Mark Broom – Fünfzig (Rekids)
Seit Mark Broom vor über 20 Jahren im Umfeld des Plattenladens FatCat auf Baby Ford sowie Ed Handley und Andy Turner (The Black Dog) traf, mit denen erste Tunes entstanden, hat der 1971 in London geborene Producer und DJ die Entwicklung von Techno und House mit mehr als 170 EPs (zuzüglich der Releases seiner zahlreichen Kollabo-Projekte) für Labels wie M-Plant, Warp Records, Soma, 20:20 Vision, Klang Elektronik, Cocoon, Bpitch Control, seine eigenen Imprints Mark Pure Plastic und Beard Man und zuletzt immer wieder auch Matt Edwards’ Rekids nicht unwesentlich mitgeprägt. Im Juni legte Broom mit der Fast-Fünfzig-EP für das Label einen Teaser auf das Jubiläumsalbum vor, das nun ebendort erscheint. Die eigentliche Überraschung: Fünfzig ist nach Angie Is A Shoplifter (1996) und Acid House (2010) erst das dritte Album von Mark Broom unter eigenem Namen. Trotz mancher Techno-Momente ergeben die zwölf Tracks in erster Linie eine House-Platte. „Mover” setzt als Opener den Ton: Hier führen alle Wege auf den Dancefloor. Vocals von Brooms Tochter Ella Fleur verleihen „We Gonna Dance” einen Disco-Touch. Die Dramaturgie folgt der Logik der Doppel-LP: Mit der ravigen Euphorie von „Let’s Roll” und dem bestechenden Detroit-Creeper „Machine” markieren die beiden stärksten der energetischen Tracks die Schnittstellen nach dem Umdrehen, entsprechend besetzten Dub-Tunes wie „Stark” die Stellen davor. Wie sehr Brooms Soundästhetik vom Minimal der späten Neunziger geprägt ist, wird in „EFX” am deutlichsten. Im letzten Viertel – also auf der D-Seite – zieht Broom das Tempo nochmals ein wenig an, erhöht auch die Sample-Dichte: Mit „Living For Ya” liegt endgültig Chicago in der Luft. Harry Schmidt
Nene H – Ali (Incienso)
2020 untermauerten Call Supers Every Mouth Teeth Missing und DJ Pythons Mas Amable einmal mehr den Ausnahmestatus des längst etablierten New Yorker Labels Incienso. Das neueste Projekt Ali von Beste Aydin alias Nene H schlägt da musikalisch zwar in eine gänzlich andere Kerbe, die hypnotische Kraft bleibt allerdings die Gleiche. Das Album, entstanden als Reaktion auf den Tod ihres Vaters, verbindet die Folklore ihrer türkischen Herkunft mit verwobenen Electronica-Elementen. Das dumpfe Gefühl von Verlorensein und spiritueller Sehnsucht zieht sich durch alle Sound-Texturen und findet seinen Höhepunkt im zitternden Ambient-Schluss „How We Say Goodbye”. Zwischendurch begleitet von mal deutschen, mal türkischen Vocals, wabern die Klang-Szenerien dabei zwischen An- und Entspannung hin und her. Wohltuende Drum-Eskapaden wie im „Gebet” lassen das Ganze dazu nicht all zu schwermütig werden und geben den Produktionen einen ekstatischen Drive. Die ein oder andere beschwörerische Flötenmelodie, die über einen geraden Rhythmus tänzelt, erinnert dabei nicht selten an eine gewisse Gothic-Ästhetik. Jedenfalls ist die hier ausgelotete Tiefe niemals pathetisch, sondern immer gehaltvoll und an einigen Stellen auch für Außenstehende einfach wahnsinnig berührend. Lucas Hösel
Nice Girl – Ipsum (Public Possession)
Nach zwei Singles und Compilation-Beiträgen zur Chill-Pill-Reihe erscheint auch das Debütalbum von Nice^ Girl auf Public Possession. Ruby Kerkhofs, in Neuseeland geborene und in Melbourne lebende DJ und Producerin, widmet sich mit den zwölf Tracks von Ipsum der Aufarbeitung der Techno-Ästhetik der Neunziger: So wirken im Titelstück Reminiszenzen an die Space Night mit einem Piepsvocal zusammen, andere Tracks spielen mit Trance- oder Goa-Elementen, „HTP” ironisiert Kirmestechno, der Opener „Erotic Aroma” und der Ausklang „Yardmaster Pt. II” bringen eine Acid-Note ein. Dennoch ist Ipsum alles andere als retro: Nicht als glorifizierende Nostalgie, sondern als Heimsuchung kehren die Attribute des ersten Techno-Jahrzehnts zurück. Gleichzeitig mit dem dunkel grundierten, beschwörenden Charakter und den Schmuddel-Arrangements fällt ein Hang zu verhalten sardonischem Humor auf, wenn Kerkhofs stehende Wendungen, Phrasen, Motive dekonstruiert und die Acid-Line abwürgt. Das virtuose Spiel mit auf kognitiven Dissonanzen beruhenden Reibungen, die Komplexität, mit der Künstlichkeit und DIY, Kollektiv und Individualität, Pop und Dissidenz in Kerkhofs’ Musik aufeinander bezogen sind, erinnert an Artschool-Strategien. Insofern fühlt sich Ipsum auch wie eine Kunst-Performance in Form einer Instant-Tribal-Séance an. Unterkühlte Vocals verleihen „Dance” und „Way With Fantasy” zudem ein leichtes Italo-Wave-Flair. In der artifiziellen Dunkelheit strahlender Mittelpunkt: der (alp-)traumhafte Ambient-Track „Awry”. Der Longplayer-Einstand von Nice Girl ist gleich mal eines der aufregendsten Autorentechno-Alben der Gegenwart geworden. Harry Schmidt
Primary Perception – Era of Technology (Slow Life)
Zeitschlaufenmusik. Die Brüder Mahy und Nichel Cruz versetzen einen mit ihrem Projekt Primary Perception in die frühen neunziger Jahre zurück, als Breakbeats in der Clubmusik allgegenwärtig waren und das Tempo oft in gemütlicher Gangart gewählt wurde. Gern mischen sich bei ihnen auch Samples von Redebeiträgen (Vorträgen?) in die Tracks. Sehr entspannt, selbst da, wo sie ihre Breaks auf Drum’n’Bass-Tempo beschleunigen. Downtempo feiert bei ihnen fröhliche Urständ, und die Sache klingt über die gesamte Strecke einfach gut aufeinander abgestimmt, wenn auch nicht übermäßig innovativ. Benannt haben sie sich übrigens nach einem Begriff, der auf den ehemaligen CIA-Lügendetektor-Spezialisten Cleve Backster zurückgeht. Dieser begann sich irgendwann für die Wahrnehmung und Kommunikation von Pflanzen zu interessieren und nannte die von ihm beobachteten „telepathischen” Fähigkeiten der Pflanzen primary perception. Esoterisches Fahrwasser, in dem sich die zwei Wahlberliner bewegen. Doch auch das war in der Clubmusik der Neunziger – und nicht erst seitdem – nicht unbeliebt. Psychick Warriors ov Gaia, anyone? Tim Caspar Boehme
Slacker – What Would I Do With Saturn (Lobster Theremin)
Was würde ein Außenstehender über unseren Planeten denken, was denkt sich der Mond, wenn er auf die Erde herabschaut, zu diesem genauen Punkt in der Zeit, da sich das Leben auf der Erde Stück für Stück in eine dystopische Farce zu verwandeln scheint? Das waren, laut Produktions-Note, Slackers Ideen für sein Debütalbum, die ihm während des ersten Corona-Lockdowns in den Kopf kamen. Den er außerhalb großer Städte in dörflicher Natur verbrachte – was zwar auf ein Art entspannender als die urbane Umgebung war, andererseits aber auch die Einsamkeit multiplizierte. Herausgekommen ist dabei ein Album, das allerlei tanzmusikalische Genres mischt, düstere Phasen durchstreift, aber dennoch von einer Art melancholischem Optimismus getrieben scheint. Ein organisch-elektronischer Sound, dem man seine ländliche Entstehungsumgebung auf berührende Art anhört.
Musikalisch sozialisiert wurde Slacker im britischen Hardcore Continuum, irgendwo zwischen überdrehtem Jungle und dem weicheren, introvertierteren Breakbeat-Sound der ausklingenden Neunziger, was auf den insgesamt 13 Stücken immer wieder durchschlägt. Dazu gesellen sich Einflüsse von Electro, Techno, Bass und Electronica, perfekt integriert in den abwechslungsreichen Lauf des Albums. Es klingt mittlerweile wie ein abgegriffenes Klischee, aber diese Musik funktioniert auf inneren wie äußeren Dancefloors. Und wie schon zuvor erwähnt, Optimismus ist da: Auf bald wieder geöffnete Tanzböden wie auch auf den Fortbestand er Menschheit (um hier mal ein ganz großes Fass aufzumachen, Prost) – das sagt uns jedenfalls der imaginäre Erzähler dieses brillanten Albums. Tim Lorenz
soFa, Houschyar, Okay Temiz – Şelale (Second Circle/Music From Memory)
Irgendwo an einem unbestimmten und gewissermaßen geheimnisvollen Ort zwischen Belgien, der Türkei und Deutschland verortet sich Şelale. Das Album ist eine Kollaboration zwischen dem belgischen Produzenten soFa, dem deutschen Musiker Houschyar und dem türkischen Perkussionisten und Drummer Okay Temiz. Dieser lieferte für die LP free-jazzige Einlagen mit selbstgebauten Instrumenten zu den dubbigen Rhythmen von soFa und Houschyar. Die Zusammenarbeit des Trios verhält sich auf Şelale wie eine chemische Reaktion, die mit psychedelischen Dämpfen betört und mit ambitionierten Soundclustern überrascht.Şelale hat etwas mystisch Magisches an sich, das sich auch aus der oft nicht eindeutigen Zuordbarkeit der Vielzahl an unkonventionellen Soundelementen speist. Von der düsteren Klangwelt geht ein hypnotischer Sog aus, in dem wabernde, knirschende oder knisternde Geräusche wie aus den Tiefen des Unterholzes einer verwunschenen Welt zu hören sind. Die einzelnen Tracks erzeugen fabelhafte Melodie-Gestalten, die sich in ständiger Bewegung für neue Elemente öffnen und schließen, jedenfalls nie im Stillstand verharren. Auf die dunkel-neblig anmutenden Pads legen sich rumorende Synths und flüchtig aufblitzende Perkussionen, die den psychedelisch-fabelhaften Grundton weiter unterstreichen. Zwar nur fast tanzbar, aber auch nicht fürs easy listening gemacht, kann man doch nicht anders, als sich von Şelale in dessen spektakuläre Klangwelt entführen zu lassen. Louisa Neitz
Synergetic Voice Orchestra – MIOS (Métron Records)
Seit dem Jahr 2018 veröffentlicht das Berliner Label Métron Records Wieder- und Neuveröffentlichungen internationaler Ambient-Musiker*innen mit einem deutlichen Fokus auf asiatische Produzent*innen. Das Album MIOS ist bereits die zweite Reissue von Yumiko Morioka auf Métron. Unter ihrem Alias Synergetic Voice Orchestra vereint Morioka mit zehn weiteren Musiker*innen – wie auf dem Originalalbum aus dem Jahr 1990 als Synergetic Voice Orchestra auf dem japanischen Label Voice Records – neun Tracks zwischen New-Age-West-Coast-Hippietum („Luna Park”, „Hari Hari”), Musique d’ameublement im Richard-Clayderman-Modus („Lullaby For Tristan”), indifferenter Disney Corp.-Weltmusik („Zebra”), Religions-Esoterik und Kinderschlaflied („Jesus and Muhammad”), Muzak und Fahrstuhl („A Tale”). Zwei Tracks des damaligen Albums („Looks Out Window”, „Rainy Forest”) wurden durch neue („Tangram”, „Live Goes On”) ersetzt. Die Komponistin, die am San Francisco Conservatory of Music vom legendären E-Musik-Komponisten John Adams ausgebildet wurde und Workshops bei einigen anderen Minimal-Musik-Größen besuchte, behauptet von sich, Musik unterschiedlicher Stile leicht nachahmen zu können. Zu ihren Vorbildern zählt sie Erik Satie und auch Brian Eno in seiner Environmental-Music-Phase. So klingt das Album über einige Strecken auch. Leider fehlt es an der Vision und der Experimentierfreudigkeit der Vorbilder. Die Komposition sieht Morioka eher als Dienstleistung. Die unbedingte Selbstverwirklichung steht für sie – mittlerweile ist sie in Japan Confiseurin geworden, nicht im Vordergrund. Das Cover zeigt grafisch eine Teekanne, einen Teich, Delphine, Sonnenunter- und -aufgang und Dampfschwaden. Zur Teezeremonie – frisch verliebt – auf dem hölzernen Engawa, einer japanischen Veranda mit Blick in den beruhigenden Steingarten, wirkt das Album sicherlich wunderbar entspannend. Mirko Hecktor