Leon Vynehall im Coliseu dos Recreios (Foto: Filipa Aurelio)
Erstmalig fand das Sónar Festival in Lissabon statt. Nachdem die Festivalreihe ursprünglich 1994 startete, wird seitdem der Spirit aus der Ursprungsstadt Barcelona in verschiedene Städte weltweit getragen. Dabei liegt der Anspruch des SónarLisboa nicht nur auf Floor-Exzess in der Nacht, sondern auch auf künstlerischen Erfahrungen, die tagsüber stattfinden.
Neben Auftritten hochkarätiger DJs und Künstler*innen werden auch Workshops, Interviews, Soundinstallationen und AV-Shows angeboten, die alle in unterschiedlichen Locations der Stadt verteilt sind. Autor Moritz Weber war beim Debüt in der portugiesischen Hauptstadt vor Ort und hat sich angeschaut, inwiefern die Kombination aus Nachtprogramm mit elektronischer Musik und interaktivem Tagesprogramm zwischen Kreativität und Technologie funktioniert.
Für alle, die etwas mit Presse am Hut haben oder als Partner*innen fungieren, startet das Festival mit einer Eröffnungspressekonferenz. Viele SónarLisboa-Banner und -Flaggen, teils moderne Elemente zusammen mit dem Flair eines noch nicht ganz fertig renovierten ehemaligen Militärgebäudes bilden die ideale Grundlage für die versprochenen Ausstellungen, die die Frage zu beantworten suchen, wie durch Kreativität die Realität des 21. Jahrhunderts verändert werden kann.
Die portugiesische Szene verdient mehr Aufmerksamkeit
Der Freitag beginnt im Centro de Congressos de Lisboa, einer riesigen Kongresshalle im Süden, nahe am Meer. Mit 45 lokalen Künstler*innen ist die portugiesische Szene breit vertreten. Um 20 Uhr begrüßen die Lokalmatadore Yen Sung und Photonz das noch verhaltene Publikum. Nach viel House mit Soul- und Disco-Elementen geht es mit einem Gemisch aus schnellen Rhythmen und meditativen Klangwelten von Marum und Phoebe, die b2b spielen, weiter.
Das Festivalgefühl flammt nach einem Locationwechsel auf. Die Musik lässt sich schon aus einiger Entfernung wahrnehmen. Vor dem Pavilhão Carlos Lopes, einer ehemaligen Ausstellungshalle aus dem Jahr 1920, stehen einige Besucher*innen in bunten Outfits und mit Bier in der Hand. Hier sind wohl die Leute, die drüben gefehlt haben und vor Begeisterung strahlen.
Nach dem Ende des Sets von Thundercat füllt sich die Halle plötzlich. Grund dafür ist der nächste Auftritt. Nídia läuft kurz vor das DJ Pult und heizt die Menge an. Das charakteristische Design des Labels Principe flammt hinter ihr auf, und schon beginnt die Menge zu tanzen. Nídia verbindet emotionale und eingängige Melodien mit akrobatischen Rhythmen und bleibt dabei keineswegs in einer Sparte. Das Set unterteilt sich in zwei verschiedene Sphären, eine etwas leichtere und eine etwas härtere. Immer wieder tauchen Rhythmus- und Geschwindigkeitswechsel auf, die unfassbar gut funktionieren.
Nach der Berghain-erprobten DJ folgt direkt der nächste Auftritt aus der lokalen Szene: DJ Marfox übernimmt. Afrikanisch beeinflusste Tanzmusik wie Kuduro oder Kizomba wird mit House und Techno verbunden. Der Principe-Sound legt einen warmen Schatten über die Halle, und Rhythmusmanipulationen gewinnen an Momentum. DJ Marfox spendiert helle, luftige Momente, die mit dichter Percussion gespickt sind.
Das Finale bestreitet der Innervisions-Labelchef Dixon höchstpersönlich, der zusammen mit seinem Schützling Trikk auflegt. Das Set ist geduldig aufgebaut und zeichnet sich durch ein feines Gespür für Timing, eine abgestimmte Musikauswahl, einen makellosen, harmonischen Mix und dynamisches Storytelling aus. Beide wechseln sich nach einigen Tracks immer wieder ab, sodass genügend Raum entsteht, um die jeweils gewünschte Stimmung aufzubauen. Der Auftritt ist von einer makellosen Ästhetik geprägt und sicherlich einer der Highlights des Festivals.
Hochklassige Akustik im Kolosseum
Der zweite volle Tag startet erneut mit einem Locationwechsel. Im überdachten Coliseu dos Recreios hängt Helena Guedes aus Porto noch eine halbe Stunde an ihr House-Set und lässt ihre Liebe zu Detroit und Chicago aufblitzen, während bereits die Lichtshow für das Liveset von Leon Vynehall aufgebaut wird. Mehrere LED-Leuchten stehen um das niedrige Pult herum und passen sich den Beats symbiotisch an. Neben vielen Tracks seines aktuellen Albums Rare, Forever bedient sich Vynehall auch an seinem älteren Material. Mit Songs seines Konzeptalbums Nothing Is Still kreiert er einen geheimnisvollen Leitfaden, dem man gerne folgt. In Verbindung mit der durchdachten Lichtshow und der starken Akustik bietet das Kolosseum sicherlich die beste Location an diesem Wochenende.
In den frühen Morgenstunden und nach intensiven Sets von Floating Points oder Bicep geht es zum letzten Act des Tages. Inspiriert von der Cumbia der 60er und 70er Jahre hat sich das peruanische Bass-Duo Dengue Dengue Dengue auf die Suche nach neuen Rhythmen aus verschiedenen Teilen der Welt gemacht. Auch in der letzten Stunde des Festivaltages verbinden sie zeitgenössische und uralte Klänge mit einer interessanten Mischung aus analogen und digitalen Instrumenten. Psychedelischer Cumbia, Dub, Salsa, Bass oder Techno, nichts scheint unmöglich in diesen Stunden. Da stört es auch nicht, dass nur noch knapp 300 Personen auf der Tanzfläche sind.
Das Sónar Festival ebnet seinen eigenen Weg
Am Ende ist das SónarLisboa genau das Festival, was es sein möchte. Mit großen Namen in großen Locations werden viele Menschen aus der gesamten Welt angesprochen. Erfahrene und junge Künstler*innen bringen Vielfalt und Diversität mit. Und das spürt man auch. Man muss nicht von einem großen Act zum nächsten. Es gibt Raum, sich die Musik rauszusuchen, die für einen persönlich interessant ist.
Das ergänzende Tagesprogramm mit Ausstellungen, Talks und Workshops bietet eine angenehme Abwechslung. Zusätzlich erwartet die Besucher*innen durch die unterschiedlich gelegenen Locations eine Entdeckungstour durch die portugiesische Hauptstadt. Demnach versteht sich das SónarLisboa als Schnittpunkt zwischen Tag und Nacht, während sich das Publikum mit der Stadt und der lokalen Szene verbindet. Genau dort entstehen die Festivalerfahrungen, die sich jede*r wünscht. Und wenn man sieht, wie größere Gruppen gemeinsam die Locations wechseln und sich dabei über Lieblingskünstler*innen austauschen, um sich dann wieder der Musik hinzugeben, scheint das SónarLisboa genau der richtige Ort dafür.