aya auf dem Lunchmeat 2021 (Foto: Dita Havrankova)
2010 debütierte das Lunchmeat in Prag. Lange bevor der Begriff Conceptronica zum Mode- und Schmähwort für Veranstaltungen wurde, die neben bloßem Floor-Exzess den Anspruch erheben, ihrem Publikum eine künstlerisch diverse Erfahrung zu bieten, tat das Lunchmeat genau das.
Etablierte Größen sowie Newcomer tauchen in ungewohnten Kontexten auf und bewegen sich abseits beschrittener Pfade. Die tschechische Hauptstadt, die in den letzten Jahrzehnten nicht unbedingt als Epizentrum elektronischer Musik von sich Reden machte, bewies in der letzten Ausgabe Anfang Oktober, dass sie über eine interessierte und vor allem erlebnishungrige Szene verfügt, die den Balanceakt zwischen ausdauernder Aufmerksamkeit und ebenso ausdauerndem Rave spielerisch meistert.
Fast eine komplette Woche dauert das Lunchmeat. Das wirkt erstmal einschüchternd, was Leib und Seele betrifft, von Anfang bis Ende durchgeballert wird in der tschechischen Hauptstadt aber keineswegs. Montag und Dienstag, unter anderem mit einer raster-Nacht und einem Live-Set von Prison Religion, müssen wir uns leider schenken, der Spaß beginnt in diesem Nachbericht erst am Mittwoch, dessen Abend der Tscheche Jan Kulka mit einem Heimspiel einläuten sollte.
Wie die etwas windige Wundermaschine des Filmemachers funktioniert, lässt sich nur schwer dechiffrieren. Feststeht: Kulka projiziert mit seinem Archeoskop mehrere Filme gleichzeitig auf die Leinwand, was in Tateinheit mit dubbigem, schnörkellosem Techno die Psyche durchaus zu belasten weiß. Besonders der zweite Teil der Performance, der eigentlich nur aus sich mal überlappenden, mal auseinanderstiebenden Kreisprojektionen besteht, entfaltet ein überaus hohes Fotosensitivitäsniveau. Fazit: Grandios, besonders aufgrund der Simplizität, aber Wegschauen schadet hin und wieder nicht.
Den zweiten Teil des Abends bestreitet der Franzose Collectif Coin, der seine Arbeit MA präsentiert. Das klingt phasenweise ganz gut, das Hauptaugenmerk liegt aber auf dem V in AV: In der Mitte der Bühne, vor der Leinwand, auf die vorhin noch Jan Kulka seine minimalistischen Filme schoss, befindet sich nun ein maximalistischer Ring aus Scheinwerfern. Diese stimuliert der Künstler, der etwas abseits der Bühne in seinem Maschinenpark fuhrwerkt, situativ. Das Resultat sieht beeindruckend aus, besonders bei Zunahme der Rotationsgeschwindigkeit, und erinnert etwas an die Wer-Wird-Millionär?-Lichtshow. Da fällt es nicht so sehr ins Gewicht, dass die Klangkulisse melodisch hin und wieder arg ins Quietschige abdriftet.
Der Mittwochabend ist der letzte, der mit dem Archa Theatre in einer Off-Location stattfindet. Von Donnerstag bis Sonntagmorgen residiert das Lunchmeat konsequent in der Nationalgalerie. Das mutet zunächst leicht prätentiös an, entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als optimale Wahl. Im Künstlerviertel Holešovice gelegen und mit einem ausladenden Untergeschoss versehen, bietet sich hier die perfekte schallisolierte Gelegenheit für Performances, Screenings und exzessive DJ-Sets.
Mit einem ebensolchen beschließt Kode9 den Hyperdub-Abend am Donnerstag, der relativ schnell zur Nacht wird und damit schon vorm Wochenende auf die Knochen geht. Steve Goodman spielt Burial zum Anfang, Burial zum Ende und dazwischen perfekt gemixten Footwork mit Phil-Collins-Samples von RP Boo oder DJ Mannys und DJ Phils „Havin’ Fun”. Das funktioniert einwandfrei und markiert die ersten Rave-Stunden des Festivals, die nicht vom zwischen Tanz und Gaffen angesiedelten Partizipationscharakter der Live-Sets dominiert werden.
Vor dem DJ-Auftritt Kode9s, der irgendwann zwischen 2 Uhr und 3 Uhr morgens sein umjubeltes Ende findet, spielen aya, Loraine James und Lee Gamble im Stakkato-Modus und hetzen das Publikum zwischen den Bühnen, eine davon funktional, die andere eine Art ausladendes Amphitheater mit rustikalen Steinstufen, hin und her. aya aus Manchester veröffentlichte früher als LOFT gelungene, ins Poppige driftende Bass Music, am 22. Oktober erschien ihr grandioses Debütalbum im hole, das mit seiner Hyperdubbigkeit auf keinem anderen Label besser aufgehoben wäre. Obwohl nicht alles klappt, sorgt sie mit einer ungemein selbstsicheren Bühnenpräsenz und kunstvollen Visuals von Sweatmother für ein frühes Lunchmeat-Highlight. Versiert vorgetragene Raps, zerhackte wie druckvoll produzierte Soundspuren und ein humoristischer Zugang, der schnell aufs geifernde Publikum überschwappt, überzeugen vollends.
Selbiges Verdikt lässt sich bedenkenlos über Loraine James und Lee Gamble aussprechen. James spielt ein energetisches Live-Set, das zwischen einer ausgedehnten Intelligent-Rave-Version von „Glitch Bitch” und den Trap-Rolls von „Running Like That” spagatiert, Gamble dekonstruiert und poppt da deutlich mehr, hat die einnehmende Nummer „Glue” glücklicherweise noch immer im Gepäck.
Der Abend beginnt übrigens mit einem Screening von Jóhann Jóhannssons Film Last and First Men, der mit einem Score der isländischen Legende selbst und von Yair Elazar Glotman, beeindruckendem Sounddesign – wenn möglich unbedingt auf einer Festival-tauglichen PA hören –, Einstellungen brutalistischer Spomenik-Denkmäler aus dem ehemaligen Jugoslawien und einem präzise erzählten, hin und wieder etwas bemüht wirkenden Dystopie-Narrativ aufwartet. Zehn Minuten weniger hätten’s vielleicht sein dürfen, dennoch ein hochinteressanter Film, der als Einstimmung auf den Abend hervorragend passt.
Pop am Abend, Breakcore in der Nacht
Zurück in der Nationalgalerie, das wirkliche Wochenende, nicht das verlängerte, steht schließlich an, und schon zur Türöffnung um 18 Uhr 30 finden sich die ersten Gäste, dem Vernehmen nach ein beträchtlicher Teil davon Prager*innen bzw. Tschech*innen, vor dem Kunst-Nukleus ein, genießen Erfrischungen und rauchen. Zweiteres geht übrigens nur vor der Tür, was das ganze Festival über zu einer konstanten Menschentraube vor der Glasfassade führt und die Lungen vor allem während der spätabendlichen DJ-Sets entlastet. Nach Symposien, beispielsweise zum wenig sparsam diskutierten Feld des Musikjournalismus, startet Ursula Sereghy den musikalischen Abend.
Die Pragerin bestreitet ihr Set alleine zwischen Synths, haucht eher, als dass sie singt und beschwört – wie auch schon Last and First Men am Vortag – die Ruhe vor dem Sturm. Der wütet am Freitag aber nicht mit grollenden Hyperdub-Gewitterwolken, sondern fällt geruhsamer aus. Oscar Mulero etwa, sonst für treibenden Tool-Techno bekannt, präsentiert gemeinsam mit Javier Bejarano sein Projekt Monochrome, das einen Kontrast zum sonstigen Output des Spaniers aufmacht. Mulero und Bejarano spielen IDM, der von einer profunden körperlichen Erfahrung maximal losgelöst ist.
Auch Helena Hauff, deren Slot wohl der am sehnlichsten erwartete am Freitag ist, brettert nicht durch die Manege, wie sie es besonders in den letzten Jahren praktizierte. Tatsächlich knüpft ihr Vinyl-Set eher an ihren früheren Sound an, vielleicht am ehesten an ihre Discreet-Desires-Phase: Viel EBM, mehr Melodiebögen als üblich und eine Prise Industrial verdichten sich im schummrigen, rötlichen Licht des Amphitheaters zu einer undurchsichtigen Angelegenheit zwischen Listening und Leibesübung.
Bis um 7 Uhr läuft das Programm am Freitag und Samstag, das Lunchmeat schlägt an den beiden Tagen naturgemäß deutlicher in Richtung Rave aus als unter der Woche. Und das Publikum weiß diesen Weg engagiert mitzugehen, was das Festival von der Conceptronica-Konkurrenz wohltuend abhebt. Das gilt auch für den letzten Tag, den Never Sol mit einer exzeptionellen emotionalen Performance eröffnet, in deren Rahmen die Tschechin besonders gesanglich zu überzeugen weiß.
Das gelingt auch Lyra Pramuk, die um 22 Uhr als letzter Act des Festivals im Pop-Spektrum operiert, bevor sich der clubmusikalische Schlund auftut. Ein gelungener Timetable, der Melancholie zwar Platz einräumt, sie aber nicht zum definierenden weil letzten Moment der Festivalwoche erhebt. Pramuk singt über reduzierte, luftige Ambient-Flächen, nutzt den vollen Raum der Amphitheater-Bühne, nähert sich dem Publikum affirmativ, um gegen Ende doch noch einen Breakbeat-Track auszupacken, der nicht Wenige bereits an den nächsten Act denken lässt.
Lyra Valenza haben mit Lyra Pramuk aber nur den Vornamen gemein, stilistisch klafft zwischen beiden Acts eine große Lücke. Das dänische Duo hat sich so ziemlich allen musikalischen Spielarten verschrieben, die moderates Four-To-The-Floor-Gewackel pulverisieren. Drum’n’Bass- und Jungle-affin klingt ihr kraftstrotzendes Live-Set, zu dem sie aufgrund der allgemeinen Begeisterung nach dem regulären Ende noch ein paar Tracks hinzufügen. In Verbindung mit den grellen, Anime-lastigen, hyperpoppigen Visuals von Signe Dige funktioniert das schlicht fantastisch. Dieser Meinung dürfte so ziemlich jede*r im Saal sein, wie diverse Gunfinger und der wohl größte Applaus auf dem Lunchmeat untermauern.
Anschließend tun sich Aquarian und Jakub Pešek, der Festival-Chef, zusammen, um die nächste AV-Performance ins zunehmend matschiger werdende Sensorium der Besucher*innen zu brennen. Diese Kombination ist über das gesamte Festival hinweg keine Seltenheit: Egal ob aya, Oscar Mulero oder das Deconstructed-Pop-Duo Soft As Snow: Das Musikalische koexistiert auf dem Lunchmeat meist mit dem Visuellen, diese Einheit scheint den Macher*innen heilig. Und sie ergibt in den allermeisten Fällen Sinn, wie auch bei Aquarian und Pešek, dessen tiefrote Laser sich mit den zunehmend aggressiveren Breaks des Kanadiers hervorragend verstehen.
Zum Abschluss des Festivals standen im aufgeräumteren, clubbiger wirkenden der beiden Räume noch zwei DJ-Sets an. Zuerst das von Hessle-Audio-Mitbegründer Pearson Sound, der herausfordernd und dennoch zugänglich spielte; dann das von Opium Hum, der bei der Übergabe an seine Zeit als Boiler-Room-Host anknüpft und es sich nicht nehmen lässt, die Menge durchs Mikrofon auf das Kommende vorzubereiten: Eine grelle Irrfahrt durch höchste BPM-Bereiche, euphorisierender Breakcore für das noch immer energiehungrige Publikum.
Am Sonntag, nach sechs Festivaltagen, -abenden und -nächten, endet das Lunchmeat schließlich. Seit 2010 bringt es Künstler*innen unterschiedlichster Provenienz zusammen und wirkt inzwischen so sehr aus einem Guss, dass es mit Fug und Recht als eines der spannendsten Festivals Europas bezeichnet werden darf: Der Fokus auf regionales Talent, das engmaschig gestrickte Programm, das die Besucher*innen manchmal beinahe zu rastlos zwischen den Bühnen hin- und herbefördert, und das eingespielt wirkende Publikum sind Erscheinungen, die man auf vergleichbaren Festivals so in der Regel nicht findet.