Axel Boman – LUZ / Quest For Fire (Studio Barnhus)
Alben sind in der Regel gar nicht mal so langlebig, wie es sich Künstler*innen wünschen. Während man in früheren Jahrzehnten noch hoffen konnte, dass ein Longplayer, für dessen Produktion so viel Arbeitszeit drauf ging, von all den Käufer*innen da draußen in der Welt wieder und wieder gehört wird, zerren heute die tagesaktuell gelieferten Zahlen der Streamingdienste eine nackte Wahrheit ans Licht, die man vielleicht gar nicht immer so real abgebildet haben möchte. Neun Jahre sind vergangen, seitdem der schwedische Produzent Axel Boman sein Debütalbum Family Vacation veröffentlichte. In dieser Zeit erwies sich die Platte als ungewöhnlich langlebig und verschwand eben nicht bereits nach wenigen Wochen aus dem Wahrnehmungsfeld. Vielleicht verzichtete Boman deshalb darauf, mit Ausnahme der Serien-LP Le New Life auf Mule Musiq, allzu schnell einen Nachfolger aufs Gleis zu bringen. Jetzt sind es mit den verschwisterten Alben LUZ und Quest For Fire gleich zwei auf einen Schlag geworden. Warum der Schwede sich so entschieden hat – wir wissen es nicht. Vielleicht kann er die epische Unübersichtlichkeit von sogenannten Doppelalben einfach nicht ausstehen.
Es ist jedenfalls nicht so, dass sich LUZ und Quest For Fire grundsätzlich unterscheiden würden – im Vinylformat koexistieren denn auch beide auf drei Platten. Wenn man will, kann man LUZ als das sonnigere von zwei ziemlich sonnigen Alben betrachten. Aber auch nur sehr vielleicht, denn der Quest-For-Fire-Opener „Sottopassagio” kommt mit DJ-Mehdi-French-Touch-Gitarren und den zarten Vocals des schwedischen Indie-Pop-Duos Miljon maximal Tropical-Disco-mäßig daher. Dieser balearische Vibe, er zieht sich durch beide Alben.
Doch Axel Boman wäre nicht Axel Boman, wenn seine irre detailversessenen Tracks nicht immer auch ein wenig neben der Spur laufen würden. Insofern hat sich die Welt des Produzenten aus Stockholm seit seinem ersten Hit „Purple Drank” nicht wesentlich verändert. Die Augen, mit denen diese 18 neuen Tracks die Welt sehen, blinzeln stets ein wenig, der Blick ist oft verschwommen, was nicht zuletzt an Bomans Liebe zu Dub-Techniken und spacigen Sounds liegt. Ganz toll ist beispielsweise der völlig entrückte Acid-Track „Cacti Is Plural”. Wenn im nächsten Stück plötzlich der Saxofonist Kristian Harborg seinen Auftritt hat, mag man für einen Augenblick verunsichert sein. Aber auch hier wahrt Axel Boman Haltung. Sun Ra für Anfänger*innen trifft auf einen schleppenden Breakbeat. Alles gut. Ob LUZ und Quest For Fire einen so langen Atem wie Family Vacation haben werden – man weiß es nicht. Beide Alben gehören aber zum Allerbesten, was wir in diesem Jahr gehört haben. Holger Klein
Baby Blue – End Of Sleep (Planet Euphorique)
Egal wie viele Teile man schmeißt, man wird nie so rumeiern wie die Platte von Baby Blue. Die in Vancouver ansässige Künstlerin haut mit End Of Sleep auf Planet Euphorique ihr zweites Album raus. Darauf schrammt sie im Autodrom am Eurodance-Massaker vorbei, spankt die Willigen in der Geisterbahn, verteilt noch mehr Pillepalle zur Zuckerwatte, während sie nebenbei drei Rosenkränze runterbetet und zum Licht-an-Moment so lange mit der Birne gegen die Wand haut, bis daraus die zeitgenössische Fortführung von tATus Songcontest-Zungenkuss entsteht. Puh!
Kein Wunder, dass sich Baby Blue vor fünf Jahren mit einem ADHS-Trance-Edit von Madonna in die Soundcloud-Rotation von Ritalin-Suchtis mogelte. Mittlerweile hat sich daraus ein Business entwickelt. Geballert werden heute Kicks, die den Hardcore-Kids das Ecstasy aus den Augen pressen. 140 Umdrehungen in der Minute. Erst mal eine drehen! 150 Zacken? Easy going! Bei 160 nimmt man die Hand vom Lenker und lässt das Teil brettern, because gib’ den Affen noch mehr fucking sugar. Wer doch mal zu tief ins K-Hole rutscht, „Plastic Glass Wall”, duftet an Popeye’s Finest, lässt sich von den Engeln mit ihren Pads durchbügeln und vertraut morgen nur noch auf Chemie. Christoph Benkeser
Bruno Pronsato – Live At Club Der Visionäre (Logistic)
Seit langem in Berlin aktiv, hat der Amerikaner Bruno Pronsato schon 2019 eine Reihe von Live-Aufnahmen aus dem Club Contact in Tokyo, der leider diesen September seine Tore schließen muss, veröffentlicht. Im Club der Visionäre sind ebenfalls solche Aufnahmen entstanden, von denen jetzt vier Ausschnitte auf einer LP gelandet sind.
Dabei wird Pronsato, der sich bereits einer Vielzahl von Stilen und auch Kollabos mit Minimal-Don Thomas Melchior gewidmet hat, dem Ruf der Berliner Sommer-Location als Minimal-Hafen gerecht. Ganz im Sinne der Nullerjahre groovt und schwooft es hier subtil und sexy – mit gelegentlichen, unaufdringlichen männlichen 80s-Vocals.
Die Perkussion fällt erwartungsgemäß zurückhaltend aus, stattdessen sind es die anschiebenden Bassläufe und die schrägen Melodien, die den Tracks bzw. Set-Ausschnitten ihren Charakter geben. Die Stimmung entwickelt sich dabei von düster gedrückt hin zu fröhlich und schließlich trippy, sodass man den Verlauf des Sets gut nachvollziehen kann. Besonders gelungen sind die Ausschnitte, in denen sich verschiedene Tracks überlappen und man einen tatsächlichen Einblick in die Live-Perfomance bekommt. Leopold Hutter
Chimère FM – Chimère FM (Versatile)
„Chimère FM” kann ins Deutsche als „Schimären-Radio” übersetzt werden, was die Bedeutung des Albumtitels noch etwas offensichtlicher macht: Hier handelt es sich um eine Traumwelt, kreiert von Frédéric Fournier alias John Cravache und Nicolas Chaix, der unter seinem Künstlernamen I:Cube zu den bekanntesten Acts auf dem Label Versatile zählt.
Wie auch schon das von John Cravache 2016 veröffentlichte Album Cité Nomades entstand Chimère FM in nächtelangen Sessions der beiden, in denen sie sich in die Welt der Indie- und Piraten-Radiostationen der 60er und 70er fantasierten, inklusive musikalischer Verweise darauf in den Arrangements und der Soundauswahl der nun aus der Masse des Materials generierten vorliegenden Tracks. Erinnerungen an die frühen Pink Floyd der A Saucerful Of Secrets– und More-Phase poppen auf, vor allem genährt durch den Orgelsound, den das Duo in den ersten Tracks des Albums mehrfach einsetzt.
Überhaupt wähnt man sich während dieser Songs eher in einem Programmkino beim Sehen eines 60er-Jahre-Underground-Films als beim Hören einer Musikproduktion aus der Gegenwart, und all das schlägt wiederum den Bogen zu dem Album On Danse Comme Des Fous von Versatile-Boss Gilbert Cohen alias Gilb’R, das letzten Sommer erschien und durchgängig mit genau diese Bezugspunkten korrespondierte.
Mit dem sechsten Track beginnen allerdings im Gegensatz zum Werk des Labelchefs stilistisch eindeutiger im elektronischen Clubkontext verortete Stücke mit Einflüssen aus Electro, Downbeat, Ambient und Synthie-Pop. Aber die psychedelisch-freakige Grundstimmung durchweht auch diese zweite Hälfte der imaginierten Radioshow, besonders liebevoll umgesetzt in „Vol Du Heron Cendre” mit Theremin-(oder danach klingendem Synthesizer-)Solo und dem coolen Midtempo-Krautrocker „Live At Astana”. Es dürfte durchaus im Sinne der Macher und der Entstehungsgeschichte des Albums sein, Chimère FM als perfekten Soundtrack für durchgammelte Nachmittage auf Balkonien, Rumlungern am Baggersee oder Nächte im Verbund mit lustigen Zigaretten zu betrachten. Mathias Schaffhäuser
DJ Travella – Mr Mixondo (Nyege Nyege)
„Das ist doch keine Musik” und „Kannst du den Krach ausmachen, ich werd’ wahnsinnig” – das waren die elterlichen Standardsätze des Generationenkonflikts 1988, als Techno, UK-Rave, Gabber oder Acid-House aus den postindustriellen Kinderzimmern drosch. Im letzten Jahrzehnt verzweifelte die nächste Techno-Generation fast ein wenig, weil die Musik des Revival-Digitalklötzchenschieber-Edit-Kinderproduzent*innen-Nachwuchs eben solche Sätze nicht verursachen konnte. Die Alten erleben jede Wiederentdeckung der elektronischen Musikgeschichte zum fünften Mal, und deren Kinder fügen sich weitgehend kritiklos den Verwertungslogiken ihres digitalen Zeitalters.
Der Singeli- und Bongo-Flava-Mainstream und das Label Nyege Nyege aus Tansania wirken in diesem Zusammenhang erfrischend anders. Das neue Album Mr Mixondo des 19-jährigen DJ Travella klingt nicht nur, als wollte er damit seine Eltern erschrecken, sondern seine Ableton-DAW mitsamt des Rechners mit kurzen Highspeed-Loops direkt an der Wand zerhauen. Dafür orientiert er sich an panafrikanischen Zoukous-, Rumba- und Highlife-Gittarrenharmonien, die im östlichen Afrika auch unter dem Begriff Lingala bekannt sind. Derart hochgepitcht kratzen die einst unfassbar geilen Loop-Grooves aber nur als nervige Digital-Kompression-Youtube-Artefakte und als Erinnerung an den Synapsen. Das ist wirklich nervig und derart polyrhythmisch-groovebefreit, unglaublich!
Gerade deshalb ist dieser Wahnsinn origineller als das Gros der globalisierten elektronischen Musikproduktionen. Die Leichtigkeit und das Vorrecht der Jugend ist es, ohne großes Vorwissen den alten Mist zu klauen, im besten Fall zu adaptieren, umzukodieren, um sich damit zu behaupten. Entspannt egozentrisch gestaltet sich mithilfe neuer Technologie das Leben in Abgrenzung zur vermeintlich alten Norm. Das ist völlig zu Recht keine Musik, vielmehr ist der Sound Mittel zum Zweck – der Emanzipation. Und der weiße Vampir auf dem Cover liefert die politische Dimension. Erzählungen auf Swahili berichten von Kolonialärzten, die ihren Patient*innen das Blut stahlen. Mirko Hecktor
Dopplereffekt – Neurotelepathy (Leisure System)
Mit Dopplereffekt ist es ein bisschen wie mit Drexciya, man denkt bei diesen Projekten gern in der Vergangenheit, an die heroische Phase des Techno in den Neunzigern. Dabei sind das Duo Gerald Donald alias Rudolf Klorzeiger und Michaela To-Nhan Bertel alias To-Nhan als Dopplereffekt bis heute aktiv, selbst wenn sie sich mit ihren Veröffentlichungen Zeit lassen.
Auf Neurotelepathy bleiben sie ihrem Konzept des Futurismus treu, diesmal sind es Forschungen rund um das Gehirn, die den einzelnen Nummern ihre Namen geben. Ob sich das hörbar in Musik übersetzt, sei dahingestellt, ist aber auch nicht so wichtig. Dafür klingen Titel wie „Neuroplasticity”, „Cerebral to Cerebral Interface” oder „Transcranial Magnetic Stimulation” einfach passend-cool im Sinn von distanziert-technisch. Und das findet sich in der Musik allemal wieder. Dopplereffekt hatten im Vergleich zu Drexciya immer den kantigeren Maschinen-Funk, und den gibt es auch hier, in gar nicht mal so sehr routinierter als vielmehr liebevoller Perfektion. Beatlos agieren sie lediglich in einer Handvoll Tracks, beim ersten, „Epigenetic Modulation”, hat die Komponistin Christina Vantzou für zusätzliche modulare Verschaltungen gesorgt. Musik, mit der sich die synaptische Plastizität vorzüglich anregen lässt. Tim Caspar Boehme