt Croon dem Mix eine etwas sphärische Note mit Traumcharakter. Die beiden lächeln, das Publikum strahlt.

Seaweed-Patties bereiten den Marathon im Green House vor

Im Anschluss eine kurze Pause an einer der zahlreichen Büdchen, die mit kulinarischen Leckereien zu erwartbar stolzen Preisen aufwarten. Es gibt ebenso köstliche wie teure Weedburger – mit Seaweed-Patties. Der Besitzer des Standes weiß zu berichten, dass alles andere im undurchsichtigen Paragrafendschungel Amsterdams ohnehin illegal wäre, auch wenn dies keinerlei rechtlicher Logik folgt. Die Stärkung muss sein, da schon kurz darauf ein dreigeteilter Slot-Marathon im Green House geplant ist. Um 19 Uhr stehen Nihiloxica pünktlich auf der Bühne, bewaffnet mit zahllosen Perkussioninstrumenten und einem zentralen Mixing-Desk.

Das Set von Nihiloxica eröffnet die sandige Atmosphäre eines Schrottplatzes am anderen Ende der Welt (Foto: Nils Schlechtriemen)

Der Jahrtausende alte Klang traditioneller Instrumente Ugandas prügelt sich über 60 kochend heiße Minuten durch einen sublimen Industrial-Filter und verleiht dem energiegeladenen Auftritt stellenweise die für das Projekt typisch sandige Atmosphäre eines Schrottplatzes am anderen Ende der Welt. Was die Truppe auf Kaloli bereits so eindrücklich zur Meisterschaft brachte, wird hier ebenso stark in einen febrilen Live-Kontext transponiert.

Legowelt liefert, was die aufgewärmte Masse erwartet hat.

Danach dauert es keine fünf Minuten und alle Instrumente sind flugs von der Bühne verschwunden, um Platz für Danny Wolfers zu machen. Mittlerweile so etwas wie die bebrillte Eminenz niederländischer Elektronik, liefert er als Legowelt ziemlich genau das ab, was die aufgewärmte Masse im nun rappelvollen Greenhouse erwartet hat: eine spacige Kurverei durch säuregetünchten Techno, Ambient House und modulierte Electro-Eleganz, die auf das bewährte Set an Samples zurückgreift, um die Realität live neu zusammenzusetzen.

Wenn die Sonne langsam schlafen geht, glänzen am Dekmantel nicht nur die UFO-Bühnen (Foto: Nils Schlechtriemen)

Das gelingt ihm auf ganzer Linie, auch wenn er diesen Stil während der Zehnerjahre bei vielen Gigs schon beeindruckender umgesetzt hat. Sei’s drum, solche Rankings sind immer unfair. Als Ben UFO, Pangaea sowie Pearson Sound bei der 15-Jahre-Hessle-Audio-Party im Nest und Matrixxman im UFO I noch parallel zugange sind, startet Identified Patient um kurz vor 21 Uhr mit einem der sicheren Ausnahme-Sets der diesjährigen Dekmantel-Edition.

Ein Ausnahme-DJ mit einem Ausnahme-Set: Identified Patient (Foto: Nils Schlechtriemen)

Warum Job Veerman während der späten Zehnerjahre durch seine EPs und Mixes für Dekmantel, Truancy oder Bleep zu einer todsicheren Bank für elastischen EBM mit wuchtigen Warehouse-Vibes avancierte, begründet er hier ein weiteres Mal mit Nachdruck. Verschwenderisch mixt er Industrial und Acid Techno, irisierende Arps mit geisterhaften Pads, die in der Abenddämmerung verhallen wie Echos der Zukunft. Begeisterungsschreie werden bis in die letzten Sekunden des Gigs laut, bevor die Crowd eine Zugabe verlangt. Mit bereits drei Minuten zusätzlicher Spielzeit ist Veerman allerdings schon über dem Limit. Das Orga-Team bedeutet ihm, dass die Speaker bis morgen ruhen müssen. Mit einem Schulterzucken dreht er sich zum Publikum und verschwindet – dann sind nur noch tausende Stimmen im schwülen Nebel zu hören.

Ein Kater im UFO

Tag zwei beginnt mit einem leichten Kater. Und mit Dopplereffekt um 14:30 Uhr im UFO II. Also wieder eines dieser Projekte, die gemeinhin unter weitgehend inaktiven Legenden archiviert werden. Wie die Dekmantel-Booker so etwas Jahr für Jahr hinkriegen, ist nicht einfach zu beantworten und wohl nur an der Oberfläche auf extrem gute Kontakte zurückzuführen; im ursprünglichen 2020-Line-up dieser achten Edition war etwa auch Aaron Funk vertreten. 

Platz zum Rumzappeln bietet das Dekmantel genug (Foto: Nils Schlechtriemen)

Gerald Donald und seine Partnerin Michaela To-Nhan Bertel fluten das stählerne Ambiente jedenfalls erwartungsgemäß mit Detroit Electro und progressiver Elektronik erster Güteklasse, was sich auch andere Acts des Festivals nicht entgehen lassen, die in der Menge oder im Backstage-Bereich zugegen sind. In brütender Hitze, die mittlerweile Trademark des kleinen UFO-II-Floors ist, moduliert Donald mit nervös herumspielenden Fingern Bleeps und Shots, während To-Nhan Bertel von einem Korg Triton Synthflächen hochzieht. Im Hintergrund wird das Duo von drei kreisenden Rotorblättern begleitet, die ihr Übriges zum ominösen Futurismus dieser 60 Minuten beitragen. Am Ende tosender Beifall und offensichtliche Erleichterung, die hinter den konkaven Masken zu erahnen ist.

Als Giant Swan 90 Minuten später im UFO I ihr Live-Set beginnen, ist der große Saal bereits zu drei Vierteln gefüllt. Trotzdem haben alle Anwesenden jede Menge Platz zum Tanzen und Rumzappeln. Ohnehin ein ganz großer Pluspunkt dieses Festivals: Zu keinem Zeitpunkt ist an irgendeiner Stage Platzmangel ein Problem. Es gibt überall Möglichkeiten, dem Trubel schnell zu entfliehen oder sich eben noch tiefer hineinzustürzen. Erwartungsgemäß feuert das Duo aus Bristol nach einer halben Minute Warm-up nonstop toxischen Industrial Techno in die Menge, der dekonstruierte EBM-Manierismen ähnlich slick integriert wie boomende Kicks und nackten Noise.

Wenn das abgefuckte Warehouse-Feeling der frühen Neunziger irgendwann mal artgerecht in die neuen Zwanziger übersetzt wurde, dann hier. Durchatmen und dabei die Atmosphäre aufsaugen ist jedoch nur kurz möglich – nach dem Set ist vor dem Set. Wenige Minuten später steht schon Guy Blanken alias Talismann auf der Bühne und fummelt an den Decks herum.

Zwischendurch bespielt DJ Plead „The Nest” (Foto: Nils Schlechtriemen)

Der Niederländer ist mit den drei Parts seiner Percussion-Serie bislang lediglich den tief buddelnden Heads ein Begriff und live ohnehin fast nur zwischen Den Haag und Amsterdam in Erscheinung getreten. Wie seinerzeit Bryn Jones vermählt auch Blanken eigens eingespielte Perkussion mit minutiös sequenzierten Beatstrukturen, die hier jedoch weniger Tribal Ambient sind, sondern zu knüppeldickem Techno anwachsen. Wobei das tribale Element auch beim zweistündigen Set im UFO I nicht zu überhören ist und eine rituelle Stimmung beschwört, die ideal in den Abend geleitet.

Back to the future

Während upsammy gegen halb acht ein überraschend entspanntes Set im Boiler Room beendet, beginnt Evian Christ bereits im UFO II damit, der mittlerweile sportlich schnaufenden Crowd eine Beatbackpfeife nach der anderen zu verpassen. Wieder ein Produzent, der nur bei wenigen Festivals in jüngster Zeit anzutreffen war, hier aber wie die Faust aufs Auge passt, obwohl er sonst als Trap-Producer von sich reden macht. 

Sind die Sets im UFO II zuweilen eher düster, experimentell und nur bedingt eingängig, so pumpt Christ eine überraschende Fülle an Melodien und fast schon sommerlichen Tönen durch die dunstende Röhre. Auch deshalb sind die 90 Minuten schnell vorbei, bevor Parrish Smith das Set des Tages kredenzt. Bekannt ist der aus Amsterdam stammende Produzent seit ein paar Jahren für wahnsinnige Genre-Bastarde: Electro und Nu Metal, Hip Hop und Grunge, Industrial Techno und Punk, Noise und Pop – nichts ist Smith zu konträr, um es mit aller Kraft zu verschränken. Was er an diesem Abend für zwei Stunden abfeuert, folgt jenem Credo der regellosen Fusion.

Es ist, als würde Smith Clubmusik von 2042 channeln, wenn die Welt so richtig im Arsch ist.

Zahllose Schreie totaler Entrückung, Fassungslosigkeit in der Menge – schroffe Vocoder, E-Gitarren, industrielle Basswellen, Breakbeats, Shouting und Glitches in epischen Collagen rauschen im Minutentakt durch das halbrunde Blechgebilde, das an beiden Seiten von außerirdischen Visualisierungen auf zehn Meter langen LED-Screens flankiert wird. Es ist, als würde Smith Clubmusik von 2042 channeln, wenn die Welt so richtig im Arsch ist. Schweißgebadet ziehen alle von dannen, als das Set genauso abrupt endet, wie es begann.

Manche schlummern noch vor der Mainstage (Foto: Nils Schlechtriemen)

Der Sonntag beginnt mit etwas milderem Wetter und einem zweistündigen Abriss von Helena Hauff, die sich erwartungsgemäß nicht lumpen lässt und ihre Expertise in puncto Clubmusik mit muskulösem Ghettotech-Duktus so dominant über den Flur schickt, dass mehr und mehr Menschen von draußen grinsend ins UFO II pilgern. Hatte sie bei der Ausgabe 2018 noch mit ihrem Closing die Mainstage in Brand gesetzt und mit BPMs im Hardstyle-Bereich für Erschöpfung gesorgt, fällt ihr diesjähriger Gig etwas eklektischer und differenzierter aus. Vielleicht auch, weil direkt nach ihr Sherard Ingram alias DJ Stingray 313 die Decks übernimmt, lässt sich das Detroit-Tuning quasi im Nebeldunst herausschmecken.

Distinkt wie ein Hornissenstich zwischen die Rippen zieht Stingray hier für zwei volle Stunden ein Programm ab, das eingefleischten Raver:innen ebenso den Kiefer blockiert wie den Frischfischen.

Ingram genießt bei Electro-Fans natürlich Legendenstatus, hat er den ursprünglichen Style der Motor City auf Alben vom Kaliber F.T.N.W.O. (2012) doch kongenial einem Update unterzogen. Trotzdem: So manchem und mancher im Saal ist er dennoch nicht geläufig. Für unerwartete Entdeckungen ist das Dekmantel berüchtigt – gepflegt wird dieses Image 2022 auf allen Ebenen. Distinkt wie ein Hornissenstich zwischen die Rippen zieht Stingray hier für zwei volle Stunden ein Programm ab, das eingefleischten Raver:innen ebenso den Kiefer blockiert wie den Frischfischen. Schwimmen gegangen sind jedenfalls alle.

Juliana Huxtable und JASSS holen mit Tech-Trance die Vöglein vom Himmel (Foto: Nils Schlechtriemen)

Pausen gibt es dennoch keine. Noch während Stingray die letzten Ausläufer seines Auftritts gestaltet, beginnt Lee Gamble im UFO II einen rund 90-minütigen Ritt durch Jungle, Drum’n’Bass, Hardcore-Breaks und seinen kaum greifbaren IDM/Techno-Bastard, den er zuletzt mit einer Reihe EPs und 2017 auf dem fulminanten Hyperdub-Debüt Mnestic Pressure zur Vollendung brachte. Gamble selbst fühlt sich am Pult sichtlich wohl, tanzt und lacht mit den Leuten, hat aber alle 30 Sekunden einen neuen Twist im Ärmel, um keinen Verdacht von generischem Mixing aufkommen zu lassen. Die Beatkonstruktionen entfalten sich mit irrwitziger Präzision und sind offenkundig gut vorbereitet, denn rhythmische Transitionen schrumpft der Brite zu sublimen Details. Alles fließt virtuos ineinander, bis JASSS mit ihrem Set sämtliche Vögel vom Himmel holt.

JASSS, die Vögel und „Turbo Olé”

Schon fünf Jahres ist es her, dass sie mit ihrem Debüt Weightless eines der wichtigsten Techno-Alben des Jahrzehnts veröffentlichte und schlagartig quer durch Europa gebucht wurde. Electro-Industrial mit Reminiszenzen an Throbbing Gristle, brachiale Techno-Harmonien und ein gesonderter Fokus auf unheilvolle Atmosphären waren da präsent. Später schlug sie auf der EP Whities 027 andere Wege ein und demonstrierte mit „Turbo Olé”, wie perkussiver Tech-Trance im Stakkato-Modus der heiße Scheiß von morgen werden könnte. Souverän beherrscht sie die Crowd in diesem Spektrum für eineinhalb Stunden und zeigt mit einem großen Lächeln immer wieder, wie sehr sie das gerade genießt. Das gilt im Übrigen für alle Anwesenden an diesem Abend.

Amsterdam. Fahrradstadt. (Foto: Nils Schlechtriemen)

Bemerkenswert zum Schluss: Batu darf als vergleichsweise junges Talent das Closing Set am Sonntag spielen. Dekmantel als sogenannte Tastemaker? Kein PR-Geblubber – Tatsache. Verdient hat er sich den Slot wohl 2019 mit einem dreistündigen Gig im Greenhouse, der den Organisator:innen nach der abgesagten 2020-Edition noch lange im Gedächtnis geblieben ist.

Von UK Bass über südamerikanische Perkussion bis zu zerbröselten Hard Drums weit jenseits der 150 BPM und wunderbar ekstatischen Breakbeats unter drexciyanischen Electro-Klassikern á la „Lost Vessel” war das Set ein bedingungsloser Sieg für den Timedance-Gründer – und für die Rückkehr des Dekmantel-Festivals sowieso.

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