Am 8. Mai 2006  dominieren Coldplay und die Kaiser Chiefs das britische Popgeschehen. In Deutschland lösen Silbermond gerade Tokio Hotel von der Spitze der Charts ab. Und vom Cover des GROOVE Magazins linsen fünf junge Männer in Hoodies und Schwiegersohn-Jacketts über ihre Keyboards. Sie nennen sich Hot Chip: bleiche Nerds mit einer Vorliebe für klobige Brillen und widersprüchliche Style-Signale, die an diesem Tag im Mai einen Hit landen, indem sie über die eigene Schulzeit in London und die Unumkehrbarkeit der Zeit singen.

„Boy From School” sorgt auf Tanzflächen und vor Konzertbühnen mit Melancholie und Clubbeat für Begeisterung. Er definiert nicht nur, wie eine Band funktionieren kann, sondern wie Party und Sehnsucht zusammenpassen. Über 16 Jahre nach diesem 8. Mai erzählt Joe Goddard, wie es dazu kam. Und was er heute von „Boy From School“ hält.


Joe, erinnerst du dich an den Moment, als die erste Liedzeile oder die Idee einer Melodie für „Boy From School” entstand?

Das war um das Jahr 2003. Alexis Taylor und ich hatten gerade unser Studium abgeschlossen. Ich lebte mit meinem Vater, meinem Bruder und meiner Stiefmutter in Fulham im Südwesten Londons. Alexis und ich haben dort schon Musik gemacht, als wir noch zusammen zur Schule gingen, so mit 15 oder 16 Jahren, meistens direkt nach dem Unterricht. Alexis hatte ein altes Casio MT-70, ein sehr einfaches, kleines Keyboard. Das brachte er mit und begann, im Schlafzimmer meines Bruders die Akkorde und den Text für „Boy From School” zu schreiben. Seine erste Version des Songs war eigentlich ein langsamer Walzer, im Grunde wie ein Folksong im Dreivierteltakt. Es geht darin um ein paar Leute, mit denen wir zur Schule gegangen sind. Eine Zeile handelt von mir, eine weitere von unserer guten Freundin Emma Smith, die immer noch auf vielen Hot-Chip-Aufnahmen Streicher und Saxofon spielt. Für Alexis war der Song wie ein nostalgischer Blick auf verschiedene Beziehungen und Leute um uns.

Wie entstand der Song konkret?

Alexis spielte mir den Anfang des Songs vor. Ich war zu der Zeit besessen von DFA Records und den ersten Stücken von LCD Soundsystem, generell interessierte ich mich immer mehr für Tanzmusik. Also schlug ich Alexis vor, das Stück in einen Disco-Song zu verwandeln. Ich hatte einen PC in meinem Schlafzimmer. Darauf entstanden zu dem Zeitpunkt alle Hot-Chip-Songs. Sogar unsere Bandproben zu fünft fanden in diesem winzigen Schlafzimmer statt. Jedenfalls habe ich für die Kickdrum den DFA-Remix von Le Tigres „Deceptacon” gesamplet, der damals ein Hit war. Anschließend bauten wir mit Alexis’ Casio-Keyboard die Basslinie und die Akkorde. Ich habe die Aufnahme noch optimiert sowie Backing Vocals und andere Kleinigkeiten hinzugefügt. 


„‚Boy From School’ ist die Blaupause für einen Großteil der Musik, die wir seither produziert haben.”


Ihr wolltet also einen Folksong auf die Tanzfläche bringen?

Ja, das fand ich spannend. Für Hot Chip war das ein Wendepunkt, denn: „Boy From School” ist die Blaupause für einen Großteil der Musik, die wir seither produziert haben. Alexis war auch daran interessiert, House zu entdecken. Er ist mit Prince, New Order und solchen Acts aufgewachsen. Eine unserer großen Leidenschaften als Teenager war aber eine bestimmte Art von Folk. Die Band Smog und Will Oldham waren uns sehr wichtig. Bei Auftritten in der Schule spielten wir Coverversionen von langsamen, sanften Folksongs, außerdem Stücke von The Velvet Underground und Pavement. Alexis schrieb eine Menge Songs in diesem Stil. Ich habe dann vorgeschlagen, mehr in Richtung Tanzfläche zu gehen. In Sachen Clubmusik war London zu dieser Zeit ein aufregender Ort. Basement Jaxx veröffentlichten ihre ersten Platten, die für viele Indie-Kids ein Türöffner zu House waren. Daft Punk haben etwas ganz Ähnliches gemacht. Und auch DFA Records waren auf ihre Art Vorreiter in der elektronischen Musik.

Die fünf Köpfe hinter Hot Chip 2022 (Foto: Pooneh Ghana)

Was machte diese Art von Clubmusik plötzlich so attraktiv für Leute, die mit Indie aufgewachsen sind?

Die Platten von Daft Punk haben vom Klang her eine gewisse Affinität zu Rockmusik. Sie verwenden eine Dynamik und Soundästhetik, die man auch in Rocksongs hört. Ich glaube, dass Daft Punk diese Musik sehr zu schätzen wussten und zugleich ein großes Wissen über Chicago House und Underground-Clubmusik hatten. Sie wussten auch, wie man mit Tanzmusik eine rockige Show auf die Bühne stellt. Viele Stücke von Basement Jaxx sind außerdem eingängige, gute Popmusik. Die wurden ständig im britischen Radio gespielt. Als Teenager habe ich in Clubs Drum’n’Bass gehört, das war mein Ding. Aber mit 18, 19 beschloss ich, viel mehr Zeit in House-Clubs zu verbringen. Als in London der Club Fabric eröffnete, bin ich ab dem ersten Wochenende regelmäßig hingegangen. Das war eine Offenbarung für mich – und ist seitdem ein großer Teil meines Lebens.

Destiny’s Child löst Oasis ab

Zur selben Zeit gab es einen großen Retro-Rock-Hype. In Großbritannien wurde jede zweite Woche eine neue Gitarrenband in den Himmel gelobt. Hot Chip standen für ein anderes Selbstverständnis: Ihr wart zwar auch eine Gruppe von fünf Jungs, aber schon eure Positionierung und die Rollenverteilung auf der Bühne signalisierte, dass es um eine modulare Einheit mit gleichberechtigten Partnern ging. 

Als Britpop aufkam, waren Alexis und ich interessiert daran. Wir haben Oasis noch bei ihren kleinsten Shows gesehen und standen zusammen in der Oxford Street Schlange, um die CDs von ihrem ersten Album signieren zu lassen. Als es um das Jahr 2000 mit Hot Chip wirklich losging, fanden wir das aber langweilig und zu traditionell. Dagegen waren US-amerikanischer R’n’B, Garage und House viel aufregender und einfallsreicher. Wir hörten Justin Timberlake, die Produktionen von Timbaland, Destiny’s Child oder die UK-Garage-Produzenten. Davon ließen wir uns inspirieren.

Joe Goddard posiert vor einem Obstkorb (Foto: Presse)

Euer Style und eure Attitüde standen für eine andere Art von Männlichkeit: bunter, gefühlvoller, verletzlicher. Darauf konnte sich plötzlich ein Publikum vor Konzertbühnen und im Club einigen.

Wir sind eher sensible, nerdige Typen. Niemand von uns lebt eine aggressive, traditionelle Männlichkeit aus. Alexis ist zum Beispiel modebewusst und kleidet sich gerne auf unkonventionelle Weise. Für unsere Bühnenpräsenz haben wir uns aber von Kraftwerk inspirieren lassen. Schließlich hatten wir keinen Live-Schlagzeuger. Wir dachten, es würde Spaß machen, wenn wir uns alle in einer Reihe und so nah wie möglich zum Publikum aufstellen und damit die traditionelle Formation auf einer Bühne unterlaufen.


„Als wir die Mixe zum ersten Mal hörten, wurde mir klar, dass die Songs möglicherweise alles für uns verändern würden.”


„Boy From School” markiert mit „Over And Over” euren Durchbruch. Habt ihr geahnt, dass dieser Song einiges bewegen würde?

Wir waren auf jeden Fall aufgeregt. „Over And Over” ist schließlich ähnlich entstanden wie „Boy From School”. Die Leute von EMI, bei denen wir unseren Plattenvertrag unterschrieben, liebten die Musik und haben uns auch nicht gebeten, etwas zu verändern. Sie wollten nur, dass Tom Elmhirst die Platte abmischt, ein angesehener Tontechniker, der später zum Beispiel auch an allen Platten von Adele gearbeitet hat. Als wir seine Mixe zum ersten Mal hörten, wurde mir klar, dass diese Songs möglicherweise alles für uns verändern würden. Zu der Zeit spielte Four Tet eine Show im Koko in Camden und bat mich, vor ihm aufzulegen. Ich spielte die noch unveröffentlichte Version von „Over And Over” und merkte, wie das Publikum bei dem Song aufhorchte, obwohl es ihn noch nie gehört hatte.

Erol Alkan remixte „Boy From School”, danach erschienen weitere Versionen. Hat der Song auch in der Originalversion auf den Tanzflächen so funktioniert, wie du es dir ausgemalt hattest?

Wir kamen aus einer Indie-Welt und waren naiv. Obwohl ich von Clubmusik besessen war, hatte ich kein rechtes Verständnis dafür, wie Platten produziert werden müssen, damit sie auf der Tanzfläche gut klingen. In der Hinsicht ist „Boy From School” misslungen. Das Original funktioniert vom Klang her nicht wirklich im Club. Es ist eher etwas für zuhause, das an den Club erinnert. Aber genau diese Naivität von „Boy From School” gefällt mir immer noch gut.

Wenig streiten, viel wrestlen

American Wrestling war eine Metapher, die in frühen Tagen von Hot Chip recht prominent auftauchte. Entspricht dieses Bild auch der Dynamik zwischen dir und Alexis beim Songwriting?

Stimmt, wir spielen auch im Text von „Boy From School” auf Wrestling an. Als Alexis und ich uns mit zwölf Jahren kennenlernten, trafen wir uns auf dem Spielplatz unserer Sekundarschule, aßen mittags unsere Sandwiches und spielten Fußball. Und manchmal haben wir auch gewrestlet, weil wir beide Fans der World Wrestling Federation waren und gerne Wrestler wie The Undertaker und The Ultimate Warrior im Fernsehen sahen. Mein Sohn wird auch gerade auf Wrestling aufmerksam, ich würde ihn gerne mal zu einer Veranstaltung mitnehmen. Es kostet zwar hunderte Pfund, wäre aber ein lustiger Abend. Auch weil ich Alexis ebenfalls einladen würde. Was das Musikmachen betrifft: Alexis und ich arbeiten seit 30 Jahren zusammen, wir neigen nicht dazu, viel dabei zu streiten. Wie Wrestling fühlt sich das Musikmachen jedenfalls nicht an. Es ist ein intuitiver Prozess, es fließt.

Joe Goddard (o.r.) erfährt die Geheimnisse der Songs in Interviews (Foto: Pooneh Ghana)

Weiß ein Song mehr über seinen Autor als umgekehrt? 

Wenn wir zu einem neuen Album Interviews geben, stellen wir manchmal fest, dass es Themen und Konzepte gibt, für die wir uns nicht bewusst entschieden hatten, die sich aber auf interessante Weise durch das gesamte Album ziehen. Ich stelle Alexis’ Worte während der Entstehung eines Songs nie in Frage und will auch nicht ständig wissen, was sie bedeuten. Bei Interviews erfahre ich mehr über ihren Inhalt, weil er die Texte erklärt. Ich finde es durchaus interessant, die Geheimnisse dieser Songs zu erfahren.


„Der Song hat etwas Sensibles und Liebevolles, ist trotzdem ein bisschen traurig.”


Hat „Boy From School” erreicht, was du dir vorgestellt hast?

Wir hatten keine bestimmte Erwartung an den Song. Aber was das Einfangen eines Gefühls angeht, war er sehr erfolgreich. Er hat etwas Sensibles und Liebevolles, ist trotzdem ein bisschen traurig. Deshalb spielen wir ihn immer noch bei fast allen Auftritten. Es ist immer ein Moment, den das Publikum zu genießen scheint.

Joe Goddard 2012 (Foto: Steve Gullick)

Der Song vermittelt ein Gefühl der Sehnsucht, die Idee einer unwiederbringlichen Zeit der Unschuld. „We tried, but we didn’t have long / We tried, but we don’t belong”, heißt es am Ende. Wenn ihr das Stück heute spielt, verspürst du dann eine Sehnsucht nach diesen frühen Tagen deiner Band, nach eurer eigenen Unschuld?

Auf jeden Fall. Wir waren Teenager und genossen unsere Zeit miteinander. Die Schule war für uns ein toller Ort, wir hatten die erstaunlichsten Freundschaften mit vielen guten Leuten und inspirierende Menschen um uns herum. Außerdem verbrachten Alexis und ich jede Woche viele Stunden in Plattenläden, auf Konzerten oder bei mir zu Hause, um Musik zu machen. Ich erinnere mich gerne an diese Phase in meinem Leben: an die Zeit als junger Musiker, in der man Pläne für seine Band schmiedet und sich kreativ weiterentwickelt. Zu dem Zeitpunkt muss man sich noch nicht um Kritik am eigenen Tun sorgen. Man ist in einer geschützten Position, bevor man tatsächlich etwas veröffentlicht. Das war schön. Wir hatten eine Menge Spaß und lachten viel. Und wir machten diese etwas alberne, ziemlich ungewöhnliche Musik.

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