Vril auf dem Tauron Nowa Muzyka Festival in Katowice (Foto: Nils Schlechtriemen)

Das Tauron Nowa Muzyka findet im Zentrum von Katowice statt. Seit 2006 hat sich das Festival zu einem Garanten für sorgsam kuratierte Act-Konstellationen in einem post-industriellen Setting entwickelt. Nicht nur in Polen, sondern in ganz Osteuropa gilt das Tauron als veritable Möglichkeit, Produzent:innen live zu sehen, die sonst nur selten auf anderen Festivalbühnen spielen.

Auch in diesem Jahr gab sich dort vom 21. bis 24. Juli ein Style-transzendierendes Billing die Ehre und präsentierte neben rauen Rap-und-Punk-Mixturen, sphärischem Pop, polnischem Fusion-Jazz und minutiös hochskaliertem House auch Techno, der seiner Zeit weit vorauseilt.


Seit 2014 findet das Tauron in der Katowicka Strefa Kultury im Zentrum von Katowice statt. Umgeben von den Resten alter Bergbauanlagen und Fördertürmen wie dem Warszawa II, einem Amphitheater sowie dem Spodek erstreckt sich das Festivalgelände auf einer Fläche, die sonst als Parkplatz dient.

Wo ein Denkmal an die schlesischen Aufstände vor über 100 Jahren erinnert, sind tiefe Bässe der etwa 500 Meter entfernten Club Stage bereits gut zu hören. Lila, rosa und giftgrün erstrahlen die Gebäude der Umgebung und sind vom Eingang aus als passende Hintergrundkulisse für das Tauron Nowa Muzyka erkennbar.

Techno, der sich in Säure tränkt

An einem trocken-heißen Freitagabend eröffnet Michał Wolski mit einem unerwartet düsteren und drückenden Set. In Säure getränkter Industrial Techno wummert wie eine Kreuzung aus Anthony Linell und Orphx durch das transparent eingehüllte Festzelt. Keine Frage: Wolski, ein in Polen oft gebuchter DJ und bekannter Produzent, könnte damit auch in Deutschland in der Clubszene bekannt werden.

Vor der Carbon Stage eröffnet derweil Zdechły Osa einen Moshpit nach dem anderen. Als eine semi-nihilistische, polnische Kreuzung aus .clipping, Mobb Deep und The Offspring ist der 1997 in Wrocław geborene Rapper erst seit einigen Jahren in der nationalen Szene bekannt. Mit Hits wie „Patolove” hat er trotzdem schon ein Millionenpublikum erreicht. Die Leute feiern nicht nur seine dreckigen Beats zwischen Dubstep und Boom bap, die teils persönlichen, aber auch radikal politischen Texte sowie seinen Iro, sondern auch die Show. 

Der Iro sitzt, die Show eskaliert: Zdechły Osa (Foto: Nils Schlechtriemen)

Auf der Bühne hüpfen zu jedem Zeitpunkt mindestens zehn Leute rum, von denen vier mitrappen und einer zwischendurch den Mixer bedient. Die Performance spiegelt den unbedingten Partyhunger der Menge nicht nur wider, sondern verstärkt ihn. Ein Feedbackeffekt, der leider schon nach einer Stunde endet, bis dahin aber für exzessives Pogen und Ausrasten sorgt.


„Den Organisator:innen sind große Namen ebenso wichtig wie der Support für den polnischen Untergrund.”


Für Kontrastprogramm sorgt der aus Chorzów stammenden EERT. Auf Soundcloud schätzt ihn eine kleine User:innenschaft für wunderbar dichte Ambient-Loops und Live-Sets. Auf dem Tauron spielt er parallel zum Iraner Sote und dem deutschen Experimantal-Pop-Duo Ätna, das auf der Perła-Stage im Amphitheater auftritt. Dass danach Andy Stott die Bühne betritt, ist einer von vielen Beweisen, dass den Tauron-Organisator:innen große Namen ebenso wichtig sind wie der Support für den polnischen Untergrund.

So dicht wie seine Visuals waren nur die Ambient-Loops von EERT (Foto: Nils Schlechtriemen)

Stott liefert souligen Dub Techno, den er elegant tänzelnd mit maschinellen Breakbeats, sehnsüchtigen Melodien und einem brillanten Gespür für Vocal-Loops verschmilzt. Beeindruckend ist, wie bestenfalls Bruchstücke seiner bisher veröffentlichten Tracks erkennbar sind, der Großteil aber entweder neues Material oder spontan gemixte Tunes sind, die sich wie ölige Puzzleteile aneinanderschmiegen.

Andy Stott bedient seine Maschinen gern im Finsteren (Foto: Nils Schlechtriemen)

Im Anschluss liefert der schwedische Minimal-Techno-Produzent The Field ein Set von ausufernder Qualität, in dem er variierende Visualisierungen eines purpur tröpfelnden Auges mit hypnotischen Mixturen aus Acid- und Industrial-Techno begleitet. Der minimalistische und auf Trance-Zustände abzielende Tenor seiner Studioarbeiten ist hörbar. Trotzdem dringt das Set in überraschende Areale immersiver Clubmusik vor, die von The Field nur selten zu hören sind.

Donato Dozzy lässt derweil die Laser tänzeln (Foto: Nils Schlechtriemen)

Immersiv ist im Anschluss auch das Set von Donato Dozzy. Bis sechs Uhr früh legt der Italiener einen Parforceritt in Sachen Sequenzierung, Modulation und Transit hin. Dozzy fokussiert dabei vor allem fluide, ineinandergreifende Pad-Texturen, die Beats und ätherische Voice-Shots als Akzente an den Rändern nutzen. Im Kopf entstehen Bilder von zerfließenden Industrielandschaften, Insektenschwärmen und kultischen Veranstaltungen verwahrlost Suchender. Die Nacht endet, als bei Sonnenaufgang alle in ihre Unterkünfte wanken.

Bässe raunen, Melodien euphorisieren

Sarapata eröffnet den Festivalsamstag melodisch und schrill. Die beiden Brüder aus Krakau gestalten das Aufwärmprogramm auf der Club Stage mit einer lebensbejahenden Tech-House-Variation, in der vielbeschworene Neunziger-Vibes in gleißenden E-Gitarren-Leads aufgehen. Es sind locker verdauliche Tracks, die das Publikum im randvollen Festzelt mitreißen.

Bei Rival Consoles trifft Kai Hugo auf Danny Wolfers (Foto: Nils Schlechtriemen)

Der Brite Ryan Lee West alias Rival Consoles lehnt sein Set an seine Alben Howl und Persona an. Die tanzbare Schlagseite klingt wie Danny Wolfers und Kai Hugo mit zeitgenössischem Microhouse-Anteil. Mit einem Fuß schräg auf dem anderen abgelegt und den schulterlangen Haaren im Gesicht mimt West den Techno-Nerd, der sich manisch in seinen Tracks verliert.

Ulli Hammann alias Vril teilt sich den Zeitpunkt des Slots mit den Headlinern von Moderat, trotzdem ist sein Dancefloor zum Bersten voll. Ohne Umwege beginnt sein Set mit einer Track-Staffelung, die an den überlebensgroßen Techno auf Bad Manners 4 erinnert und tief raunende Bassspuren mit euphoriegesättigten Melodieloops kombiniert.

Wer nicht bei Moderat war, lauschte dem Set von Vril (Foto: Nils Schlechtriemen)

In diesem Spektrum zwischen Flächen und Rhythmusschlägen und Wechseln von ausuferndem Sounddesign und mechanischer Wucht findet das Set über 60 Minuten immer wieder eine Balance und Schroffheit, die vom irrwitzigen Produktionsniveau Hammanns zeugt. Am Ende erntet er den Beifall des Publikums, das sich wieder in Ekstase tanzen konnte. Auch die nachfolgenden Sets von Vacos Malcolm, Red Axes und Butch, der für den spontan ausgefallenen Kollektiv Turmstrasse einspringt, lassen die Crowd bis in die frühen Morgenstunden alles vergessen, was war und womöglich sein wird.

Beim Tauron Nowa Muzyka lebt man im Moment. Den haben die Veranstalter:innen des Festivals so überwältigend gestaltet, wie es im Jahr 2022 möglich ist. Kuration und Klangqualität stehen der anderer Festivals in Europa zweifellos in nichts nach. Wer nach einem überschaubaren, gut organisierten und liebevoll gestalteten Treffen für experimentierfreudige Raver:innen in einem post-industriellen Setting sucht, fährt nächstes Jahr nach Katowice.

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