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Exit Festival: Eine Plastik-artige Synthesizer-Wurst wie Ed Banger mit Trance

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Besucher*innen des Exit Festivals 2021 (Alle Fotos: Alexis Waltz)

In Zeiten von Corona mit 40.000 Menschen feiern? Wie soll das umsetzbar sein? Und mehr noch: Wie fühlt sich das an? Das Exit Festival im serbischen Novi Sad hat ein Hygienekonzept entwickelt, das verspricht, eine solche Besucher*innen-Zahl in den Griff zu kriegen. Und GROOVE-Chefredakteur Alexis Waltz berichtet, wie es ist, nach eineinhalb Jahren Social Distancing zwischen Tausenden von Menschen zu tanzen.


„Nikola Tesla is a Serbian man”, sagt der Fahrer, der mich vom nach dem Technik-Pionier benannten Flughafen bei Belgrad nach Novi Sad bringen soll. Wir stehen auf einem staubigen Parkplatz, er nimmt das Taxi-Schild aus dem Fußraum des Wagens, damit ich mich hinsetzen kann. Das Abendlicht lässt den Flughafen, irgendwo zwischen Ruine und Baustelle, funkeln. Ohne Tesla keine 220 Volt, schiebt der Mann nach, als wir auf die Autobahn einbiegen und durch ein breites Tal mit Mais- und Sonnenblumenfeldern rollen.

„Vor fünf Jahren waren beim Exit Festival 800.000 Leute. Heute sind es nur noch 40.000 am Tag, insgesamt 160.000”, weiß er. Ob er denkt, dass man unter Corona-Bedingungen mit so vielen Menschen sicher feiern kann? „Who knows”, antwortet er und zuckt mit den Schultern.

Einige Stunden später ergießt sich ein Strom von Menschen aus der von großen Bürogebäuden gesäumten Prachtsstraße Novi Sads in Richtung Festivalgelände. Restaurants und Bars verbreiten ein mediterranes Flair, Polizist*innen beobachten das Geschehen. Das eingeschaltete, tonlose Blaulicht ihrer Fahrzeuge erzeugt eine dramatische Stimmung. Die Menschen strömen über die Donaubrücke, die die Altstadt begrenzt.

Das Festival findet nämlich in einer gigantischen Festung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts statt, mit der sich Österreich fast 100 Jahre lang gegen die Türkei verteidigte. Dieses Ensemble aus Türmen und hohen Mauern thront über der Stadt Novi Sad auf einem Hügel direkt am Ufer des majestätischen Flusses. In Coronazeiten wirken die Menschenmassen surreal, die über den schmalen Bürgersteig der Brücke eilen. Noch extremer ist es an den Viehgittern des Einlasses, wo sich die Menschen drängeln. Masken sieht man nur ganz vereinzelt, die Stimmung ist euphorisch. Sämtliche Besucher*innen sind geimpft, PCR-getestet oder genesen, und auch ich werde nach meinem Test gefragt, den ich schon bei der Ausreise aus Deutschland, beim Zwischenstopp in Warschau, bei der Einreise und im Hotel gezeigt habe.

Nachdem dieses Nadelöhr überwunden ist, verlieren sich die Menschen auf dem großen Gelände und die Aufgedrehtheit weicht der Neugierde. Durch die markante Architektur entstehen immer neue Räume, die man durch Tunnel und Treppen erreicht, auf die die 14 Floors verteilt sind. Im Bass Pit tanzt eine kleine Gruppe zum Drum’n’Bass von Indukt aus Novi Sad. 

Der so eigenwillige wie eigenständige Neurofunk-Verfechter taucht das Genre in eine kalte, schroffe Industrial-Ästhetik. Aus dem entrückten, flirrenden Grooves brechen immer wieder Breakcore-Elemente hervor. Das interessiert gerade mal 40 der 14.000 Besucher*innen. Es gehört zum Erfolgsrezept des Exit, zwar auf Zugpferde wie David Guetta oder Paul Kalkbrenner zu setzen, aber gleichzeitig das jährliche Gathering der lokalen Musikszenen Serbiens zu ermöglichen.

Wer weiter dem Labyrinth aus Treppchen und Durchgängen folgt, hört die melodiösen Gitarrenklänge von E-Play. Der treibende Poprock-Sound der Band aus Belgrad wird von dem abgehackten Sprechgesang von Sängerin Maja Cvetković zerrissen, die beim kulturellen Aufbruch des Landes in den späten Neunzigern eine zentrale Figur war. Die Band trat schon auf dem zweiten Exit 2001 auf. Eine Ecke weiter, auf dem Silent Floor, ist es still.

Die Crowd hört die Musik über Kopfhörer und sieht dabei aus wie ein Schwarm Glühwürmchen. Dahinter öffnet sich das Festivalgelände für die Mainstage, auf der Dance-Pop-Wunderkind Robin Schulz auftreten wird. Am Rücken der Hauptbühne befindet sich eine Bar, die DJs thronen darüber auf einem Container. Hier läuft zur Freude der Anwesenden eine Autotune-Version von „Personal Jesus” von Depeche Mode.

Das Gelände endet mit der spektakulären Dance-Stage am Ende der Verteidigungsanlage, zu der man über eine 30 Meter hohe Treppe herabsteigen muss. Sie befindet sich in einer Art Schlucht, die von hohen Mauern umschlossen ist. Auf der einen Seite bildet die Bühne eine futuristische Architektur, auf der anderen Seite begrenzt das jahrhundertealte Gemäuer das natürliche Auditorium. Einziger Wermutstropfen ist an diesem dramatischen Ort die Musik. 

Dem boucenden Tech-House von Meduza fehlt es an Struktur und an Lebendigkeit. Der DJ und Producer spielt Laurent Garniers „The Man With The Red Face” im Remix von Mark Knight und seinen eigenen Breakout-Hit „Lose Control”. Robin Schulz hat dann wenig später auf der Mainstage die Grooves besser im Griff, die tight und überraschend Neunziger-lastig klingen. Hier ist der allzu Festival-taugliche Mix der Störfaktor. Am Ende jeden Stücks lässt Schulz den Groove verklingen, das Vocal der nächsten Nummer setzt ein, ein Edit von einem Song von Billy Eilish oder seine aktuelle Single „One More Time”. Die  Crowd dankt es ihm.

Das Karussell aus Strophe, Breakdown und Bass dreht sich immer weiter. Schulz sieht mit seiner Sonnenbrille dabei eigentümlich verhalten aus, als sei ihm das naive Glück, auf das seine Songs hoffen, ziemlich fremd. Sympathisch hilflos dirigiert er mit den Händen die Crowd, um die Menschenmasse zum Tanzen anzuregen. 

Amtlichen Techno-Sound liefern Francois X und Adiel auf der Dance Stage, die als Ersatz für Honey Dijon angereist sind. Kurzatmige Tracks, die von kantigen Grooves getragen werden und ihre Lebendigkeit aus dynamischen Basslines ziehen. Über der Festung kreuzen sich Laserschwerter im Sternenhimmel. Auf der Main Staige thront jetzt Paul van Dyk. Van Dyk schachtelt die Trance-Flächen, sein Markenzeichen, ineinander. Er will große Gefühle aufrufen und wirkt dabei doch kalt und leer. Die Party geht noch weiter, aber viele zieht es in der Morgendämmerung in die Stadt zurück. Manche sitzen am Ufer der Donau und beobachten, wie das gleißende Sonnenlicht am Horizont erstrahlt.

Der nächste Tag ist schon das Finale des Festivals. David Guetta, Solomun und ein b2b-Set von VTSS und SPFDJ stehen auf der Tagesordnung. Die Nordseite des Festivalgeländes zeigt, wie enzyklopädisch die Exit-Macher das Musikgeschehen abbilden, es gibt Bühnen für Reggae, für Trance, für Rap, für lateinamerikanische Musik, für Rock, eine Freestyle-Stage, auf der instrumenteller Hip Hop läuft, der an The Roots erinnert.

Das führt zu einem lustigen Mischmasch aus Klängen, wenn von der einen Seite die emotionsgeladenen Melodien der Latin-Stage herüberwehen und von der anderen die jagenden Grooves und die entrückten Pads des Trance-Floors. Schlüssig sind diese Bühnen, weil sie sich, wie gesagt, weitgehend auf lokales Talent konzentrieren und damit das Mega-Festival erden. Den lokalen Künstler*innen gibt das Festival eine einzigartige Bühne, die sie sichtlich zu schätzen wissen; dem internationalen Publikum eine Gelegenheit, Musiker*innen-Communitys zu erleben, von denen man sonst wenig mitbekommt.

Dass stilistisch hier viel nach den 1990ern und 2000ern klingt, spiegelt vielleicht die besondere Situation Serbiens wider, das sich nach dem Stocken des EU-Beitritts Anfang der 2010er politisch neu orientiert und in China schon als Stützpunkt der Weltmacht im EU-dominierten Europa gesehen wird. Die kulturellen Konsequenzen dieser Entwicklung scheinen erstmal im Erhalt des Status Quo zu liegen.

Allerdings reichen lokale Acts nicht, um mehr als 160.000 Menschen aus Serbien, aber auch aus Polen, Kroatien, Frankreich und Deutschland nach Novi Sad zu locken. Da braucht es die größten der großen Namen. Heute Abend ist das auf der Mainstage David Guetta. Guetta ist Stammgast auf dem Festival und passt auch dazu: Das Exit steht für einen Aufbruch, der in den Anfangsjahren improvisiert und undergroundig war, sich dann der Kommerzialisierung und Professionalisierung nicht entziehen wollte.

Guettas Mercedes-Limousine rollt durch den Staub des Geländes, begleitet von einem großen Geländewagen. Die Tür öffnet sich und er bleibt groß und schlaksig einen Moment neben dem Wagen stehen – und ist dabei eine der gefühlten fünf Personen, die auf dem Festivalgelände eine Maske tragen.

Trotz seiner Bekanntheit überrascht es, was für eine Zugkraft Guetta hier hat. Vor den anderen Bühnen stehen zum Teil nur noch ein paar vereinzelte Gestalten. Der große Platz vor der Bühne platzt aus allen Nähten, sogar in den Durchgängen stehen sich die Menschen auf den Füßen. „You do not know what it means to me to be here. It’s the best place in Europe right now”, erklärt er.  

Als zweiter Song läuft „Sweet Dreams” von Eurythmics, befremdlich für ein Konzert, aber derartige Bedenken teilt hier niemand. Die Leute grölen den Song mit und freuen sich über alle Maßen. Schon in diesem Moment scheinen sie sich mehr verstanden zu fühlen als von jedem anderen Act auf dem Festival. Der Song läuft nur für ein paar Takte. Guetta reagiert auf die Stimme von Annie Lennox mit einer Plastik-artigen Synthesizer-Wurst, die an Ed Banger erinnert und an Trance, die sich wie Bauschaum aus einer Tube über den Song ergießt. Melodisch hat das nichts mit dem Stück zu tun, eher drückt sie den naiven Wunsch aus, die Aussage des Songs oder, besser noch, die Empfindungen, die beim Anhören entstehen, zu unterstreichen, zu untermauern. Vielleicht macht das Guetta so connectable.

Fast alle anderen Musiker*innen erheben sich mit Talent und Handwerk über ihre Fans, Guetta ist primus inter pares ohne Skills. Er steht mit vier CDJs vor mehr als 10.000 Menschen und spielt seine Lieblingsplatten wie ein Feten-DJ – oder ein Kind, das die Lieblingslieder an der Heimorgel nachspielt. Naiv und größenwahnsinnig zugleich regelt er für einzelne Songzeilen die Musik runter, um die Leute zum Mitsingen anzuregen.

Musikbegeisterung statt etwas eigenes zu machen als ultimativer Weg zum Erfolg. Auch die Bescheidenheit, die dazu gehört, andere ins Zentrum der eigenen Arbeit zu stellen. Sein eigenes „Sexy Bitch” folgt auf „We Are The Champions”, das nach „Seven Nation Army” läuft.

Nach Guettas Set lehrt sich der Platz schnell. Zeit für das zweite Finale. Das Gelände ist schon in weiches Morgenlicht getaucht. Solomun steht auf der Bühne der Dance Stage vor dem Schlucht-artigen Dancefloor. Er hat sein Haar zusammengebunden, sieht ernst aus und konzentriert. Er blickt ein letztes Mal auf sein Telefon, zieht eine Grimasse und legt es beiseite.

Solomun spielt „Take Control” von seinen Album mit dem effektvollen Vocal von Anne Clark. Ein langsamer, ruhiger Groove setzt ein, der die Menschenmenge in ein ruhiges Wogen versetzt. Die schrille Stimmung der Mainstage ist vergessen. Solomun erzwingt nichts. Die Musik bietet einen Ruhepol an, in dem man sich finden kann.

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